KAPITEL 14

Yalis Volk

Die Geschichte Australiens und Neuguineas

Während eines Australienurlaubs beschlossen meine Frau Marie und ich, einen Ausflug zu einem Ort zu unternehmen, an dem man gut erhaltene Felsmalereien von Aborigines besichtigen konnte. Die Fundstelle lag in der Wüste unweit der Stadt Menindee. Ich hatte zwar von der Trockenheit und sommerlichen Hitze der australischen Wüste gehört, doch weil ich selbst schon öfter längere Zeit in der trockenen Hitze der kalifornischen Wüste und der neuguineischen Savanne verbracht hatte, hielt ich mich für erfahren genug, um mit den vergleichsweise unbedeutenden Problemen fertig zu werden, denen wir in Australien als Touristen begegnen würden. Mit einem reichlichen Vorrat an Trink wasser ausgerüstet, brachen wir gegen Mittag zu dem Felsen mit den Malereien auf, der nur wenige Kilometer abseits der Straße lag. Der Weg führte von der Rangerstation durch offenes,

schattenloses Gelände bergauf, und am Himmel stand keine einzige Wolke.

Die heiße, trockene Luft, die wir atmeten, erinnerte mich an eine finnische Sauna. Als wir am Fuß des Felsens mit den Malereien ankamen, war unser Wasservorrat aufgebraucht. Wir hatten auch das Interesse an Kunst verloren, also schoben wir uns, im­mer langsam und gleichmäßig atmend, weiter bergauf. Bald erblickte ich einen Vogel, der unverkennbar zur Spezies der Schwätzer gehörte, doch er kam mir größer vor als jede bekannte Schwätzerart. In diesem Moment wurde mir bewußt, daß ich zum erstenmal in meinem Leben eine Hitzehalluzination erlebte. Marie und ich beschlossen kurzerhand, sofort umzukehren.

Wir redeten nicht mehr. Beim Gehen konzentrierten wir uns auf das Atmen, die Entfernung zum nächsten markanten Punkt und darauf, wie lange wir für die ver­bleibende Strecke wohl noch brauchen würden. Mein Mund und meine Zunge waren mittlerweile völlig aus­getrocknet, und Marie war knallrot im Gesicht. Als wir schließlich die Rangerstation mit ihrer Klimaanlage er­reichten, ließen wir uns auf zwei Stühle neben einem Wasserkühlgerät fallen, tranken den letzten 2-Liter-Be­hälter, der darin stand, leer und baten den Ranger um eine weitere Flasche. Während wir so dasaßen, körper­lich und seelisch erschöpft, ging mir durch den Kopf, daß die Aborigines, von denen die Felsmalereien stammten, ihr ganzes Leben ohne Klimaanlage da draußen in der Wüste verbracht und es irgendwie geschafft hatten, Nah­rung und Wasser zu finden.

Für weiße Australier ist Menindee ein berühmter Ort, weil dort zwei Weiße ihr Basislager aufgeschlagen hatten, denen vor über einem Jahrhundert die trockene Hitze der australischen Wüste zum Verhängnis werden sollte: der irische Polizeioffizier Robert Burke und der englische Astronom William Wills, die als erste Europäer den Versuch wagten, Australien von Süden nach Norden zu durchqueren. Burke und Wills waren mit sechs Kame­len, beladen mit Proviant für drei Monate, aufgebrochen, doch in der Wüste nördlich von Menindee gingen ihnen die Vorräte aus. Dreimal wurden sie von einer Gruppe wohlgenährter Aborigines gerettet, die sie mit Fisch und fetten gebratenen Ratten versorgten. Doch dann mach­te Burke den törichten Fehler, mit der Pistole auf einen der Aborigines zu feuern, worauf die gesamte Gruppe die Flucht ergriff. Obwohl sie, anders als die Aborigi­nes, über Gewehre zum Jagen verfügten, verhungerten Burke und Wills innerhalb eines Monats, nachdem die Aborigines abgezogen waren.

Unser Erlebnis in Menindee und das Schicksal von Burke und Wills veranschaulichen eindrucksvoll, welche Schwierigkeiten mit dem Aufbau menschlicher Gemein­wesen in Australien verbunden sind. Unter den Konti­nenten der Erde sticht Australien als einzigartig hervor: Die Unterschiede zwischen Eurasien, Afrika, Nordame­rika und Südamerika verblassen im Vergleich zu denen zwischen Australien und jedem der anderen Kontinen­te. Es ist mit Abstand der trockenste, kleinste, flachste, unfruchtbarste, klimatisch unberechenbarste und bio­logisch am ärmlichsten ausgestattete Kontinent. Bevor ihn Europäer in Besitz nahmen, war er die Heimat von Kulturen, die sich stark von allen anderen menschlichen Gesellschaften unterschieden, und wies von allen Kon­tinenten die kleinste Bewohnerzahl auf.

Australien stellt somit einen wichtigen Testfall für Theorien über interkontinentale gesellschaftliche Un­terschiede dar. Unter einzigartigen Umweltbedingun­gen entstanden dort einzigartige Kulturen. Waren er­stere die Ursache für letztere? Und, wenn ja, auf welche konkrete Weise? Australien ist der logische Ausgangs­punkt für unsere Reise um die Welt, auf der wir, gestützt auf die in Teil II und III dieses Buchs gewonnenen Er­kenntnisse, die jeweils besondere Geschichte eines je­den Kontinents verstehen wollen.

Die meisten Laien würden als hervorstechendes Merk­mal der Gesellschaften der australischen Ureinwoh­ner »Rückständigkeit« nennen. Australien ist der ein­zige Kontinent, auf dem bis in die jüngere Vergangen­heit sämtliche einheimischen Völker ohne eine einzige der großen Errungenschaften der »Zivilisation« lebten – ohne Ackerbau, Viehzucht, Metall, Pfeil und Bogen, größere Bauten, feste Dörfer, die Schrift, Häuptlings­reiche oder Staaten. Statt dessen durchstreiften sie ihr Land in kleinen Gruppen als nomadische oder halbno­madische Jäger und Sammler, wohnten in behelfsmäßi­gen Behausungen oder Hütten und besaßen nur Stein­werkzeuge. Auf keinem anderen Kontinent verlief der kulturelle Wandel in den letzten 13 000 Jahren so lang­sam wie in Australien. Das unter Europäern weitver­breitete Urteil über die australischen Aborigines faß­te ein früher französischer Entdecker wie folgt zusam­men: »Sie sind die erbärmlichsten Geschöpfe der Erde und kommen wilden Tieren unter allen menschlichen Wesen am nächsten.«

Dabei waren die Australier Europa und anderen Kon­tinenten vor 40 000 Jahren weit voraus. Einige der älte­sten bekannten Steinwerkzeuge mit geschärften Kanten, die ältesten Steinwerkzeuge mit Griff(Äxte) und die mit Abstand ältesten Wasserfahrzeuge der Welt stam­men aus Australien. Auch einige der ältesten bekann­ten Felsmalereien wurden in Australien entdeckt. Mög­licherweise wurde Australien noch vor Westeuropa von anatomisch modernen Menschen besiedelt. Wie kam es dann trotz dieses Vorsprungs, daß die Europäer schließ­lich Australien eroberten und nicht umgekehrt die Au­stralier Europa?

Hinter dieser Frage verbirgt sich eine weitere. Wäh­rend der Eiszeiten des Pleistozäns, als ein Großteil des Wassers der Weltmeere in kontinentalen Eismassen ge­bunden und der Meeresspiegel weit unter seinen gegen­wärtigen Stand gesunken war, lag die flache Arafurasee, die heute Australien von Neuguinea trennt, trocken und stellte eine Landverbindung dar. Als die Eiskappen vor 12 000 bis 8000 Jahren abschmolzen, stieg der Meeres­spiegel, die Landverbindung wurde überflutet, und der ehemalige Kontinent Großaustralien zerfiel in zwei Teile, Australien und Neuguinea (siehe Abbildung 14.1).

Die menschlichen Bewohner der beiden einst verein­ten Landmassen unterschieden sich in der jüngeren Ver­gangenheit sehr stark. Im Gegensatz zu allem, was ich gerade über die australischen Aborigines gesagt habe, waren die meisten Neuguineer, wie beispielsweise Yalis Volk, Ackerbauern und Schweinehirten. Sie lebten in fe­sten Dörfern und waren in Stämmen statt in Gruppen organisiert. Alle Neuguineer besaßen Pfeil und Bogen, viele verwendeten Töpferwaren. In der Regel wohnten sie in viel größeren Hütten, fuhren in seetüchtigeren Booten aufs Meer und besaßen vielfältigere und mehr Gebrauchsgegenstände als die Australier. Da die Neu­guineer keine Jäger und Sammler, sondern Bauern wa­ren, lebten sie im Durchschnitt viel dichter zusammen: Obwohl die Fläche Neuguineas nur ein Zehntel der au­stralischen beträgt, überstieg die Zahl der dort leben­den Menschen die der in Australien lebenden um ein Mehrfaches.

Warum blieben die Kulturen der größeren der beiden Landmassen, in die das eiszeitliche Großaustralien zer­fiel, in ihrer Entwicklung so »rückständig«, während die Kulturen der kleineren Landmasse viel raschere »Fort­schritte« machten? Und warum breiteten sich die neu­guineischen Innovationen nicht nach Australien aus, das doch an der engsten Stelle der Torresstraße nur knapp 145 Kilometer von Neuguinea entfernt liegt? Aus kul­turanthropologischer Sicht ist die geographische Distanz zwischen Australien und Neuguinea sogar noch gerin­ger, da in der Torresstraße viele Inseln mit bäuerlichen Bewohnern liegen, die Pfeil und Bogen gebrauchen und eine kulturelle Verwandtschaft zu den Bewohnern Neu­guineas aufweisen. Die größte Insel der Torresstraße liegt nur etwa 15 Kilometer vor der Küste Australiens. Ihre Bewohner standen in regem Handelsaustausch sowohl mit australischen Aborigines als auch mit Neuguineern. Wie konnten sich zwei derart unterschiedliche kulturel­le Welten auf den beiden Seiten einer nur 15 Kilometer breiten, regelmäßig von Kanus überquerten Meerenge auf die Dauer behaupten?

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Abbildung 14.1 Karte von Südostasien, Australien und Neugui­nea. Die gestrichelten Linien zeigen den Küstenverlauf während des Eiszeitalters, als der Meeresspiegel niedriger war als heu­te. Damals bildeten Neuguinea und Australien zusammen den großaustralischen Kontinent, während Borneo, Java, Sumatra und Taiwan zum asiatischen Festland gehörten.

