KAPITEL 16

Schnellboot nach Polynesien

Die Geschichte der austronesischen Expansion

Für mich persönlich ist die Geschichte der pazifi­schen Inselwelt mit einem Erlebnis verknüpft, das ich hatte, als ich einmal in Begleitung von drei Indo­nesiern einen Laden in Jayapura betrat, der Hauptstadt des indonesischen Teils von Neuguinea. Meine Beglei­ter hießen Achmad, Wiwor und Sauakari, und der In­haber des Geschäfts hieß Ping Wah. Achmad, ein indo­nesischer Beamter, gab sich als Anführer unserer klei­nen Gruppe, da er mit mir zusammen eine ökologische Untersuchung im Auftrag der Regierung durchfüh­ren sollte und Wiwor und Sauakari von uns als loka­le Mitarbeiter angeheuert worden waren. Achmad war jedoch noch nie in seinem Leben in einem neuguinei­schen Bergwald gewesen und hatte keine Ahnung, was man an Vorräten benötigte. Die Situation, die sich ent­spann, entbehrte nicht der Komik.

Als wir den Laden betraten, war Ping Wah gerade da­bei, eine chinesische Zeitung zu lesen. Beim Anblick von Wiwor und Sauakari las er ruhig weiter, doch sobald er Achmad bemerkte, schob er die Zeitung eilig unter den Ladentisch. Achmad hob ein Axtblatt hoch, woraufhin Wiwor und Sauakari losprusteten, weil er es verkehrt herum hielt. Wiwor und Sauakari zeigten ihm, wie man ein Axtblatt richtig hält und seine Qualität prüft. Dann fiel Achmads und Sauakaris Blick auf Wiwors nackte Füße, deren breit gespreizte Zehen kundtaten, daß er sein Leben lang barfuß gegangen war. Sauakari kramte die breitesten Schuhe hervor, die er in dem Laden fin­den konnte, und hielt sie gegen Wiwors Füße, doch sie waren immer noch zu eng, woraufhin Achmad, Saua­kari und Ping Wah in schallendes Gelächter ausbrachen. Achmad nahm aus einem Regal einen Plastikkamm und fuhr sich damit durch sein glattes schwarzes Haar. Dann reichte er Wiwor den Kamm. Als der nur den Versuch machte, sich ebenfalls zu kämmen, blieb der Kamm so­fort in seinem zähen, krausen Haar stecken und brach ab, als Wiwor ein wenig Kraft anwendete. Alle lachten, Wi­wor eingeschlossen. Zur Revanche erinnerte er Achmad daran, nur ja viel Reis einzukaufen, da man in neugui­neischen Bergdörfern keine Lebensmittel außer Süßkar­toffeln kaufen könne, und an denen werde sich Achmad sicher den Magen verderben – noch mehr Heiterkeit.

Bei allem Gelächter spürte ich die Spannungen, die in der Luft lagen. Achmad war Javaner, Ping Wah Chi­nese, Wiwor Hochland-Neuguineer und Sauakari Tief­land-Neuguineer von der Nordküste. Javaner beherr­schen die indonesische Regierung, die in den sechzi­ger Jahren den westlichen Teil Neuguineas annektierte und den Widerstand der Neuguineer mit Bomben und Maschinengewehren niederschlug. Achmad entschloß sich später, in der Stadt zu bleiben und mich mit Wi­wor und Sauakari allein in den Dschungel ziehen zu lassen, um die Untersuchung durchzuführen. Zur Be­gründung verwies er auf sein glattes Haar, das sich so deutlich von dem der Neuguineer unterschied, und er­klärte mir, daß die Einheimischen jeden mit solchem Haar, dem sie fernab der Stützpunkte der Armee begeg­neten, umbringen würden.

Ping Wah hatte seine Zeitung versteckt, weil die Ein­fuhr von Druckmaterial in chinesischer Schrift im indo­nesischen Teil Neuguineas offiziell verboten ist. In gro­ßen Teilen Indonesiens liegt der Handel in den Händen chinesischer Einwanderer. Latente gegenseitige Ängste zwischen den im Wirtschaftsleben dominierenden Chi­nesen und den politisch mächtigen Javanern entluden sich 1966 in blutigen Unruhen, bei denen Javaner Hun­derttausende von Chinesen abschlachteten. Wiwor und Sauakari teilten den Groll der meisten Neuguineer gegen die javanische Diktatur, aber sie verachteten sich auch gegenseitig. Hochlandbewohner blicken auf Tieflandbe­wohner als verweichlichte Sagofresser herab, während sie von diesen umgekehrt mit Hinweis auf ihre Locken­pracht und die ihnen nachgesagte Arroganz für bornier­te »Großköpfe« gehalten werden. Nachdem wir in einem abgelegenen Teil des Dschungels unser Lager aufgeschla­gen hatten, gerieten Wiwor und Sauakari schon nach wenigen Tagen so heftig aneinander, daß sie drauf und dran waren, mit Äxten aufeinander loszugehen.

Spannungen zwischen den verschiedenen Volksgrup­pen, die Achmad, Wiwor, Sauakari und Ping Wah reprä­sentieren, beherrschen das politische Geschehen in In­donesien, dem Land mit der viertgrößten Bevölkerung der Welt. Die Wurzeln dieser Spannungen liegen Tau­sende von Jahren in der Vergangenheit. Meist denken wir bei großen, transozeanischen Völkerverschiebungen an die Ereignisse in Nord- und Südamerika nach der Entdeckungsreise des Kolumbus, sprich die großange­legte Vertreibung und Ausrottung von Nichteuropäern durch Europäer. Es kam aber schon lange vor Kolumbus zu Völkerverschiebungen, bei denen in vorgeschichtli­cher Zeit nichteuropäische Völker andere nichteuropä­ische Völker verdrängten. Wiwor, Achmad und Saua­kari stehen für drei vorgeschichtliche Bevölkerungswel­len, die vom asiatischen Festland in den Pazifik rollten. Die Hochlandbewohner, zu denen Wiwor gehört, sind wahrscheinlich die Nachfahren einer frühen Welle, die vor 40 000 Jahren in der Besiedlung Neuguineas gipfelte. Achmads Vorfahren waren ursprünglich an der südchi­nesischen Küste beheimatet und kamen vor etwa 4000 Jahren nach Java, wo sie die Verdrängung von Völkern vollendeten, die mit Wiwors Vorfahren verwandt waren. Mit der gleichen Welle gelangten Sauakaris Ahnen vor etwa 3600 Jahren von der südchinesischen Küste nach Neuguinea, während Ping Wahs Vorfahren noch heu­te in China leben.

Die Völkerverschiebung, die Achmads und Sauakaris Vorfahren nach Java beziehungsweise Neuguinea brachte, die sogenannte austronesische Expansion, war eine der größten derartigen Bewegungen der letzten 6000 Jah­re. Durch sie wurden unter anderem die entlegensten Inseln des Pazifiks von den Polynesiern besiedelt, den größten Seefahrern unter den Völkern der Jungsteinzeit. Austronesische Sprachen werden heute von Madagaskar bis zur Osterinsel – das entspricht mehr als der Hälf­te des Erdumfangs – als Muttersprache gesprochen. In diesem Buch, das von Völkerverschiebungen seit dem Ende des Eiszeitalters handelt, spielt die austronesische Expansion eine zentrale Rolle als eines der wichtigsten Phänomene, die einer Erklärung bedürfen. Warum be­siedelten austronesische Völker, die ursprünglich vom chinesischen Festland stammten, Java und die anderen Inseln Indonesiens, um dort ältere Bewohner zu ver­drängen, und warum besiedelten nicht umgekehrt In­donesier China und verdrängten die Chinesen? Warum waren die Austronesier nach der Eroberung ganz Indo­nesiens nicht in der Lage, mehr als einen schmalen Kü­stenstreifen des neuguineischen Tieflands in Besitz zu nehmen, und warum war es für sie völlig unmöglich, Wiwors Volk im neuguineischen Hochland zu verdrän­gen? Wie wurden die Nachfahren chinesischer Einwan­derer zu Polynesiern?

Heute ist die Bevölkerung Javas, der meisten anderen indonesischen Inseln (mit Ausnahme der östlichsten) und der Philippinen relativ homogen. Vom Aussehen her und genetisch ähneln die Bewohner dieser Inseln den Südchinesen und stärker noch den Südostasiaten, insbesondere den Bewohnern der Malaiischen Halb­insel. Nicht minder homogen sind ihre Sprachen: Auf den Philippinen und im westlichen und mittleren Teil Indonesiens werden zwar nicht weniger als 374 Spra­chen gesprochen, doch alle sind eng miteinander ver­wandt und gehören zur gleichen Unter-Untergruppe (westliche malaiopolynesische Sprachen) der austro­nesischen Sprachfamilie. Auf dem asiatischen Festland leben Sprecher austronesischer Sprachen auf der Ma­laiischen Halbinsel und in kleinen Gebieten in Viet­nam und Kambodscha nahe den westlichsten indone­sischen Inseln Sumatra und Borneo; daneben werden sie auf dem Festland jedoch nirgendwo gesprochen (sie­he Abbildung 16.1). Eine Reihe austronesischer Wörter hat Eingang in europäische Sprachen gefunden, zum Beispiel »Tabu« und »Tattoo« (aus einer polynesischen Sprache) und »Amok«, »Batik« und »Orang-Utan« (aus dem Malaiischen).

Die genetische und sprachliche Uniformität Indone­siens und der Philippinen ist zunächst ebenso überra­schend wie die weitgehende sprachliche Uniformität Chi­nas. Der berühmte javanische Homo erectus beweist, daß zumindest der westliche Teil Indonesiens seit einer Million Jahren von Menschen bewohnt ist. Diese lan­ge Zeitspanne sollte den Bewohnern genügt haben, um sich genetisch und sprachlich zu differenzieren und sich an die tropischen Bedingungen anzupassen, doch statt dessen sind Indonesier und Filipinos hellhäutig.