Verglichen mit den australischen Ureinwohnern wer­den die Bewohner Neuguineas als kulturell »höher ent­wickelt« eingestuft. Doch selbst sie werden von den mei­sten anderen modernen Völkern als »rückständig« ange­sehen. Vor Beginn der Kolonisierung Neuguineas durch Europäer Ende des 19. Jahrhunderts waren alle Neugui­neer Analphabeten, verwendeten Steinwerkzeuge und lebten noch nicht in Staaten oder (mit wenigen Ausnah­men) Häuptlingsreichen. Zugegeben, die Neuguineer wa­ren »weiter« als die Aborigines, aber warum waren sie noch nicht so »hoch entwickelt« wie viele Eurasier, Afri­kaner und Indianer? Yalis Volk und seine australischen Vettern bilden so etwas wie ein Rätsel in einem Rätsel.

Nach den Gründen für die kulturelle »Rückständig­keit« der australischen Aborigines-Gesellschaften ge­fragt, präsentieren viele weiße Australier eine simple Antwort: Sie verweisen auf die vermeintliche Minder­wertigkeit der Aborigines selbst. Von Europäern unter­scheiden sich die Aborigines tatsächlich in der Gesichts­form und Hautfarbe, was einige Autoren des späten 19. Jahrhunderts veranlaßte, in ihnen ein fehlendes Glied der Evolution vom Affen zum Menschen zu erblicken. Wie sonst ließe sich erklären, daß weiße englische Ko­lonisten ein alphabetisiertes, demokratisches Gemein­wesen mit Landwirtschaft und Industrie binnen weniger Jahrzehnte nach der Besiedlung eines Kontinents schu­fen, dessen Bewohner nach über 40 000 Jahren immer noch auf der Stufe analphabetischer Jäger und Sammler standen? Besonders erstaunlich ist in dem Zusammen­hang, daß Australien die größten Eisen- und Alumini­umvorkommen der Welt und reiche Vorräte an Kupfer, Zinn, Blei und Zink besitzt. Wie kam es da, daß die Ab­origines noch in der Steinzeit lebten?

Es erscheint wie ein perfekt kontrolliertes Experiment zur Evolution menschlicher Gesellschaften. Der Kon­tinent war der gleiche, nur die Akteure waren andere. Ergo muß die Erklärung für die Unterschiede zwischen Aborigines und europäisch­australischen Gesellschaf­ten bei den verschiedenen Völkern, die sie bilden, zu suchen sein. Die Logik, die diesem rassistischen Schluß zugrunde liegt, erscheint zwingend. Wie wir sehen wer­den, enthält sie jedoch einen ebenso simplen wie ent­scheidenden Fehler.

Um diese Frage näher zu beleuchten, wollen wir zu­nächst die Herkunft der an dem »Experiment« beteilig­ten Völker betrachten. Australien und Neuguinea wa­ren beide vor spätestens 40 000 Jahren, als sie noch ge­meinsam den Kontinent Großaustralien bildeten, von Menschen besiedelt. Ein Blick auf die Landkarte (Ab­bildung 14.1) legt die Vermutung nahe, daß die Koloni­sten aus Südostasien stammten und den Weg über den indonesischen Archipel nahmen, den sie durch »In­selhüpfen« überwanden. Dieser Schluß wird gestützt durch die genetische Verwandtschaft zwischen moder­nen Australiern, Neuguineern und Asiaten, aber auch durch das Überleben einer kleinen Zahl von Populatio­nen bis in die Gegenwart, die gewisse Ähnlichkeiten in der physischen Erscheinung aufweisen (auf den Philip­pinen, der Malaiischen Halbinsel und einigen Inseln in der Andamanensee vor der Küste Birmas).

Nach der Landung in Großaustralien ergriffen die ersten Kolonisten rasch von dem gesamten Kontinent Besitz und drangen auch in seine entlegensten Regio­nen und unwirtlichsten Lebensräume vor. Fossilien und Steinwerkzeuge belegen ihre Anwesenheit in Australi­ens Südwesten vor mindestens 40 000 Jahren, im Süd­osten und auf Tasmanien, der am weitesten von dem ver­muteten Brückenkopf in Westaustralien oder Neugui­nea (den Teilen Australiens, die Indonesien und Asien am nächsten liegen) entfernten Region des Kontinents, vor mindestens 35 000 Jahren und im kühlen Hochland Neuguineas vor mindestens 30 000 Jahren. All diese Ge­biete waren von einem Brückenkopf im Westen auf dem Landweg zu erreichen. Die Besiedlung des Bismarckar­chipels und der Salomoninseln nordöstlich von Neu­guinea vor mindestens 35 000 Jahren erforderte jedoch weitere Wasserüberquerungen über Distanzen von meh­reren Dutzend Kilometern. Die Besiedlung Australiens könnte sogar noch schneller als innerhalb von 10 000 Jahren erfolgt sein, da sich die verschiedenen Zeitpunk­te unter Einbeziehung des Fehlerintervalls, das bei der Datierung nach der Radiokarbon-Methode zu berück­sichtigen ist, kaum unterscheiden.

Als Australien und Neuguinea im Eiszeitalter erstmals von Menschen besiedelt wurden, erstreckte sich der asia­tische Kontinent nach Osten ungefähr bis dort, wo heute die Inseln Borneo, Java und Bali liegen; damit reichte er etwa 1500 Kilometer näher an Australien und Neugui­nea heran als das heutige Südostasien. Um von Borneo oder Bali zum eiszeitlichen Großaustralien zu gelangen, mußten aber immer noch mindestens acht Meerengen von bis zu 80 Kilometern Breite überquert werden. Vor 40 000 Jahren dienten dazu möglicherweise Bambusflöße– einfache, aber seetüchtige Gefährte, wie sie noch heute an den Küsten Südchinas in Gebrauch sind. Dennoch muß jede Überfahrt ein recht schwieriges Unternehmen gewesen sein, was schon daran abzulesen ist, daß nach der ursprünglichen Landung vor 40 000 Jahren mehre­re Zehntausend Jahre lang keine weiteren Neuankömm­linge Großaustralien erreichten, jedenfalls gibt es dafür keine überzeugenden archäologischen Hinweise. Erst in den letzten Jahrtausenden tauchten die nächsten zuver­lässigen Indizien in Form von Schweinen in Neuguinea und Hunden in Australien auf, die beide nur aus Asien stammen konnten.

Mithin entwickelten sich die menschlichen Gesell­schaften Australiens und Neuguineas in beträchtlicher Isolation von ihren Ahnen-Gesellschaften in Asien, was sich unter anderem in den heute gesprochenen Sprachen widerspiegelt. Nach den vielen Jahrtausenden der Iso­lation weisen weder die heutigen Sprachen der austra­lischen Aborigines noch die wichtigste Sprachengrup­pe Neuguineas (die der sogenannten Papua-Sprachen) deutliche Ähnlichkeiten mit irgendeiner modernen asia­tischen Sprache auf. Der Grad der Isolation findet auch in den Genen und der physischen Anthropologie Ausdruck. Erbbiologische Untersuchungen deuten darauf hin, daß australische Aborigines und neuguineische Hochland­bewohner eine etwas größere Ähnlichkeit mit moder­nen Asiaten aufweisen als mit Völkern anderer Konti­nente, wobei sie aber keineswegs eng miteinander ver­wandt sind. Auch im Skelettbau und in der physischen Erscheinung unterscheiden sich australische Aborigines und Neuguineer deutlich von den meisten Völkern Süd­ostasiens – man vergleiche nur Fotos von Australiern oder Neuguineern mit denen von Indonesiern oder Chi­nesen. Eine Erklärung für all diese Unterschiede liegt darin, daß die asiatischen Erstbesiedler Großaustrali­ens viel Zeit hatten, um sich gegenüber ihren daheim­gebliebenen Vettern zu verändern. Ein noch wichtigerer Grund dürfte aber gewesen sein, daß die ursprünglichen Bewohner Südostasiens, aus denen sich die Kolonisten Großaustraliens rekrutiert hatten, inzwischen weitge­hend von anderen asiatischen Völkern, die in späteren Expansionswellen aus China einwanderten, verdrängt wurden.

Auch australische Aborigines und Neuguineer selbst entwickelten sich in genetischer, physischer und sprach­licher Hinsicht auseinander. So treten die Blutgruppe B des sogenannten ABO-Systems und die Blutgruppe S des MNS-Systems in Neuguinea und den meisten an­deren Teilen der Welt auf, in Australien aber so gut wie gar nicht. Das krause Haar der meisten Neuguineer steht im Kontrast zu dem glatten oder welligen Haar der mei­sten Aborigines. Die australischen Sprachen und die neu­guineischen Papua-Sprachen lassen nicht nur jede Ver­wandtschaft mit asiatischen Sprachen, sondern auch untereinander vermissen, sieht man von einigen Begriffen ab, die über die Torresstraße Eingang in den jeweils anderen Wortschatz fanden.

All diese Unterschiede zwischen Australiern und Neu­guineern sind Folgen einer langen Phase der Isolation un­ter sehr unterschiedlichen Umweltbedingungen. Nach­dem Australien und Neuguinea durch den Anstieg der Arafurasee vor etwa 10 000 Jahren voneinander getrennt wurden, beschränkte sich der genetische Austausch auf sporadische Kontakte über die Kette der Inseln in der Torresstraße. Dadurch konnten sich die Populationen der beiden Halbkontinente an die jeweils eigene Um­welt anpassen. Mögen die Savannen und Mangroven­wälder an der Südküste Neuguineas denen an der au­stralischen Nordküste noch recht ähnlich sein, so un­terscheiden sich die übrigen Lebensräume der beiden Landmassen in fast jeder Hinsicht.

Ich will nur einige dieser Unterschiede nennen. Neu­guinea liegt beinahe genau auf dem Äquator, während Australien weit in die gemäßigten Breiten hineinreicht (fast bis 40 Grad südlicher Breite). Neuguinea ist gebir­gig und sehr zerklüftet; seine höchsten Gipfel sind über 5000 Meter hoch und von Gletschern bedeckt. Austra­lien dagegen besteht überwiegend aus flachem Tiefland – 94 Prozent seiner Fläche erheben sich weniger als 600 Meter über den Meeresspiegel. Neuguinea zählt zu den niederschlagreichsten Regionen der Welt, Australien zu den trockensten. Im größten Teil Neuguineas fallen über 2500 mm Niederschlag im Jahr und in einem großen Teil des Hochlands sogar über 5000 mm, in Australien weniger als 500 mm. Das äquatoriale Klima Neu­guineas kennt nur geringe Schwankungen im Jahres­verlauf und von Jahr zu Jahr. Australiens Klima weist dagegen hohe jahreszeitliche Schwankungen und weit größere Unterschiede von einem Jahr zum nächsten auf als irgendein anderer Kontinent. Entsprechend ist Neu­guinea von großen, ständig fließenden Flüssen durch­zogen, während die australischen Flüsse in den meisten Jahren nur im Osten des Kontinents ganzjährig Wasser führen, wobei selbst das größte Stromsystem Australi­ens, der Murray und seine Nebenflüsse, in Dürreperi­oden für Monate austrocknen kann. Während Neugui­nea überwiegend von dichtem Regenwald bedeckt ist, findet man im größten Teil Australiens nur Wüste und offenes, trockenes Waldland.