Überraschend ist auch, daß Indonesier und Filipinos neben ihrer Hellhäutigkeit und genetischen Verwandt­schaft mit Südostasiaten und Südchinesen diesen noch in anderer Hinsicht physisch stark ähneln. Ein Blick auf die Landkarte zeigt, daß Indonesien die einzige mögli che Route darstellte, über die Menschen vor 40 000 Jah­ren nach Neuguinea und Australien gelangen konnten, so daß man eigentlich eine Ähnlichkeit der modernen Indonesier mit den modernen Neuguineern und Austra­liern erwartet hätte. In Wirklichkeit gibt es aber nur we­nige Populationen auf den Philippinen und im westli­chen Indonesien, die Ähnlichkeit mit den Bewohnern Neuguineas haben; hierzu zählen insbesondere die phil­ippinischen Negritos, die in abgelegenen Bergregionen leben. Bei ihnen könnte es sich – wie bei den drei ande­ren in Kapitel 15 erwähnten Populationen, die Ähnlich­keiten mit den Neuguineern aufweisen – um Überreste der Vorfahren von Wiwors Volk aus der Zeit vor der Be­siedlung Neuguineas handeln. Selbst diese Negritos spre­chen austronesische Sprachen, die denen ihrer philippi­nischen Nachbarn ähneln, was vermuten läßt, daß auch ihnen (wie den Semang in Malaysia und den Pygmäen in Afrika) ihre ursprüngliche Sprache abhanden kam.

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Abbildung 16.1 Die austronesische Sprachfamilie besteht aus vier Untergruppen, von denen drei auf Taiwan beschränkt sind und eine (die malaiopolynesische) ein sehr großes Verbreitungs­gebiet hat. Die malaiopolynesische Untergruppe besteht ihrer­seits aus zwei Unter-Untergruppen, den westlichen (W M–P) und den östlichen (Ö M–P) malaiopolynesischen Sprachen. Letztere werden in vier Unter-Unter-Untergruppen eingeteilt, die sehr weit verbreitete ozeanische im Osten und drei weitere im Westen mit einem wesentlich kleineren Verbreitungsgebiet, bestehend aus Halmahera, nahe gelegenen ostindonesischen Inseln und der Westseite von Neuguinea.

Das alles spricht dafür, daß Indonesien und die Phi­lippinen in jüngerer Vergangenheit entweder von süd­ostasiatischen oder südchinesischen Sprechern austro­nesischer Sprachen besiedelt wurden. Dabei mußten die vorherigen Bewohner mit Ausnahme der philippinischen Negritos weichen – und ihre Sprachen mit ihnen. Dieses Geschehen liegt offenbar nicht weit genug in der Ver­gangenheit, daß die Neuankömmlinge genug Zeit gehabt hätten, um dunkelhäutig zu werden und eigene Sprach­familien oder gar charakteristische genetische Merkma­le zu entwickeln oder sich genetisch zu differenzieren. Zwar ist die Zahl ihrer Sprachen im Vergleich zu den acht vorherrschenden Sprachen des chinesischen Fest­lands gewaltig, sie unterscheiden sich jedoch wie diese nicht sehr stark voneinander. Daß auf den Philippinen und in Indonesien so zahlreiche ähnliche Sprachen ent­stehen konnten, zeugt lediglich davon, daß die Inseln im Gegensatz zu China nie eine politische und kulturelle Einigung erfuhren.

Die Verbreitungsgebiete der verschiedenen Sprachen geben interessante Hinweise auf den geographischen Verlauf der vermuteten austronesischen Expansion. Ins­gesamt gehören zur austronesischen Sprachfamilie 959 Sprachen, die in vier Untergruppen eingeteilt werden. Eine davon, die malaiopolynesische, umfaßt bereits 945 der 959 Sprachen und erstreckt sich geographisch über fast das gesamte Verbreitungsgebiet der austronesischen Sprachfamilie. Bevor europäische Sprecher indogerma­nischer Sprachen vor wenigen Jahrhunderten nach Über­see aufbrachen, war die austronesische Sprachfamilie weltweit am stärksten verbreitet. Das läßt den Schluß zu, daß die malaiopolynesische Untergruppe sich erst vor relativ kurzer Zeit aus der austronesischen Sprachfami­lie herausbildete und sich weit entfernt von der austro­nesischen Urheimat ausbreitete, wobei zahlreiche lokale Sprachen entstanden, die alle eng miteinander verwandt sind, weil zuwenig Zeit verging, um große Unterschiede entstehen zu lassen. Die geographische Heimat der au­stronesischen Sprachfamilie sollte deshalb nicht im Ver­breitungsgebiet der malaiopolynesischen, sondern der drei anderen austronesischen Untergruppen gesucht wer­den, die sich weit stärker voneinander und vom Mala­iopolynesischen unterscheiden, als dies bei den Unter-Untergruppen des Malaiopolynesischen untereinander der Fall ist.

Bemerkenswerterweise haben die drei anderen Un­tergruppen fast genau das gleiche Verbreitungsgebiet, das noch dazu verglichen mit dem der malaiopolyne­sischen Untergruppe winzig klein ist. Alle drei werden ausschließlich von Ureinwohnern Taiwans gesprochen, einer nur etwa 150 Kilometer vor der Küste Südchinas gelegenen Insel. Die Ur-Taiwanesen hatten ihre Insel weitgehend für sich, bis Chinesen vom Festland inner­halb der letzten tausend Jahre in großer Zahl überzusie­deln begannen. Nach 1945 und besonders nach dem Sieg der Kommunisten über Chiang Kaisheks Nationalisten schwoll der Strom weiter an, was inzwischen dazu ge­führt hat, daß die Ureinwohner nur noch eine Minder­heit von zwei Prozent der Bevölkerung bilden. Das ge­häufte Vorkommen von drei der vier Untergruppen der austronesischen Sprachfamilie in Taiwan läßt vermuten, daß die Insel die gesuchte Urheimat ist, in der austro­nesische Sprachen am längsten gesprochen wurden und folglich am meisten Zeit zur Differenzierung hatten. Alle anderen austronesischen Sprachen, von denen Madagas­kars bis hin zu den Sprachen der Osterinsulaner, wären demnach auf eine Bevölkerungsexpansion zurückzufüh­ren, deren Ursprungsort auf Taiwan lag.

Schauen wir nun, welche Erkenntnisse die Archäologie für uns bereithält. In den Überresten vorgeschichtlicher Dörfer findet man zwar neben Knochen und Töpfer­waren keine versteinerten Wörter, sie geben aber den­noch Auskunft über Bewegungen von Völkern und kul­turellen Artefakten, die mit Sprachen im Zusammen­hang stehen könnten. Wie die übrige Welt war auch der größte Teil des heutigen austronesischen Sprachraums – Taiwan, Philippinen, Indonesien und zahlreiche Pa­zifikinseln – ursprünglich von Jägern und Sammlern bevölkert, die weder Töpferwaren noch geschliffene Steinwerkzeuge, Haustiere oder Anbaupflanzen kann­ten. (Ausnahmen bildeten lediglich Madagaskar, der östliche Teil Melanesiens, Polynesien und Mikronesien, wohin Jäger und Sammler niemals vordrangen und die erst nach Beginn der austronesischen Expansion von Menschen in Besitz genommen wurden.) Die ersten ar­chäologischen Hinweise auf Veränderungen innerhalb »Austronesiens« kommen aus – Taiwan. Etwa ab dem 4. Jahrtausend v. Chr. tauchte ein unverwechselbarer Ke­ramikstil, der als Ta­p’en­k’eng bezeichnet wird und auf einen älteren Stil des südchinesischen Festlands zu­rückgeht, auf Taiwan und an der gegenüberliegenden Küste Südchinas auf. Überreste von Reis und Hirse, die an etwas jüngeren Fundstätten auf Taiwan zum Vor­schein kamen, deuten darauf hin, daß Landwirtschaft betrieben wurde.

Die Ta­p’en­k’eng-Fundstätten auf Taiwan und an der südchinesischen Küste sind übersät mit Fischgräten und Schalen von Weichtieren sowie steinernen Netzgewich­ten und Dechseln zum Aushöhlen von Kanus. Offenbar besaßen jene ersten neolithischen Bewohner Taiwans Boote, die zum Fischfang auf hoher See und zur regel­mäßigen Überquerung der Formosastraße zwischen Tai­wan und dem Festland taugten. Vielleicht war die For­mosastraße das Übungsrevier, in dem Festlandchinesen die nautischen Fähigkeiten erwarben, die ihnen später die Eroberung des Pazifiks ermöglichen sollten.

Eine spezielle Sorte von Artefakten, die ein Binde­glied zwischen Taiwans Ta­p’en­k’eng-Kultur und spä­teren Kulturen der pazifischen Inselwelt darstellt, ist der Rindenklopfer, ein Gerät aus Stein zum Zerdrücken der faserigen Rinde bestimmter Baumarten, um daraus Taue, Netze und Kleidung herzustellen. Nachdem die Pazifickolonisten das Verbreitungsgebiet von Faserpflanzen und Haustieren, die Wolle lieferten, hinter sich gelassen hat­ten, mußten sie sich mit Kleidung aus Baumrinde be­helfen. Bewohner von Rennell, einer polynesischen In­sel, auf der westliche Sitten und Errungenschaften erst in den 30er Jahren dieses Jahrhunderts Einzug hielten, erzählten mir von einer wunderbaren Nebenwirkung des Einbruchs der neuen Zeit: Endlich wurde es ruhig auf der Insel. Der Lärm der Rindenklopfer, der bis dahin täglich vom Morgengrauen bis nach Einbruch der Dun­kelheit über der Insel gelegen hatte, verstummte!