Seinen Vulkanen und Gletschern, die im Wechsel vor­rückten und sich zurückzogen und dabei den Boden des Hochlands abtrugen, sowie den Flüssen und Bächen, die riesige Mengen Schlamm vom Gebirge ins Tiefland transportierten und dort ablagerten, verdankt Neugui­nea eine Schicht jungen, fruchtbaren Bodens. Australi­en besitzt demgegenüber von allen Kontinenten die bei weitem ältesten, unfruchtbarsten und ausgelaugtesten Böden, was auf den geringen Vulkanismus und das Feh­len hoher Berge und Gletscher zurückzuführen ist. In Neuguinea, das flächenmäßig zehnmal kleiner ist als Australien, trifft man ungefähr die gleiche Anzahl von Säugetier- und Vogelarten wie in Australien – eine Folge der äquatornahen Lage, der hohen Niederschlagsmengen, der vielfältigeren Höhenlagen und der größeren Frucht­barkeit. All diese Unterschiede in den Umweltbedin­gungen beeinflußten die sehr unterschiedliche Kultur­geschichte der beiden Teilkontinente, die uns als näch­stes beschäftigen soll.

Die älteste und intensivste Landwirtschaft Großaustra­liens sowie die dichtesten Populationen waren in den Hochlandtälern von Neuguinea in Höhenlagen zwi­schen 1200 und 2700 Metern ü.d.M. angesiedelt. Bei archäologischen Ausgrabungen wurden komplizier­te, bis zu 9000 Jahre alte Entwässerungssysteme ent­deckt, die vor 6000 Jahren in großem Stil auftauchten; man stieß auch auf Terrassen, die in trockeneren Gebie­ten zur Zurückhaltung der Bodenfeuchtigkeit dienten. Die Grabensysteme ähnelten denen, die noch heute im neuguineischen Hochland zur Sumpftrockenlegung für den Obst- und Gemüseanbau verwendet werden. Pol­lenanalysen ergaben, daß in den Hochlandtälern vor 5000 Jahren große Flächen entwaldet waren, was auf landwirtschaftliche Rodungen schließen läßt.

Haupterzeugnisse der bäuerlichen Hochlandbewoh­ner sind heute Taro, Bananen, Jamswurzeln, Zuckerrohr, Gräser mit eßbaren Stengeln, mehrere Sorten Blattge­müse und die erst in jüngerer Vergangenheit eingeführ­te Süßkartoffel. Da Taro, Bananen und Jamswurzeln in Südostasien, einer unumstrittenen Stätte der Pflanzen­domestikation, heimisch sind, nahm man früher an, daß alle Kulturpflanzen des neuguineischen Hochlands mit Ausnahme der Süßkartoffel asiatischer Herkunft sind. Nach und nach fand man jedoch heraus, daß es sich bei den wilden Vorfahren von Zuckerrohr, Blattgemü­se und den Gräsern mit eßbaren Stengeln um neuguin­eische Arten handelt, daß die wilden Vorfahren der in Neuguinea angebauten Bananensorten aus Neuguinea und nicht aus Asien stammten und daß Taro und einige Jamswurzelarten sowohl in Neuguinea als auch in Asi­en heimisch sind. Würde die neuguineische Landwirt­schaft ihre Entstehung tatsächlich Importen aus Asien verdanken, so wäre zu erwarten gewesen, daß wenig­stens einige Kulturpflanzen des neuguineischen Hoch­lands eindeutig aus Asien stammten, was nicht der Fall ist. Deshalb wird inzwischen allgemein davon ausgegan­gen, daß die Landwirtschaft im neuguineischen Hoch­land durch Domestikation neuguineischer Wildpflan­zen unabhängig entstand.

Neuguinea gehört damit neben dem Fruchtbaren Halb­mond, China und einer kleinen Zahl weiterer Regionen zu den frühen Zentren der Pflanzendomestikation. Von den Kulturpflanzen, die vor 6000 Jahren im neuguinei­schen Hochland angebaut wurden, kamen an archäologi­schen Fundstätten bisher keine Überreste zum Vorschein. Das überrascht aber nicht, da es sich auch bei den heu­tigen Hauptanbaugewächsen des Hochlands um Arten handelt, die nur unter außergewöhnlichen Umständen für Archäologen sichtbare Spuren hinterlassen. Es ist des­halb anzunehmen, daß einige von ihnen auch zu den äl­testen Kulturpflanzen Neuguineas zählten. Gestützt wird diese Vermutung durch die große Ähnlichkeit der erhal­tenen frühzeitlichen Entwässerungssysteme mit denen, die heute zum Anbau von Taro angelegt werden.

Die drei eindeutig fremden Elemente in der neuguin­eischen Landwirtschaft waren nach Berichten der ersten europäischen Entdecker Hühner, Schweine und Süßkar­toffeln. Huhn und Schwein wurden in Südostasien do­mestiziert und gelangten vor etwa 3600 Jahren mit den Austronesiern, einem ursprünglich in Südchina behei­mateten Volk, das uns in Kapitel 16 näher beschäftigen wird, nach Neuguinea und zu den meisten anderen Pa­zifikinseln. (Schweine könnten schon früher dort einge­troffen sein.) Die aus Südamerika stammende Süßkar­toffel erreichte Neuguinea offenbar erst innerhalb der letzten Jahrhunderte, nachdem die Spanier sie auf den Philippinen eingeführt hatten. Einmal in Neuguinea eta­bliert, überholte die Süßkartoffel bald Taro als wichtig­stes Anbaugewächs der Hochlandbewohner. Die Grün­de dafür lagen in der kürzeren Wachs tumszeit bis zur Reife, den höheren Pro-Hektar-Erträgen und dem bes­seren Gedeihen auf schlechten Böden.

Die Entstehung der Landwirtschaft im Hochland von Neuguinea muß vor einigen tausend Jahren eine gewal­tige Bevölkerungsexplosion ausgelöst haben, denn nach der Ausrottung der einstigen Großtierwelt aus Riesen­beuteltieren konnte diese Region nur sehr dünne Popu­lationen von Jägern und Sammlern ernähren. Zu einer weiteren Bevölkerungexplosion gab die Ankunft der Süß­kartoffel vor wenigen Jahrhunderten den Anstoß. Als Eu­ropäer in den 30er Jahren dieses Jahrhunderts erstmals mit dem Flugzeug über das neuguineische Hochland flo­gen, erblickten sie zu ihrem Erstaunen unter sich eine Landschaft, die sie an Holland erinnerte. Breite Täler waren vollständig gerodet und mit vielen kleinen Dör­fern wie mit Punkten übersät; eingezäunte, entwässer­te Felder erstreckten sich in manchen Tälern von einem Rand zum anderen. Dieses Landschaftsbild kündet von der hohen Siedlungsdichte von Hochlandbauern, die nur über Steinwerkzeuge verfügten.

Steiles Terrain, Dauerbewölkung, Malaria und die Gefahr von Dürren in tieferen Lagen bewirken, daß Landwirtschaft im neuguineischen Hochland nur in über 1200 Meter Höhe getrieben werden kann. Die­ses Gebiet ragt wie eine dichtbevölkerte Insel aus ei­nem Wolkenmeer empor. Im neuguineischen Tiefland leben die Menschen an der Küste und entlang der gro­ßen Flüsse seßhaft in Dörfern und ernähren sich haupt­sächlich von Fisch, während im dünnbesiedelten Inland Brandrodungsfeldbau mit Bananen und Jamswurzeln als Grundnahrungsmitteln betrieben wird, ergänzt durch Jagen und Sammeln. Im Unterschied dazu ziehen die Be­wohner der Sumpfgebiete als Jäger und Sammler umher und ernähren sich hauptsächlich von dem stärkehalti­gen Mark wilder Sagopalmen, eines äußerst ertragrei­chen Gewächses, das pro Arbeitsstunde eine Ernte von dreimal soviel Kalorien ermöglicht wie beim Anbau von Obst oder Gemüse. Die Sümpfe Neuguineas stehen so­mit für eine Umwelt, in der sich die Lebensweise der Jäger und Sammler behauptete, weil sie der Landwirt­schaft überlegen war.

Die politische Organisation der Sagoesser der Tief­landsümpfe ist ein Beispiel für nomadische Jäger-Samm­ler-Gruppen, wie sie einst für alle Neuguineer typisch gewesen sein müssen. Aus den in Kapitel 12 und 13 erör­terten Gründen waren es die bäuerlichen beziehungswei­se Fischfang treibenden Völker, die komplexere Techni­ken, Gesellschaften und politische Organisationsformen entwickelten. Sie leben in festen Dörfern und Stammes­gesellschaften, häufig mit einem »Big­man« an der Spit­ze. Manche errichten große Kulthäuser mit kunstvollen Verzierungen. Ihre hölzernen Statuen und Masken wer­den auf der ganzen Welt gepriesen und in zahlreichen Museen ausgestellt.

Neuguinea wurde somit zu dem Teil Großaustraliens, in dem die Technik, die soziale und politische Organi­sation und die Kunst den höchsten Entwicklungsstand erreichten. Aus der Sicht amerikanischer oder europä­ischer Großstädter ist Neuguinea dennoch als »primitiv« und nicht »hoch entwickelt« einzustufen. Woran lag es, daß die Neuguineer bis zuletzt nur Steinwerkzeuge be­saßen, statt metallene herzustellen? Warum blieben sie Analphabeten? Und warum gründeten sie keine Häupt­lingsreiche und Staaten? Wie wir sehen werden, standen dem eine Reihe biologischer und geographischer Fak­toren im Weg.

Der erste hängt mit der Nahrungsproduktion zusam­men. Das neuguineische Hochland war zwar eine der Geburtsstätten der Landwirtschaft, doch die erzeugte Proteinmenge war recht gering (siehe Kapitel 7). Haupt­nahrungspflanzen waren Wurzelfrüchte mit sehr niedri­gem Eiweißgehalt, und auch die Haustierzucht (Schwei­ne und Hühner) vermochte keinen größeren Beitrag zur Eiweißversorgung der Bevölkerung zu leisten. Da sich weder Schweine noch Hühner als Zugtiere vor Wagen spannen lassen, waren die neuguineischen Hochlandbe­wohner überdies ganz auf die eigene Muskelkraft ange­wiesen. Sie konnten auch keine epidemischen Krankhei­ten entwickeln, um damit eines Tages die europäischen Eindringlinge abzuwehren.