Archäologische Indizien zeigen, daß innerhalb von rund tausend Jahren nach dem Eintreffen der Ta­p’en­k’eng-Kultur auf Taiwan Kulturen, bei denen es sich of­fensichtlich um deren Ableger handelte, von Taiwan aus immer weiter vordrangen und damit begannen, den heu­tigen austronesischen Sprachraum zu besiedeln (Abbil­dung 16.2). Zu diesen Indizien zählen geschliffene Stein­werkzeuge, Töpferwaren, Knochen von Hausschweinen und Überreste von Nutzpflanzen. So wich beispielswei­se die verzierte Ta­p’en­k’eng-Keramik auf Taiwan einer unverzierten roten Keramik, die auch an Fundstätten auf den Philippinen und auf den indonesischen Inseln Celebes und Timor angetroffen wurde. Das »Kulturbün­del« aus Töpferei, Steinwerkzeugen und domestizierten Pflanzen und Tieren tauchte um 3000 v. Chr. auf den Philippinen, um 2500 v. Chr. auf den indonesischen In­seln Celebes, Borneo und Timor, um 2000 v. Chr. auf Java und Sumatra und um 1600 v. Chr. im Gebiet von Neuguinea auf. Wie wir sehen werden, gewann die Aus­breitung dort an Tempo, bis die Besitzer der genannten Errungenschaften schließlich in rasender Geschwindig­keit ostwärts in den bis dahin menschenleeren Pazifik jenseits der Salomoninseln vorstießen. Die letzten Pha­sen der Expansion im 1. Jahrtausend n. Chr. beinhalte­ten die Besiedlung sämtlicher polynesischer und mikro­nesischer Inseln, die für Menschen geeignete Lebensbe­dingungen aufwiesen. Überraschenderweise fegte die Ausbreitungswelle auch in westlicher Richtung über den Indischen Ozean hinweg bis zur Ostküste Afrikas, wo sie in der Besiedlung Madagaskars gipfelte.

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Abbildung 16.2 Verlauf der austronesischen Expansion mit ungefähren Zeitangaben. 4a = Borneo, 4b = Celebes, 4c = Timor (um 2500 v. Chr.), 5a = Halmahera (um 1600 v. Chr.), 5b =Java, 5c = Sumatra (um 2000 v. Chr.), 6a = Bismarckarchipel (um 1600 v. Chr.), 6b = Malaiische Halbinsel, 6c = Vietnam (um 1000 v. Chr.), 7 = Salomoninseln (um 1600 v. Chr.), 8 = Santa Cruz, 9c = Tonga, 9d = Neukaledonien (um 1200 v. Chr.), 10b = Gesellschaftsinseln, 10c = Cookinseln, IIa = Tuamotu-Archipel (um 1 n. Chr.).

Mindestens bis zu dem Zeitpunkt, als die austronesi­sche Expansion die Küsten Neuguineas erreichte, dien­ten vermutlich Doppelausleger-Segelkanus, wie sie noch heute in Indonesien weit verbreitet sind, als Verkehrs­mittel zwischen den Inseln. Dieser Bootstyp verkörper­te einen wichtigen Fortschritt gegenüber den schlich­ten Einbaumkanus, die bei Völkern mit traditioneller Lebensweise noch heute das vorherrschende Fortbewe­gungsmittel auf Binnengewässern darstellen. Ein Ein­baumkanu ist genau das, was der Name besagt: ein aus­gehöhlter, vorn und hinten mit der Dechsel bearbeiteter Baumstamm. Da das Kanu unten genauso rund ist wie der Baumstamm, aus dem es gemacht wurde, kippte es schon beim kleinsten Ungleichgewicht seitwärts. Jedes­mal, wenn ich mit Neuguineern im Einbaum auf neu­guineischen Flüssen unterwegs war, verbrachte ich den größten Teil der Fahrt in heller Angst: Es schien immer, als könnte die kleinste meiner Bewegungen das Kanu zum Kentern bringen und mich und mein Fernglas der Gesellschaft der Krokodile ausliefern. Neuguineer voll­bringen irgendwie das Kunststück, ihre Einbäume sicher über ruhige Seen und Flüsse zu paddeln, doch nicht ein­mal ihnen gelingt es, einen Einbaum auf offenem Meer zu steuern, auch bei schwachem Seegang nicht. Deshalb mußte eine Möglichkeit zur Stabilisierung von Kanus gefunden werden – nicht nur, damit die austronesische Expansion den Weg über Indonesien nehmen konnte, sondern schon als Voraussetzung für die ursprüngliche Besiedlung Taiwans.

Die Lösung bestand darin, zwei kleinere Baumstäm­me (»Ausleger«) parallel zum Rumpf an beiden Seiten mit Hilfe von Querstäben zu befestigen. Immer wenn sich der Rumpf nach einer Seite zu legen begann, sorg­te der Auftrieb des Auslegers auf der betreffenden Seite dafür, daß das Boot in der Waagerechten blieb, so daß es praktisch nicht kentern konnte. Möglicherweise war die Erfindung des Doppelausleger-Segelkanus der tech­nologische Durchbruch, der die austronesische Expan­sion vom chinesischen Festland auslöste.

Das verblüffende Zusammentreffen archäologischer und sprachlicher Indizien in zwei Fällen untermau­ert den Schluß, daß es sich bei jenen Menschen, die vor Jahrtausenden eine neolithische Kultur nach Tai­wan, auf die Philippinen und nach Indonesien brach­ten, um Sprecher austronesischer Sprachen handelte, die zugleich die Vorfahren der heutigen Bewohner die­ser Inseln waren. Erstens weisen beide Arten von In­dizien eindeutig auf die Besiedlung Taiwans als erste Stufe der Expansion, die von der südchinesischen Kü­ste ausging, und die Besiedlung der Philippinen und In­donesiens von Taiwan aus als nächste Stufe hin. Wäre die Malaiische Halbinsel der Ursprungsort der Ausbrei­tungsbewegung gewesen, und hätte sie sich von dort zur nächstgelegenen indonesischen Insel, Sumatra, fortge­pflanzt, um danach weitere indonesische Inseln zu er­fassen und schließlich auf die Philippinen und Taiwan überzugreifen, müßten die tiefsten Gräben (als Aus­druck der längsten verstrichenen Zeiträume) innerhalb der austronesischen Sprachfamilie zwischen den mo­dernen Sprachen der Malaiischen Halbinsel und Suma­tras zu finden sein, während die Sprachen Taiwans und der Philippinen erst in jüngerer Vergangenheit inner­halb der gleichen Untergruppe angefangen hätten, sich zu differenzieren. In Wirklichkeit sind die Unterschie­de auf Taiwan am größten, während die Sprachen der Malaiischen Halbinsel und Sumatras zur gleichen Un­ter-Unter-Untergruppe gehören: einem jüngeren Zweig der westlichen malaiopolynesischen Unter-Untergrup­pe, die wiederum einen relativ jungen Zweig der ma­laiopolynesischen Untergruppe darstellt. Diese Details der sprachlichen Verwandtschaft stimmen vollkom­men mit den archäologischen Indizien überein, die für eine Kolonisierung der Malaiischen Halbinsel in jün­gerer Vergangenheit und erst nach der Besiedlung Tai­wans, der Philippinen und Indonesiens sprechen.

Das zweite Zusammentreffen archäologischer und sprachlicher Indizien betrifft das kulturelle Rüstzeug der frühen Austronesier. Die Archäologie liefert uns hierzu direkte Hinweise in Form von Töpferwaren, Schweinen, Fischgräten usw. Man könnte sich natürlich fragen, wie ein Linguist, der sich mit dem Studium moderner Spra­chen beschäftigt und unwissend bleiben muß, was de­ren schriftlose Vorgänger betrifft, jemals herausfinden soll, ob die Austronesier, die vor 6000 Jahren auf Taiwan lebten, Schweine hielten oder nicht. Der Schlüssel liegt in der Rekonstruktion des Wortschatzes verschwundener Ursprachen durch vergleichende Analysen der Wortschätze moderner Sprachen, die aus ihnen hervorgingen.

So sind die Bezeichnungen für »Schaf« in vielen Spra­chen der indogermanischen Sprachfamilie, deren Ver­breitungsgebiet von Indien bis nach Irland reicht, recht ähnlich: »avis«, »avis«, »ovis«, »oveja«, »ovtsa«, »owis« und »oi« auf litauisch, sanskrit, lateinisch, spanisch, rus­sisch, griechisch beziehungsweise irisch. (Das moderne englische Wort »sheep« hat offenbar eine andere Wurzel, doch der ursprüngliche Stamm ist in dem Wort »ewe« = Mutterschaf erhalten geblieben.[4])Ein Vergleich mit den Lautverschiebungen, die im Laufe der Geschich­te der verschiedenen heutigen indogermanischen Spra­chen stattgefunden haben, legt den Schluß nahe, daß die ursprüngliche Form in der vor etwa 6000 Jahren gesprochenen indogermanischen Ursprache »owis« ge­lautet hat. Jene schriftlose Vorgängersprache bezeichnen wir als Urindogermanisch.

Offensichtlich besaßen die Urindogermanen vor 6000 Jahren Schafe, was auch archäologische Funde bestä­tigen. Nahezu 2000 Wörter ihrer Sprache lassen sich auf ähnliche Weise rekonstruieren, darunter solche wie »Ziege«, »Pferd«, »Rad«, »Bruder« und »Auge«. Dagegen kann kein urindogermanisches Wort für »Gewehr« re­konstruiert werden – hierfür greifen die verschiedenen indogermanischen Sprachen auf unterschiedliche Wur­zeln zurück: Englisch auf »gun«, Französisch auf »fu­sil«, Russisch auf »ruzjo« usw. Das sollte uns auch nicht überraschen: Wie hätte man vor 6000 Jahren schon ein Wort für Gewehr haben können, wo doch Schießeisen erst innerhalb der letzten 1000 Jahre erfunden wurden? Da somit kein gemeinsamer Wortstamm mit der Bedeu­tung »Gewehr« vorhanden war, mußte jede indogerma­nische Sprache ihr eigenes Wort erfinden oder entleh­nen, als das Gewehr schließlich da war.

In gleicher Weise können wir nun moderne taiwane­sische, philippinische, indonesische und polynesische Sprachen miteinander vergleichen, um eine in grauer Vorzeit gesprochene uraustronesische Sprache zu rekon­struieren. Es wird niemanden überraschen, daß diese rekonstruierte Sprache Wörter mit Bedeutungen wie »zwei«, »Vogel«, »Ohr« und »Kopflaus« besaß: Natür­lich konnten die Uraustronesier schon bis zwei zählen, kannten Vögel und hatten Ohren und Kopfläuse. In­teressanter ist aber, daß in der rekonstruierten Sprache auch Wörter für »Schwein«, »Hund« und »Reis« vorka­men, was auf entsprechende Elemente der uraustrone­sischen Kultur schließen läßt. Das rekonstruierte Urau­stronesisch ist voller Vokabeln, die auf die Bedeutung des Meeres als Nahrungsquelle hinweisen, wie etwa »Aus­legerboot«, »Segel«, »Riesenvenusmuschel«, »Octopus«, »Fischfalle« und »Meeresschildkröte«. Diese sprachwis­senschaftlichen Erkenntnisse über die Kultur der Urau­stronesier, wo und wann sie auch gelebt haben mögen, weisen eine gute Übereinstimmung mit archäologischen Erkenntnissen über jene Bewohner Taiwans vor 6000 Jahren auf, die töpferten, Landwirtschaft betrieben und mit Booten aufs Meer fuhren.