Ein zweiter Faktor, der die Bevölkerungsgröße der Hochlandbewohner beschränkte, war die Knappheit der Anbauflächen: Im Hochland von Neuguinea gibt es nur wenige breite, zur dichten Besiedlung geeignete Täler, insbesondere das Wahgi- und das Baliemtal. Eine dritte Beschränkung lag darin, daß nur mittlere Höhenlagen zwischen 1200 und 2700 Metern für eine intensive land­wirtschaftliche Nutzung in Frage kamen. Oberhalb von 2700 Metern wurde in Neuguinea überhaupt keine Land­wirtschaft getrieben, auf Hangflächen zwischen 300 und 1200 Metern nur in begrenztem Umfang und im Tiefland lediglich in Form von Brandrodungsfeldbau. Ein inten­siver Austausch landwirtschaftlicher Erzeugnisse zwi­schen Gruppen, die sich in verschiedenen Höhenlagen auf unterschiedliche Arten der Nahrungsmittelproduk­tion spezialisierten, konnte deshalb in Neuguinea nicht entstehen. In den Anden, den Alpen und im Himalaja führte ein solcher Austausch dagegen nicht nur zur Er­höhung der Bevölkerungsdichte, indem die Bewohner al­ler Höhenlagen mit einer ausgewogeneren Kost versorgt wurden, sondern er förderte auch die wirtschaftliche und politische Integration der jeweiligen Region.

Aus all diesen Gründen stieg die Bevölkerung des traditionellen Neuguinea nie über eine Million, bevor die europäischen Kolonialherren westliche Medizin ins Land brachten und die Stammeskriege beendeten. Von den neun in Kapitel 4 aufgeführten Gebieten, in denen die Landwirtschaft unabhängig entstand, blieb Neugui­nea mit Abstand das bevölkerungsärmste. Mit nur rund einer Million Einwohnern konnte Neuguinea unmög­lich mit der Entwicklung von Technik, Schrift und po­litischen Systemen in China, Vorderasien, den Anden und Mesoamerika mithalten, wo viele Millionen Men­schen lebten.

Neuguinea zählt aber nicht nur insgesamt wenig Ein­wohner, sondern darüber hinaus wird seine Bevölkerung durch das unwegsame Gelände in Tausende von Grup­pen und Grüppchen zersplittert: Sümpfe bedecken ei­nen Großteil des Tieflands, das Hochland ist von steilen Bergkämmen und engen Canons durchzogen, und fast die ganze Insel ist mit dichtem Urwald bekleidet. Wenn ich in Neuguinea biologische Feldforschung unterneh­me und mit einer Gruppe einheimischer Helfer durch den Dschungel ziehe, betrachte ich eine Tagesleistung von fünf Kilometern als hervorragend, selbst wenn wir auf vorhandenen Pfaden marschieren. Die meisten Be­wohner traditioneller Dörfer im neuguineischen Hoch­land haben sich nie weiter als 15 Kilometer von ihrem Geburtsort entfernt.

Diese Unwegsamkeit in Verbindung mit häufigen Stammeskriegen, die für die Beziehungen zwischen neu­guineischen Nomadenverbänden oder Dörfern kenn­zeichnend waren, erklären die sprachliche, kulturelle und politische Zersplitterung des traditionellen Neugui­nea. Neuguinea weist mit Abstand die höchste Konzen­tration von Sprachen auf: Von den 6000 Sprachen der Welt werden hier, in einem Gebiet nur wenig größer als Texas, etwa 1000 gesprochen, untergliedert in Dutzen­de von Sprachfamilien und isolierte Einzelsprachen, die einander so wenig ähneln wie Englisch und Chinesisch. Fast die Hälfte der Sprachen Neuguineas haben weniger als 500 Sprecher, und selbst die größten Sprachgruppen (mit etwa 100 000 Sprechern) waren politisch in Hun­derte von Dörfern zersplittert, die miteinander ebenso verfehdet waren wie mit Sprechern anderer Sprachen. Jede dieser Minigesellschaften war für sich genommen viel zu klein, um Häuptlinge und Spezialisten miternäh­ren oder Metallverarbeitung und Schrift hervorbringen zu können.

Außer durch eine kleine, in unzählige Grüppchen ge­spaltene Bevölkerung wurde die Entwicklung in Neugui­nea durch die geographische Isolation behindert, die den Zustrom neuer Techniken und Ideen von außen stark einschränkte. Von seinen drei Nachbarn war Neugui­nea durch das Meer getrennt, und bis vor wenigen tau­send Jahren waren alle drei in der technischen und land­wirtschaftlichen Entwicklung noch weniger fortgeschrit­ten als Neuguinea (und insbesondere das neugui neische Hochland). Von den Bewohnern dieser drei Nachbarre­gionen verharrten die australischen Aborigines auf der Stufe von Jägern und Sammlern, die den Neuguineern kaum etwas anzubieten hatten, was diese nicht schon be­saßen. Bei dem zweiten Nachbarn handelte es sich um die wesentlich kleineren Inseln des Bismarck- und Sa­lomonarchipels im Osten. Damit blieb als dritter Nach­bar nur noch die Inselwelt Ostindonesiens übrig. Doch auch diese Region war als Heimat von Jäger- und Samm­lergesellschaften die meiste Zeit der Geschichte kultu­relle Provinz. So ist kein einziger Gegenstand bekannt, der nach der anfänglichen Besiedlung Neuguineas vor über 40 000 Jahren nachweislich den Weg über Indone­sien nach Neuguinea fand, bevor um 1600 v. Chr. die austronesische Expansion begann.

Im Zuge dieser Ausbreitungsbewegung wurde Indo­nesien von Landwirtschaft treibenden Völkern asiati­scher Herkunft in Besitz genommen, die Haustiere, Ackerbau und technische Errungenschaften mitbrachten, die mindestens dem damaligen Niveau Neuguineas ent­sprachen. Sie hatten auch Navigationskenntnisse, die ih­nen die Überfahrt von Asien nach Neuguinea erleich­terten. Austronesier besiedelten Inseln westlich, nörd­lich und östlich von Neuguinea, ließen sich aber auch am Westzipfel sowie an der Nord- und Südostküste von Neuguinea selbst nieder. Im Gepäck hatten sie Töpferwa­ren sowie Hühner und vermutlich Hunde und Schwei­ne. (Bei älteren archäologischen Untersuchungen stieß man im Hochland von Neuguinea angeblich auf Schwei­neknochen, die aus der Zeit um 4000 v. Chr. stammen sollen, doch diese Funde konnten nie bestätigt werden.) Mindestens während der letzten Jahrtausende unterhielt Neuguinea Handelsbeziehungen mit den technisch weit höher entwickelten Gesellschaften Javas und Chinas. Im Tausch gegen Federn von Paradiesvögeln und Gewürze gelangten diverse Güter aus Südostasien nach Neugui­nea, darunter solche Kostbarkeiten wie Bronzetrommeln aus Dongson und chinesisches Porzellan.

Mit der Zeit hätte die austronesische Expansion auf Neuguinea sicher immer stärkere Veränderungen gezei­tigt. Der Westteil Neuguineas wäre vermutlich irgend­wann in die Sultanate des östlichen Indonesien einge­gliedert worden, und wahrscheinlich hätten Metallwerk­zeuge den Weg über Ostindonesien nach Neuguinea gefunden. Das alles lag aber noch in der Zukunft, als 1511 die Portugiesen auf den Molukken landeten und Indonesiens eigenständige Entwicklung vorzeitig been­deten. Als wenig später auch in Neuguinea Europäer eintrafen, lebten dessen Bewohner noch in Nomaden­gruppen oder Dörfern, die erbittert ihre Unabhängigkeit verteidigten, und besaßen nur Steinwerkzeuge.

Im Gegensatz zum neuguineischen Teil Großaustrali­ens blieb die Erfindung von Tierhaltung und Ackerbau im australischen Teil aus. Während der Eiszeiten hat­ten in Australien weit mehr große Beuteltiere gelebt als in Neuguinea, unter anderem Diprotodonten (das Beu­teltier-Pendant zu Kühen und Nashörnern), Riesenkän­guruhs und Riesenwombats. Doch all diese Beuteltie­re, die Kandidaten für die Tierhaltung hätten werden können, verschwanden während des massenhaften Ar­tensterbens, das mit der Besiedlung Australiens durch den Menschen einherging. Danach besaß Australien ebenso wie Neuguinea keine domestizierbaren heimi­schen Säugetiere mehr. Das einzige domestizierte Säu­getier, das in Australien von außen übernommen wur­de, war der Hund, der um 1500 v. Chr. von Asien kam (vermutlich an Bord austronesischer Kanus) und in der australischen Wildnis als Dingo heimisch wurde. Au­stralische Aborigines hielten Dingos als treue Gefähr­ten, Wachhunde und sogar als lebende Decken für küh­le Nächte. Anders als die Polynesier aßen sie aber kein Hundefleisch, und sie richteten auch keine Hunde zum Jagen ab, wie es die Neuguineer taten.

Chancenlos war auch der Ackerbau in Australien, das nicht nur die geringsten Niederschlagsmengen erhält, sondern auch von allen Kontinenten die unfruchtbarsten Böden besitzt. Hinzu kommt, daß Australien als einzi­ger Kontinent stark unter dem klimabestimmenden Ein­fluß von »El Niño« steht, einem atmosphärischen und ozeanischen Phänomen des Pazifiks. »El Niño« weist im Gegensatz zu den uns vertrauten regelmäßig wiederkeh­renden Jahreszeiten einen unregelmäßigen mehrjähri­gen Zyklus auf. Unvorhersehbare schwere Dürreperi­oden können mehrere Jahre dauern, unterbrochen von ebenso unvorhersehbaren sintflutartigen Regenfällen und Überschwemmungen. Noch heute ist die Landwirt­schaft in Australien ein riskantes Unternehmen – trotz europäischer Anbaupflanzen und moderner Transport­mittel für landwirtschaftliche Erzeugnisse. In guten Jah­ren wachsen die Herden, um dann von der nächsten Dür­re wieder dezimiert zu werden. Angehende Bauern im frühzeitlichen Australien wären mit ähnlichen Zyklen des Bevölkerungswachstums und -rückgangs konfron­tiert worden. Wenn sie sich in fetten Jahren in Dörfern niedergelassen, Pflanzen angebaut und sich vermehrt hätten, so wären die gewachsenen Populationen in der nächsten Dürre, in der das Land weniger Bewohner er­nähren konnte, vom Hunger dezimiert worden.