Nach der gleichen Methode kann auch Urmalaiopo­lynesisch rekonstruiert werden, jene Sprache, die von Austronesiern gesprochen wurde, nachdem sie Taiwan verlassen hatten. In ihr sind Wörter für zahlreiche tro­pische Früchte enthalten, wie Taro, Brotfrucht, Banane, Jamswurzel und Kokosnuß, für die in der rekonstruier­ten uraustronesischen Sprache kein Wort gefunden wur­de. Das bedeutet, daß viele tropische Früchte erst nach der Emigration von Taiwan zum austronesischen Reper­toire hinzukamen. Dieser Schluß steht im Einklang mit archäologischen Erkenntnissen: Während die von Tai­wan (etwa 23 Grad nördlicher Breite) aufgebrochenen Bauern nach Süden vordrangen und sich dem Äquator näherten, stellten sie ihre Ernährung zunehmend auf tropische Wurzel- und Baumfrüchte um, die sie später mit auf die Reise in den tropischen Pazifik nahmen.

Was versetzte diese Austronesisch sprechenden Bau­ern aus Südchina nun aber in die Lage, die ursprüng­liche Jäger- und Sammlerbevölkerung der Philippinen und des westlichen Indonesien so vollständig zu über­rennen, daß von ihr wenig genetische und überhaupt kei­ne sprachlichen Spuren übrigblieben? Die Gründe lagen, wie bei der Verdrängung beziehungsweise Vernichtung der australischen Aborigines durch Europäer innerhalb der letzten zwei Jahrhunderte und der Verdrängung der ursprünglichen Südostasiaten durch Südchinesen zu ei­nem früheren Zeitpunkt, in der viel größeren Bevölke­rungsdichte der bäuerlichen Eindringlinge, ihren über­legenen Werkzeugen und Waffen, ihren besseren nauti­schen Fähigkeiten und den Infektionskrankheiten, gegen die sie im Gegensatz zu den Jägern und Sammlern, in deren Territorien sie einrückten, Abwehrkräfte entwickelt hatten. Genauso konnten Austronesisch sprechen­de Bauern auf dem asiatischen Festland einen Teil der dortigen Jäger- und Sammlerbevölkerung der Malai­ischen Halbinsel verdrängen. Austronesier besiedelten die Halbinsel von Süden und Osten her (von den indo­nesischen Inseln Sumatra und Borneo kommend), wäh­rend ungefähr zur gleichen Zeit bäuerliche Sprecher au­stroasiatischer Sprachen von Norden her (Thailand) auf die Halbinsel vorrückten. Anderen Austronesiern ge­lang es, sich in einigen Teilen Südvietnams und Kam­bodschas zu etablieren, wo noch heute ihre Nachfahren, die Cham, als Minderheit leben.

Weiter konnten die austronesischen Bauern jedoch nicht auf das südostasiatische Festland vordringen, da austroasiatische und Tai-Kadai-Bauern dort bereits seß­haft geworden waren und die ältere Jäger- und Sammler­bevölkerung verdrängt hatten und weil austronesische Bauern keinen Vorteil gegenüber den austroasiatischen und Tai-Kadai-Bauern besaßen. Austronesischsprecher waren zwar nach unseren Erkenntnissen ursprünglich an der Küste Südchinas beheimatet, doch werden austro­nesische Sprachen auf dem chinesischen Festland heute nirgendwo mehr gesprochen. Möglicherweise gehörten sie zu den Hunderten ehemaliger chinesischer Sprachen, die im Zuge der Südausbreitung von Sprechern sinoti­betischer Sprachen eliminiert wurden. Als am engsten mit dem Austronesischen verwandte Sprachfamilien gel­ten Tai-Kadai, Austroasiatisch und Miao-Yao. Während austronesische Sprachen in China dem Ansturm chine­sischer Dynastien nicht standhielten, konnten sich eini­ge ihrer verwandten Sprachen (ersten oder zweiten Gra­des) offenbar behaupten.

Wir haben nun die ersten Phasen der austronesischen Expansion über eine Entfernung von 4000 Kilometern von der Küste Südchinas über Taiwan und die Philippi­nen bis nach West- und Zentralindonesien verfolgt. Im Zuge dieser Ausbreitung nahmen die Austronesier sämt­liche bewohnbaren Gebiete der Inseln, auf die sie vor­drangen, in Besitz, von den Küstengebieten bis tief ins Innere und vom Tiefland bis zu den Gebirgen. Bis 1500 v. Chr. waren sie bis zur ostindonesischen Insel Halma­hera vorgedrungen, wie ihre typischen archäologischen Hinterlassenschaften – insbesondere Schweineknochen und schlichte Keramik mit rötlichem Tonschlicker – belegen. Damit lag die Westspitze der riesigen, gebir­gigen Insel Neuguinea nur noch rund 300 Kilometer entfernt. Würden sie auch diese Insel überrennen, wie sie es schon mit den großen, gebirgigen Inseln Celebes, Borneo, Java und Sumatra getan hatten?