Das zweite Haupthindernis für die Landwirtschaft in Australien war die geringe Zahl domestizierbarer Wild­pflanzen. Selbst in diesem Jahrhundert scheiterten die Versuche europäischer Pflanzengenetiker, in Australien heimische Wildpflanzen zu domestizieren – die einzige Ausnahme war die Macadamianuß. Auf der Liste aller potentiell nützlichen Getreidepflanzen der Welt, auf der die 56 großsamigsten Wildgräser verzeichnet sind, ste­hen nur zwei australische Kandidaten, und beide ran­gieren weit hinten (mit einem Körnergewicht von nur 13 Milligramm gegenüber stattlichen 40 Milligramm bei den schwersten Getreidekörnern). Das heißt nicht, daß Australien überhaupt keine potentiellen Anbaupflanzen besaß oder daß die Aborigines nie von sich aus die Land­wirtschaft eingeführt hätten. Manche Pflanzen, wie eini­ge Arten von Jamswurzeln, Taro und Pfeilwurz, werden im Süden Neuguineas angebaut, wachsen aber auch wild in Nordaustralien und werden dort von Aborigines ge­erntet. Wie wir sehen werden, schlugen die Aborigines in jenen Gebieten Australiens, in denen die klimatischen Verhältnisse am günstigsten waren, einen Weg ein, der vermutlich irgendwann zur Landwirtschaft geführt hät­te. Ihr wären aber durch den Mangel an domestizierba­ren Tieren, die geringe Zahl domestizierbarer Pflanzen und die schwierigen Böden und Klimabedingungen in jedem Fall enge Grenzen gesetzt gewesen.

Nomadentum, Jagd- und Sammelwirtschaft und möglichst geringe Investitionen in Behausungen und Habse­ligkeiten waren eine sinnvolle Anpassung an die unbe­rechenbaren klimatischen Verhältnisse Australiens. Ver­schlechterten sich die Bedingungen an einem Ort, zog man weiter in ein Gebiet, in dem vorübergehend gün­stigere Bedingungen herrschten. Statt sich in Abhängig­keit von einer kleinen Zahl von Anbaupflanzen zu be­geben, deren Erträge in manchen Jahren vielleicht nicht ausreichen würden, hielten die Aborigines ihr Risiko so gering wie möglich, indem sie sich auf ein breites Spek­trum von Wildpflanzen und -tieren stützten, von denen kaum zu befürchten war, daß alle zur gleichen Zeit als Nahrungsquelle ausfallen würden. Sie unterhielten keine fluktuierenden Populationen, die hin und wieder durch Hunger dezimiert wurden, wenn die Natur in einem Jahr nicht genug hergab, sondern lebten in kleineren Popu­lationen, die in guten Jahren im Überfluß schwelgen, in schlechten Jahren aber immer noch genug zum Überle­ben finden konnten.

Auch ohne Landwirtschaft im eigentlichen Sinne zu betreiben, bewirtschafteten die Aborigines ihre Umwelt und steigerten die Erträge an pflanzlicher und tierischer Nahrung, die sie ihnen bot. Zu ihren Methoden gehör­te insbesondere das regelmäßige Legen von Buschbrän­den, das mehreren Zwecken diente: Tiere wurden auf­gescheucht, die bei dem Versuch, vor dem Feuer zu flie­hen, erlegt und anschließend verspeist werden konnten; die Brände verwandelten Dickichte in offene Parkland­schaften, die Menschen leichter durchqueren konnten; Parklandschaften bildeten zudem einen idealen Lebens­raum für Känguruhs, das wichtigste Wild, das in Austra­lien gejagt werden kann; außerdem forderten die Brände das Wachstum von neuem Gras, einer Hauptnahrung der Känguruhs, und auch von Farnwurzeln, einer Nah­rungsquelle der Aborigines.

In unserer Vorstellung sind die australischen Aborigi­nes Geschöpfe der Wüste, doch für die meisten von ih­nen traf das gar nicht zu. Vielmehr schwankte ihre ört­liche Bevölkerungsdichte mit der Niederschlagsmenge (da von ihr die Menge pflanzlicher und tierischer Nah­rung, die in der Natur zu finden ist, bestimmt wird) und der Menge an Nahrung im Meer, in Flüssen und Seen. Am dichtesten besiedelt waren die niederschlagsreich­sten, fruchtbarsten Regionen Australiens: das Stromsy­stem von Murray und Darling im Südosten, die Ost- und Nordküste und der Südwestzipfel. In diesen Gebieten erreichte auch die Besiedlung durch weiße Europäer in der jüngeren australischen Geschichte ihre größte Dich­te. Der Grund, warum die Aborigines für uns Wüsten­bewohner sind, liegt darin, daß sie in den attraktiveren Gebieten von Europäern umgebracht oder vertrieben wurden, so daß den letzten intakten Aborigines-Popu­lationen nur der Rückzug in Gegenden blieb, an denen Europäer kein Interesse hatten.

Innerhalb der letzten 5000 Jahre kam es in einigen der fruchtbaren Regionen zu einer Intensivierung der von den Aborigines praktizierten Form der Nahrungs­gewinnung, einhergehend mit einem Anstieg der Bevöl­kerungsdichte. So wurden in Ostaustralien Techniken entwickelt, mit denen es gelang, die im Überfluß vor­handenen stärkehaltigen, aber hochgiftigen Zykadeen­samen durch Auslaugung oder Fermentation genießbar zu machen. Die zuvor ungenutzten Hochebenen im Süd­osten Australiens wurden ab einem gewissen Zeitpunkt regelmäßig im Sommer von Aborigines aufgesucht, die sich dort nicht nur an Zykadeennüssen und Jamswur­zeln gütlich taten, sondern auch an Bogongfaltern, ei­ner Wanderfalterart, die dort in riesigen Ansammlun­gen überwintert und gegrillt wie geröstete Kastanien schmeckt. Eine weitere Form intensiver Nahrungsge­winnung war der Fang von Süßwasseraalen im Murray-Darling-Stromsystem, wo die Wasserstände in Marsch­gebieten je nach saisonalen Regenfällen schwanken. Hier legten Aborigines komplizierte Kanalsysteme von bis zu 2,5 km Länge an, um den Aalen auch Zugang zu den je­weils benachbarten Marschgebieten zu verschaffen. Ge­fangen wurden die Aale an kunstvollen Wehren, in Fal­len in toten Seitenkanälen und in Netzen an Steinwällen, die an einigen Stellen in den Kanälen errichtet wurden und mit Durchlaßöffnungen versehen waren. Fallen in unterschiedlicher Höhe trugen dem schwankenden Was­serstand in den Marschen Rechnung. Die Errichtung die­ser »Fischfarmen« muß sehr viel Arbeit gekostet haben, konnte dann aber auch eine große Zahl von Menschen ernähren. Europäer berichteten im 19. Jahrhundert von Aborigines-Dörfern an solchen Orten, die aus mehreren Dutzend Häusern bestanden; Archäologen fanden so­gar Überreste von Dörfern mit bis zu 146 Steinhäusern, was auf wenigstens saisonal seßhafte Populationen von mehreren hundert Menschen schließen läßt.

Eine weitere Neuerung in Ost- und Nordaustralien war das Ernten von Hirsekörnern einer Art, die zur glei­chen Gattung gehört wie Besenhirse, die in der Früh­phase der Landwirtschaft in China als Grundnahrungs­mittel Bedeutung erlangte. Die Hirse wurde mit stei­nernen Messern geschnitten, zu Haufen gestapelt und gedroschen. Die Körner wurden in Lederbeuteln oder hölzernen Schalen aufbewahrt und später gemahlen. Ei­nige der verwendeten Werkzeuge, wie Erntemesser und Mahlsteine, ähnelten den Werkzeugen, die im Bereich des Fruchtbaren Halbmonds zum Ernten und Verar­beiten der Samenkörner anderer Wildgräser erfunden wurden. Von allen Methoden, die die australischen Ab­origines zur Nahrungsgewinnung anwandten, hätte die Hirseernte mit der Zeit vielleicht am ehesten zur Land­wirtschaft geführt.

Parallel zur Intensivierung der Nahrungsgewinnung kamen in den letzten 5000 Jahren neue Arten von Werk­zeugen in Australien auf. Kleine Steinklingen und -spit­zen traten an die Stelle klobigerer Steinwerkzeuge. Bei­le mit geschliffenen Steinklingen, die ursprünglich nur an wenigen Orten Australiens verwendet wurden, setz­ten sich fast überall durch. Innerhalb der letzten tau­send Jahre kamen auch Angelhaken aus Muschelscha­le in Gebrauch.

Warum wurden in Australien keine Werkzeuge aus Metall hergestellt, warum entstanden weder Schrift noch komplexe Formen politischer Organisation? Ein Haupt­grund liegt darin, daß die Aborigines ihre Lebenswei­se als Jäger und Sammler beibehielten, und wie wir aus den Kapiteln 11–13 wissen, hielten die genannten Neue­rungen in anderen Teilen der Welt nur in Gesellschaf­ten mit Landwirtschaft, hoher Bevölkerungsdichte und ökonomischer Differenzierung Einzug. Hinzu kommt, daß Australien mit seinem trockenen, unberechenbaren Klima und seinen kargen Böden nur einige hunderttau­send Jäger und Sammler ernähren konnte. Verglichen mit den vielen Millionen Menschen in China oder Meso­amerika verfügte Australien also auch über sehr viel we­niger potentielle Erfinder und eine weitaus kleinere Zahl von Gesellschaften, die mit Innovationen experimentie­ren konnten. Daneben mangelte es an engen Kontakten zwischen den einzelnen Aborigines-Gesellschaften. Das frühe Australien ähnelte einem äußerst dünn besiedel­ten Wüstenmeer, das sich zwischen einer kleinen Zahl fruchtbarerer ökologischer »Inseln« erstreckte und diese voneinander trennte. Jedes dieser begünstigten Gebiete beherbergte nur einen Bruchteil der australischen Ge­samtbevölkerung, und Kontakte zwischen ihnen waren aufgrund der großen Entfernungen sehr spärlich. Selbst in den vergleichsweise niederschlagsreichen, fruchtba­ren Küstenebenen Ostaustraliens herrschte kein reger Austausch zwischen den einzelnen Gesellschaften, was schon allein durch die Entfernung von rund 3000 Ki­lometern bedingt war, die zwischen den tropischen Re­genwäldern Queenslands im Nordosten und den Regen­wäldern der gemäßigten Klimazone im Südosten liegt – eine geographische und ökologische Distanz wie die zwischen Los Angeles und Alaska. Eine Reihe technischer Rückentwicklungen, die sich offenbar in einigen Regionen beziehungsweise in ganz Australien vollzogen, könnten auf die isolierte Lage und die relativ geringe Einwohnerzahl der australischen Be­völkerungszentren zurückzuführen sein. Auf der Kap-York-Halbinsel im Nordosten des Kontinents geriet der Bumerang, die typische Waffe Australiens, in Vergessen­heit. Die Aborigines im Südwesten Australiens hatten Schalentiere wieder von ihrem Speiseplan gestrichen, als sie erstmals Europäern begegneten. Der Verwendungs­zweck jener kleinen Steinspitzen, die nach archäologi­schen Funden vor etwa 5000 Jahren aufgetaucht sein müssen, ist weiter ungeklärt. Eine einfache Erklärung wäre, daß es sich um Speerspitzen und Widerhaken han­delte, doch die Ähnlichkeit mit den Steinspitzen und Widerhaken, die in anderen Teilen der Welt an Pfeilen befestigt wurden, läßt Zweifel aufkommen. Sollten sie in Wahrheit als Pfeilspitzen gedient haben, so wäre viel­leicht auch das Rätsel gelöst, warum Pfeil und Bogen in jüngerer Vergangenheit in Neuguinea verwendet wurden, nicht aber in Australien: Vielleicht wurden Pfeil und Bo­gen tatsächlich für eine gewisse Zeit übernommen und gerieten dann in ganz Australien wieder in Vergessen­heit. All diese Beispiele erinnern an die Abkehr der Ja­paner vom Gewehr, die Abschaffung von Pfeil und Bo­gen und Töpferei im größten Teil Polynesiens und die Abwendung anderer isolierter Gesellschaften von ande­ren Techniken (Kapitel 12).

Schauplatz der extremsten technischen Rückentwick­lung in diesem Teil der Welt war die Insel Tasmani­en, die etwa 240 Kilometer vor der Küste Südostaustra­liens liegt. Als der Meeresspiegel im Eiszeitalter sank, war die Bass-Straße, die heute Tasmanien von Australi­en trennt, eine trockene Ebene, und die Bewohner Tas­maniens waren Teil der durchgehenden menschlichen Besiedlung des großaustralischen Kontinents. Als dann die Bass-Straße nach dem Ende der letzten Eiszeit vor etwa 10 000 Jahren überflutet wurde, riß der Kontakt zwischen Tasmaniern und Festland-Australiern ab, da keine Seite über Boote oder Flöße verfügte, die für eine Überquerung der Bass-Straße tauglich waren. Fortan lebten die 4000 tasmanischen Jäger und Sammler ohne jeden Kontakt zu anderen menschlichen Wesen – ein Zustand, wie er sonst nur in Science-Fiction-Romanen geschildert wird.

Als die Tasmanier im Jahr 1642 die Bekanntschaft der Europäer machten, war ihre materielle Kultur von allen Völkern der Neuzeit auf dem primitivsten Stand. Wie die Aborigines auf dem australischen Festland wa­ren auch sie Jäger und Sammler ohne Metallwerkzeuge. Darüber hinaus fehlten ihnen aber zahlreiche Techni­ken und Artefakte, die auf dem Festland weit verbreitet waren, wie Speere mit Widerhaken, Knochenwerkzeuge, Bumerange, geschliffene oder polierte Steinwerkzeuge, Steinwerkzeuge mit Schaft, Haken, Netze, Fallen und Speere mit Gabelspitze. Unbekannt waren auch Fertig­keiten wie Fischfang und -zubereitung, Nähen und das Entfachen von Feuer. Manche dieser Errungenschaften trafen möglicherweise zuerst auf dem australischen Fest­land ein oder wurden dort erfunden, nachdem die Ver­bindung zwischen Tasmanien und Australien abgeris­sen war; in diesem Fall wäre davon auszugehen, daß die winzige tasmanische Population die genannten Techni­ken und Fertigkeiten nicht unabhängig entwickelte. An­dere Techniken gelangten nach Tasmanien, als es noch zum australischen Festland gehörte, kamen dort aber während der langen Phase der Isolation abhanden. So geht aus archäologischen Funden hervor, daß Fischfang sowie Ahlen, Nadeln und andere Knochenwerkzeuge um 1500 v. Chr. außer Gebrauch kamen. Auf mindestens drei kleineren Inseln (Flinders, Kangaroo und King), die durch den Anstieg des Meeresspiegels vor etwa 10 000 Jahren von Australien beziehungsweise Tasmanien ab­geschnitten wurden, starben die menschlichen Bewoh­ner, die anfangs zwischen 200 und 400 gezählt haben dürften, vollständig aus.

Tasmanien und die genannten drei kleineren Inseln veranschaulichen somit in Extremform einen Zusam­menhang von potentiell großer Bedeutung für den Lauf der Geschichte: Populationen, die aus wenigen hundert Menschen bestanden, konnten in vollständiger Isolation nicht unbegrenzt überleben. Eine Population aus 4000 Menschen konnte sich zwar 10 000 Jahre halten, aber nur mit deutlichen kulturellen Einbußen und einem Man­gel an Erfindungen mit der Folge eines starken Absin­kens des materiellen Entwicklungsstands. Die 300 000 Jäger und Sammler des australischen Festlands waren zahlreicher und weniger stark isoliert als die Tasmanier, bildeten aber dennoch die kleinste und abgeschiedenste menschliche Population aller Kontinente. Die archäolo­gisch belegten Fälle technischer Rückentwicklung auf dem australischen Festland und das Beispiel Tasmani­ens deuten darauf hin, daß das begrenzte kulturelle Re­pertoire der australischen Aborigines im Vergleich zu Völkern anderer Kontinente zum Teil auf die Auswir­kungen, die Isolation und geringe Bevölkerungszahl auf die Erfindung und Pflege von Techniken hatten, zurück­gehen könnte – ähnlich wie in Tasmanien, aber in we­niger extremer Form. Daraus läßt sich folgern, daß die gleichen Faktoren womöglich auch zu den Unterschieden im technischen Entwicklungsstand zwischen dem größten Kontinent (Eurasien) und den nächstkleineren (Afrika, Nordamerika, Südamerika) beitrugen.

Warum erreichten Australien keine höher entwickelten Techniken von seinen Nachbarn Indonesien und Neu­guinea? Indonesien war von Nordwestaustralien durch das Meer getrennt und unterschied sich ökologisch sehr stark. Hinzu kommt, daß in Indonesien bis vor wenigen tausend Jahren in kultureller und technischer Hinsicht ebenfalls Stagnation herrschte. So deutet nichts darauf hin, daß nach der anfänglichen Besiedlung Australi­ens vor 40 000 Jahren auch nur eine einzige neue Tech­nik oder Pflanzen- oder Tierart von Indonesien nach Australien gelangte, bis um 1500 v. Chr. der Dingo auf­tauchte.

Der Dingo kam auf dem Höhepunkt der austronesi­schen Expansion von Südchina über Indonesien nach Australien. Den Austronesiern gelang die Besiedlung sämtlicher indonesischer Inseln einschließlich der bei­den Australien am nächsten gelegenen – Timor und Ta­nimbar (Entfernung vom heutigen Australien: nur etwa 440 km beziehungsweise 330 km). Da die Austronesier bei ihrer Eroberung der südpazifischen Inselwelt sehr viel größere Entfernungen über das Wasser zurücklegten, müßten wir, auch wenn es den Dingo nicht als Beweis gäbe, davon ausgehen, daß sie wiederholt an Australiens Küsten landeten. In den letzten Jahrhunderten erhielt Nordwestaustralien jedes Jahr Besuch von Segelkanus aus dem Gebiet von Makassar auf der indonesischen In­sel Sulawesi (Celebes), bis die australische Regierung die­se Kontakte im Jahr 1907 unterband. Anhand archäolo­gischer Funde lassen sich die Besuche bis um 1000 n. Chr. zurückverfolgen, aber sie können auch schon viel früher begonnen haben. Hauptzweck dieser Reisen war die Be­schaffung von Seegurken (auch Trepang genannt); die mit dem Seestern verwandten Meerestiere wurden von Makassar aus nach China exportiert und dort wegen ih­rer vermeintlichen aphrodisischen Wirkung und ihres Wohlgeschmacks als Suppeneinlage geschätzt.

Natürlich hinterließ der Handel, der sich bei den jähr­lichen Besuchen aus Makassar entwickelte, in Nordwest­australien zahlreiche Spuren. So pflanzten die Makas­saren an ihren Lagerstellen Tamarindenbäume und zeugten Kinder mit Aborigines-Frauen. Tuche, Metall­werkzeuge, Töpferwaren und Glas kamen als Handels­ware nach Australien; allerdings lernten die Aborigines nie, diese Dinge selbst herzustellen. Sie übernahmen von den Makassaren einige Lehnwörter, Zeremonien und den Bau von Einbaumkanus mit Segeln sowie das Pfei­ferauchen.

Doch keiner dieser Einflüsse veränderte den grundle­genden Charakter der australischen Gesellschaft. Wich­tiger als das, was durch die Besuche der Makassaren ge­schah, war das, was nicht geschah. Die Makassaren lie­ßen sich nicht dauerhaft in Australien nieder, was sicher daran lag, daß der Teil Nordwestaustraliens, der Indo­nesien am nächsten liegt, für ihre Form der Landwirt­schaft viel zu trocken war. Wären die tropischen Regen­wälder und Savannen Nordostaustraliens Indonesien am nächsten gewesen, so hätten die Makassaren dort siedeln können, doch es spricht nichts dafür, daß sie je so weit fuhren. Da die Makassaren nur in kleiner Zahl kamen, nie sehr lange blieben und nicht ins Inland vordrangen, beschränkten sich ihre Kontakte auf wenige Gruppen von Australiern, die sie an einem kurzen Abschnitt der Küste antrafen. Selbst diese wenigen Aborigines lernten nur einen kleinen Ausschnitt der makassischen Kultur und Technik kennen, nicht aber deren ganze Bandbrei­te mit Reisfeldern, Schweinen, Dörfern und Werkstätten. Da die Australier die nomadische Jagd- und Sammelwirt­schaft beibehielten, eigneten sie sich nur die wenigen Ge­genstände und Bräuche der Makassaren an, die zu ihrer Lebensweise paßten. Pfeifen und Einbaumkanus mit Se­geln: ja, Schmiedeöfen und Schweine: nein.

Noch verblüffender als der schwache indonesische Ein­fluß auf die Australier erscheint der geringe Einfluß Neu­guineas. Auf der neuguineischen Seite der schmalen Tor­resstraße lebten neuguineische Bauern, die neuguinei­sche Sprachen sprachen und Schweine, Töpferwaren und Pfeil und Bogen besaßen; am anderen Ufer lebten au­stralische Jäger und Sammler mit australischen Sprachen, die weder Schweine noch Töpferwaren oder Pfeil und Bogen besaßen. Dabei ist die Torresstraße keine breite geschlossene Wasserfläche, sondern mit Inseln übersät, von denen die größte, Muralug, nur 15 Kilometer von der australischen Küste entfernt liegt. Regelmäßige Han­delskontakte verbanden Australien mit den Inseln und die Inseln mit Neuguinea. Zahlreiche Aborigines-Frau­en kamen als Ehefrauen auf die Insel Muralug, wo sie Gärten sahen und Pfeil und Bogen kennenlernten. Wie kam es, daß diese Errungenschaften der neuguineischen Kultur nicht den Weg nach Australien fanden?

Daß die Torresstraße eine kulturelle Barriere darstell­te, ist nur verwunderlich, wenn man sich fälschlicher­weise eine voll entwickelte neuguineische Gesellschaft mit Schweinen und intensiver Landwirtschaft 15 Kilo­meter vor der australischen Küste vorstellt. Die Reali­tät sah anders aus. Die Aborigines von Kap York beka­men niemals einen Neuguineer vom Festland zu Ge­sicht. Handel wurde statt dessen zwischen Neuguinea und den dicht vor der neuguineischen Küste gelegenen Inseln getrieben, dann zwischen diesen Inseln und der Insel Mabuiag in der Mitte der Torresstraße, weiter zwi­schen Mabuiag und der etwas näher an Australien ge­legenen Insel Badu, von dort mit Muralug und schließ­lich zwischen Muralug und Kap York.

Von jeder Insel zur nächsten wurde die neuguineische Kultur etwas mehr verwässert. Schweine waren auf den meisten Inseln nur vereinzelt oder gar nicht anzutref­fen. Die Bewohner des Küstentieflands im Süden Neu­guineas trieben keine intensive Landwirtschaft wie die Hochlandbewohner, sondern lebten von Brandrodungs­feldbau, ergänzt durch Fischfang, Jagen und Sammeln. Auf dem Weg vom Süden Neuguineas nach Australien verlor selbst der Brandrodungsfeldbau von Insel zu Insel an Bedeutung. Muralug, die Australien am nächsten ge­legene Insel, war trocken, für landwirtschaftliche Zwecke kaum geeignet und nur spärlich besiedelt. Ihre weni­gen Bewohner ernährten sich vor allem von Fisch, wil­den Jamswurzeln und Mangrovenfrüchten.

Was an der Torresstraße, der Nahtstelle zwischen Neu­guinea und Australien, geschah, erinnert an das Kin­derspiel »Stille Post«, bei dem die Mitspieler einen Kreis bilden und das erste Kind seinem Nachbarn ein Wort ins Ohr flüstert, das wiederum das, was es gehört zu ha­ben glaubt, dem nächsten Kind zuflüstert, bis schließ­lich das letzte dem ersten Kind etwas ins Ohr flüstert, das zur Belustigung aller mit demursprünglichen Wort kaum noch Ähnlichkeit hat. Auf die gleiche Weise wies auch das, was schließlich bei den Aborigines von Kap York ankam, nur noch eine schwache Ähnlichkeit mit der neuguineischen Kultur auf. Man darf sich die Be­ziehungen zwischen den Bewohnern Muralugs und Kap Yorks auch nicht als Zustand dauernder Harmonie vor­stellen, so als ob die Aborigines stets eifrig bemüht ge­wesen wären, bei ihren insulanischen Lehrern Nach­hilfeunterricht in Kultur zu nehmen. Vielmehr gab es einen häufigen Wechsel zwischen friedlichem Handel und kriegerischen Auseinandersetzungen zum Zweck der Kopfjagd und des Frauenraubs.

Trotz der Verwässerung der neuguineischen Kultur durch Entfernung und Kriege gelangten einige Einflüsse aus Neuguinea nach Australien. Durch Mischehen fan­den körperliche Merkmale von Neuguineern, wie krau­ses im Gegensatz zu glattem Haar, den Weg auf die Kap-York-Halbinsel. Vier Kap-York-Sprachen enthielten für Australien ungewöhnliche Phoneme, was auf den Einfluß neuguineischer Sprachen zurückgehen könnte. Die wich­tigsten Importe aus Neuguinea waren Angelhaken aus Muschelschale, die sich bis weit nach Australien hinein verbreiteten, sowie neuguineische Auslegerkanus, die an den Küsten der Kap-York-Halbinsel in Gebrauch kamen. Neuguineische Trommeln, rituelle Masken, Begräbnis­pfähle und Pfeifen wurden von den Bewohnern von Kap York ebenfalls übernommen, nicht aber die Landwirt­schaft, was sicher zum Teil daran lag, daß das, was sie auf Muralug sahen, nicht sehr eindrucksvoll war. Auch die Schweinezucht schaffte nicht den Sprung über die Torresstraße – erstens gab es auf den Inseln keine oder nur wenige Schweine, und zweitens hätte es der Land­wirtschaft bedurft, um sie mästen zu können. Pfeil und Bogen wurden ebenfalls nicht übernommen; die Abori­gines bevorzugten weiter Speere und Speerschleudern.

Australien ist groß, Neuguinea aber auch. Die Kontak­te zwischen den beiden Landmassen beschränkten sich jedoch auf wenige Gruppen von Torres-Insulanern mit einer Kultur, die nur ein schwacher Abglanz der neu­guineischen war, und eine kleine Zahl von Kap-York-Aborigines. Die Entscheidung der Australier, aus wel­chen Gründen auch immer weiter Speere statt Pfeil und Bogen zu verwenden und auch manch andere neuguine­ische Kulturgüter, die sie in abgeschwächter Form ken­nenlernten, nicht zu übernehmen, verhinderte die Ein­führung dieser kulturellen Errungenschaften im ganzen übrigen Australien. So kam es, daß lediglich Angelhaken aus Muschelschale in Australien größere Verbreitung er­langten. Hätte die Hunderttausende zählende bäuerliche Bevölkerung im kühlen neuguineischen Hochland engen Kontakt mit den Aborigines im kühlen Hochland des australischen Südostens unterhalten, so wäre ein umfas­sender Transfer von Intensivlandwirtschaft und neugui­neischer Kultur nicht unwahrscheinlich gewesen. Zwi­schen den Hochlandregionen Neuguineas und Austra­liens liegt jedoch eine Entfernung von 3500 Kilometern mit ökologisch völlig andersartigen Landschafts räumen. Für die Australier war deshalb die Chance, Kulturgü­ter des neuguineischen Hochlands kennenzulernen und sich anzueignen, ungefähr so groß, als wenn sie dafür zum Mond hätten fliegen müssen.

Kurzum, das Fortbestehen einer steinzeitlichen Kul­tur nomadischer Jäger und Sammler in Australien, die im Handelsaustausch mit steinzeitlichen neuguineischen und eisenzeitlichen indonesischen Bauern standen, rückt die Aborigines auf den ersten Blick in ein extrem fort­schrittsfeindliches Licht. Bei näherer Betrachtung finden wir darin aber lediglich eine Bestätigung für die über­ragende Bedeutung, die der Geographie bei der Wei­tergabe kultureller und technischer Errungenschaften zukommt.

Was in unserer Betrachtung noch fehlt, sind die Begeg­nungen der steinzeitlichen Gesellschaften Neuguineas und Australiens mit eisenzeitlichen Europäern. Ein portugiesischer Seefahrer »entdeckte« Neuguinea im Jahr 1526. Holland erhob 1828 Anspruch auf die west­liche Hälfte, England und das Deutsche Reich teilten 1884 die östliche Hälfte untereinander auf. Die ersten Europäer, die als Siedler kamen, ließen sich an der Kü­ste nieder, und es verging viel Zeit, bevor sie ins Lande­sinnere vordrangen. Bis 1960 hatten europäische Regie­rungen jedoch die meisten Neuguineer unter ihre poli­tische Herrschaft gebracht.

Die Gründe, warum Neuguinea zur Kolonie Europas wurde und nicht umgekehrt, liegen auf der Hand. Es waren die Europäer, die seetüchtige Schiffe und Kom­passe besaßen, um die Überfahrt nach Neuguinea zu meistern; sie verfügten über Schriftsysteme und Druckerpressen zur Anfertigung von Karten, Berichten und bürokratischen Unterlagen, die bei der Errichtung ihrer Herrschaft über Neuguinea von Nutzen waren; sie be­saßen die politischen Institutionen, um Schiffe, Solda­ten und Verwaltung zu organisieren, und die Gewehre, um den Widerstand von Neuguineern zu brechen, die ihnen mit Keulen und Pfeil und Bogen entgegentraten. Die Zahl europäischer Siedler war jedoch nie sehr groß, mit der Folge, daß Neuguinea noch heute hauptsächlich von Neuguineern bewohnt wird. Ganz anders stellt sich die Situation in Australien, Nord- und Südamerika und Südafrika dar, wo die europäischen Siedler in großen Scharen kamen und die Völker, die vor ihnen dort wa­ren, weitgehend verdrängten. Warum geschah das glei­che nicht in Neuguinea?

Ein wichtiger Faktor, der alle Versuche von Europä­ern, das neuguineische Tiefland zu besiedeln, bis etwa 1880 vereitelte, waren Malaria und andere Tropenkrank­heiten, von denen jedoch keine zu den in Kapitel 10 er­örterten typischen Infektionskrankheiten großer Men­schenmassen gehörte. Das ehrgeizigste aller gescheiter­ten Siedlungsvorhaben, das ein Franzose, der Marquis de Rays, auf der Nachbarinsel Neuirland organisierte, endete in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts da­mit, daß 930 der 1000 angetretenen Kolonisten inner­halb von drei Jahren ums Leben kamen. Trotz der mo­dernen medizinischen Behandlungsmethoden, die heute zur Verfügung stehen, mußten viele meiner amerikani­schen und europäischen Bekannten Neuguinea vorzei­tig wegen Malaria, Hepatitis oder anderer Krankheiten verlassen, und auch von mir hat Neuguinea gesundheit­lichen Tribut in Form von einem Jahr Malaria und ei­nem Jahr Ruhr gefordert.

Warum wurden Neuguineer nicht ebenso von eura­sischen Krankheitserregern niedergestreckt wie umge­kehrt Europäer von denen des neuguineischen Tieflands? Zwar erkrankten einige Neuguineer an eingeschlepp­ten Krankheiten, aber das war nichts im Vergleich zu den Epidemien, von denen die Urbevölkerungen Au­straliens und Amerikas weitgehend ausgelöscht wurden. Die Neuguineer hatten insofern Glück, als auf ihrer In­sel vor 1880 keine permanenten europäischen Siedlun­gen entstanden, und zu diesem Zeitpunkt waren Pocken und andere europäische Infektionskrankheiten durch den medizinischen Fortschritt bereits weitgehend un­ter Kontrolle gebracht. Hinzu kommt, daß im Zuge der austronesischen Expansion schon seit 3500 Jahren ein Strom von indonesischen Siedlern und Händlern nach Neuguinea gekommen war. Da Infektionskrankheiten des asiatischen Festlands in Indonesien fest etabliert wa­ren, hatten auf diese Weise auch die Neuguineer schon lange Kontakt mit eurasischen Krankheitserregern ge­habt und konnten viel stärkere Abwehrkräfte gegen sie entwickeln als die australischen Aborigines.

Der einzige Teil Neuguineas, in dem Europäer ohne ernste gesundheitliche Probleme leben können, ist das Hochland oberhalb der Malariagrenze. In diese bereits von Neuguineern dicht besiedelte Region drangen Euro­päer jedoch erst in den 30er Jahren dieses Jahrhunderts vor, als es nicht mehr der Politik der australischen und niederländischen Kolonialregierungen entsprach, durch massenhafte Tötung oder Vertreibung der Urbevölke­rungen Land für weiße Siedler »freizumachen«, wie es in früheren Jahrhunderten des europäischen Kolonia­lismus immer wieder geschehen war.

Ein weiteres Hindernis für europäische Siedler be­stand darin, daß ihre Anbaupflanzen, ihr Vieh und ihre gewohnte Art der Landwirtschaft für das Klima und die Umweltbedingungen Neuguineas schlecht geeignet waren. Während importierte Kulturpflanzen aus den amerikanischen Tropen, wie Kürbis, Mais und Toma­te, inzwischen in bescheidenem Umfang angebaut wer­den und auch Tee- und Kaffeeplantagen aus dem Hoch­land von Papua-Neuguinea nicht mehr wegzudenken sind, konnten europäische Grundnahrungsmittel wie Weizen, Gerste und Erbsen dort nie Fuß fassen. Mitge­brachte Kühe und Ziegen, die in kleiner Zahl gehalten wurden, litten wie die Europäer selbst an Tropenkrank­heiten. Noch heute wird die Landwirtschaft in Neugui­nea von eben jenen Anbaupflanzen und -methoden be­herrscht, die im Laufe der Jahrtausende von den Neu­guineern perfektioniert wurden.

All diese Probleme mit Krankheiten, der Unwegsam­keit des Terrains und der Nahrungsversorgung trugen dazu bei, daß die Europäer den östlichen Teil Neugui­neas (den heutigen unabhängigen Staat Papua-Neugui­nea) verließen; bewohnt und regiert wird Papua-Neugui­nea jetzt von Neuguineern, die aber Englisch als Amts­sprache verwenden, mit dem Alphabet schreiben, unter demokratischen politischen Institutionen leben, die sich an denen Englands orientieren, und mit importierten Gewehren auf die Jagd gehen. Ganz anders kam es im westlichen Teil Neuguineas, den 1963 Indonesien von Holland übernahm und sich später als Provinz Irian Jaya eingliederte. Heute wird die Provinz von Indone­siern – und im Interesse von Indonesiern – verwaltet. Die ländliche Bevölkerung besteht immer noch in der großen Mehrzahl aus Neuguineern, doch in den Städ­ten leben, bedingt durch die Zuwanderungsprogramme der indonesischen Regierung, vor allem Indonesier. We­gen ihrer langen Bekanntschaft mit Malaria und ande­ren tropischen Krankheiten, die sie mit den Neuguine­ern teilen, gibt es für die Indonesier keine ähnlich wirk­same Krankheitsbarriere wie für Europäer. Zudem sind die Zuwanderer aus Indonesien besser darauf vorberei­tet, sich in Neuguinea mit Nahrung zu versorgen, da sie mit Bananen, Süßkartoffeln und anderen wichtigen An­baugewächsen der neuguineischen Landwirtschaft von ihrer Heimat her vertraut sind. Was sich heute in Irian Jaya abspielt, ist die Fortsetzung der austronesischen Ex­pansion, die Neuguinea vor 3500 Jahren erreichte und die heute mit der geballten Kraft eines zentralistischen Staatswesens vorangetrieben wird. Schließlich sind die Indonesier nichts anderes als moderne Austronesier.

Aus den gleichen Gründen, die ich eben für Neugui­nea skizziert habe, wurde Australien von Europa kolo­nisiert und nicht umgekehrt. Die Schicksale der Neu­guineer und der australischen Aborigines waren jedoch sehr unterschiedlich. Australien wird heute von 20 Mil­lionen Nichtaborigines bewohnt und regiert. Die mei­sten von ihnen sind europäischer Abstammung; seit Australien 1973 seine Politik des »White Australia« auf­gab, kommen zunehmend auch Einwanderer aus Asi­en ins Land. Die Aborigines-Bevölkerung schrumpfte dagegen um 80 Prozent: von rund 300 000 zu Beginn der europäischen Besiedlung auf einen Tiefstand von 60 000 im Jahr 1921. Heute bilden die Aborigines die unterste Schicht der australischen Gesellschaft. Viele leben in Missionsstationen oder Reservaten. Oder sie arbeiten als Viehhirten für weiße Farmer. Wie kam es, daß die Aborigines ein so viel schlechteres Los traf als die Neuguineer?

Der Hauptgrund war die Eignung einiger Gebiete Au­straliens für Ackerbau und Viehzucht nach europäischem Muster sowie für die Besiedlung durch Europäer; hinzu kam die Wirksamkeit europäischer Schußwaffen, Krank­heitserreger und Techniken bei der Vertreibung der Abo­rigines aus Gebieten, die von den Europäern beansprucht wurden. Ich hatte zuvor auf das ungünstige Klima und die schlechten Böden Australiens hingewiesen; die frucht­barsten Regionen des Kontinents sind indes für die land­wirtschaftliche Nutzung im europäischen Stil durchaus geeignet. Heute überwiegen in der gemäßigten Klimazo­ne Australiens die europäischen Kulturpflanzen Weizen (das führende Anbaugewächs Australiens), Gerste, Hafer, Äpfel und Weinbeeren sowie Sorghum und Baumwolle aus der afrikanischen Sahelzone und Kartoffeln aus den Anden. In den tropischen Regionen im Nordosten Au­straliens (Queensland), die für Anbaupflanzen vordera­siatischen Ursprungs keine günstigen Bedingungen bie­ten, führten europäische Bauern Zuckerrohr aus Neu­guinea, Bananen und Zitrusfrüchte aus Südostasien und Erdnüsse aus den südamerikanischen Tropen ein. Eurasi­sche Schafe ermöglichten die Ausdehnung der Landwirt­schaft auch auf Trockengebiete, die für Ackerbau nicht in Frage kommen, während in feuchteren Gebieten eurasi­sche Rinder neben den Äckern weiden.

Somit mußte die Entstehung der Landwirtschaft in Australien auf die Ankunft fremder Anbaupflanzen und Tiere warten, domestiziert in Regionen mit ähnlichen klimatischen Verhältnissen. Diese lagen zu weit entfernt, als daß ihre Pflanzen und Tiere nach Australien hätten gelangen können, bevor sie im Bauch großer Schif­fe dorthin gebracht wurden. Anders als in Neuguinea gab es in den meisten Teilen Australiens keine Krank­heiten, die gefährlich genug waren, um Europäer fernzu­halten. Nur im tropischen Norden des Kontinents zwan­gen Malaria und andere Tropenkrankheiten Europäer im 19. Jahrhundert zur Aufgabe von Siedlungsversuchen – sie gelangen erst im 20. Jahrhundert nach Fortschrit­ten in der Medizin.

Daß die Aborigines den Europäern und ihrer Land­wirtschaft im Wege standen, resultiert schon daraus, daß die für Ackerbau und Viehzucht am besten geeigneten Gebiete zunächst auch die dichtesten Populationen ein­heimischer Jäger und Sammler beherbergten. Im Zuge der Ansiedlung von Europäern wurde ihre Zahl auf zwei­erlei Weise dezimiert. Zum einen erschoß man sie in gro­ßer Zahl, was im 19. und späten 18. Jahrhundert weniger Anstoß erregte als in den 30er Jahren dieses Jahrhun­derts, als Europäer in das neuguineische Hochland vor­drangen. Das letzte größere Massaker, bei dem 31 Abori­gines umgebracht wurden, ereignete sich 1928 bei Alice Springs. Die zweite Methode war das Einschleppen von Krankheiten, gegen die Aborigines keine Immunität oder erblichen Abwehrkräfte besaßen. Innerhalb eines Jahres nach dem Eintreffen der ersten europäischen Siedler in Sydney im Jahr 1788 wurden die Leichen von Aborigi­nes, die an Krankheitsepidemien gestorben waren, zum alltäglichen Anblick. Die meisten Opfer forderten Pocken, Grippe, Masern, Typhus, Fleckfieber, Windpocken, Keuchhusten, Tuberkulose und Syphilis.

Auf diese Weise verschwanden eigenständige Aborigi­nes-Gesellschaften in sämtlichen für europäische Land­wirtschaft geeigneten Gebieten. Mehr oder weniger in­takt konnten nur jene Gesellschaften überleben, die in Gebieten im Norden und Westen Australiens beheima­tet waren, die Europäer als nutzlos erachteten. So wur­den binnen eines Jahrhunderts europäischer Kolonisie­rung Traditionen der Aborigines, die sich in 40 000 Jah­ren entwickelt hatten, größtenteils ausgelöscht.

Kehren wir nun zu der Frage zurück, die am Beginn dieses Kapitels aufgeworfen wurde. Wie, wenn nicht mit der Minderwertigkeit der Aborigines, läßt sich die Tatsache erklären, daß weiße englische Kolonisten of­fenbar ein demokratisches Gemeinwesen mit Schrift, Landwirtschaft und Industrie binnen weniger Jahr­zehnte nach der Besiedlung eines Kontinents schufen, dessen Bewohner nach über 40 000 Jahren immer noch auf der Stufe analphabetischer Jäger und Sammler stan­den? Handelt es sich nicht um ein perfekt kontrolliertes Experiment zur Evolution menschlicher Gesellschaften, dessen Ergebnis nur eine einzige, nämlich rassistische Interpretation zuläßt?

Die Antwort ist einfach. Die weißen englischen Kolo­nisten schufen in Wahrheit gar nicht selbst ein demokra­tisches Gemeinwesen mit Schrift, Landwirtschaft und Industrie in Australien. Vielmehr importierten sie alle Elemente von außen: das Vieh, sämtliche Anbaupflanzen (mit Ausnahme der Macadamianuß), die Metallverar­beitung, Dampfmaschinen, Gewehre, das Alphabet, die politischen Institutionen, ja sogar die Krankheiten. Das alles waren die letzten Glieder in der Kette einer zehntau­sendjährigen Entwicklung in eurasischer Umwelt. Durch puren geographischen Zufall waren die Kolonisten, die 1788 in Sydney landeten, Erben all dieser Dinge. Euro­päer haben nie gelernt, in Australien oder Neuguinea ohne ihre mitgebrachte eurasische Technik zu überle­ben. Robert Burke und William Wills waren zwar klug genug, um zu schreiben, aber sie waren nicht klug ge­nug, um in australischen Wüstengebieten zu überleben, der Heimat von Aborigines.

Nur die Ureinwohner Australiens schufen eine eige­ne Gesellschaft, wenn auch natürlich keine mit Schrift, Landwirtschaft, Industrie und Demokratie. Die Gründe dafür liegen eindeutig in der australischen Umwelt.