Daß es nicht dazu kam, zeigt ein Blick in die Gesichter der meisten modernen Neuguineer, und auch gene­tische Untersuchungen liefern den Beweis. Mein Freund Wiwor und alle anderen Bewohner des neuguineischen Hochlands unterscheiden sich deutlich von Indonesiern, Filipinos und Südchinesen durch ihre dunklere Hautfar­be, ihr krauses Haar und ihre Gesichtsform. Die meisten Tieflandbewohner aus dem Inneren Neuguineas und von der Südküste sehen den Hochlandbe wohnern ähnlich, sind jedoch meist von größerem Wuchs. Genetikern ge­lang es bei Untersuchungen nicht, austronesische Gen­marker in Blutproben von neuguineischen Hochland­bewohnern nachzuweisen.

Bei den Völkern der neuguineischen Nord- und Ost­küste sowie des Bismarckarchipels und der Salomonin­seln nördlich und östlich von Neuguinea ist das Bild dagegen komplizierter. Vom Aussehen her stehen sie zwischen Hochlandbewohnern wie Wiwor und Indo­nesiern wie Achmad, wenngleich die Ähnlichkeit mit Wiwor im Durchschnitt erheblich größer ist. So hat bei­spielsweise mein Freund Sauakari, der von der Nordkü­ste stammt, gewelltes Haar, das irgendwo in der Mitte zwischen Achmads glattem und Wiwors krausem Haar einzuordnen wäre, und eine etwas hellere Hautfarbe als Wiwor, aber eine viel dunklere als Achmad. Genetischen Analysen zufolge sind die Bewohner des Bismarckar­chipels und der Salomoninseln ebenso wie Neuguine­er von der Nordküste etwa zu 15 Prozent Austronesier und zu 85 Prozent neuguineische Hochlandbewohner. Daraus läßt sich schließen, daß die Austronesier Neu­guinea und die umliegenden Inseln zwar erreichten, es aber nicht schafften, bis ins Inselinnere vorzudringen, sondern sich statt dessen mit den älteren Inselbewoh­nern an der Nordküste und auf den Nachbarinseln ver­mischten.

Die modernen Sprachen erzählen im Grunde die glei­che Geschichte, liefern aber noch weitere Details. In Ka­pitel 14 hatte ich ja bereits erwähnt, daß die meisten neu­guineischen Sprachen, die sogenannten Papua-Sprachen, mit keiner anderen Sprachfamilie der Welt verwandt sind. Sämtliche Sprachen, die in den Bergen Neugui­neas, im gesamten südwestlichen und südlichen Tiefland einschließlich der Küstenregionen sowie im nördlichen Inselinneren gesprochen werden, sind Papua-Sprachen. Austronesische Sprachen werden dagegen nur in einem schmalen Streifen entlang der Nord- und Südostküste gesprochen. Zu ihnen zählen auch die meisten Sprachen des Bismarckarchipels und der Salomoninseln, während Papua-Sprachen nur auf wenigen dieser Inseln verein­zelt gesprochen werden.

Die austronesischen Sprachen des Bismarckarchipels, der Salomoninseln und des neuguineischen Küstenge­biets bilden eine eigene Unter-Unter-Untergruppe mit der Bezeichnung Ozeanisch, die mit der Unter-Unter-Untergruppe von Sprachen, die auf Halmahera und an der Westseite Neuguineas gesprochen werden, verwandt ist. Diese sprachliche Verwandtschaft bestätigt nur, was schon der Blick auf die Landkarte vermuten läßt, daß nämlich Austronesischsprecher den Weg nach Neu­guinea und zu den umliegenden Inseln über Halmahe­ra nahmen. Merkmale der austronesischen und Papua-Sprachen und ihrer Verbreitung in Nord-Neuguinea zeu­gen von einem lange währenden Kontakt zwischen den austronesischen Eindringlingen und den Papua-Spre­chern, die schon vor ihnen da waren. Sowohl die au­stronesischen als auch die Papua-Sprachen der Region lassen in Wortschatz und Grammatik starke Einflüsse der jeweils anderen Sprachen erkennen, so daß in man­chen Fällen kaum zu entscheiden ist, ob man es mit von Papua-Sprachen beeinflußten austronesischen Sprachen oder umgekehrt mit von austronesischen Sprachen be­einflußten Papua-Sprachen zu tun hat. Bei Reisen ent­lang der Nordküste Neuguineas oder auf den kleineren Inseln, die vor der Küste liegen, passiert man abwech­selnd Dörfer, in denen austronesische oder Papua-Spra­chen gesprochen werden, ohne daß mit den sprachli­chen Grenzen auch Unterschiede im Aussehen der Be­wohner einhergingen.

Das alles deutet darauf hin, daß die Nachfahren der austronesischen Neuankömmlinge und der ursprüngli­chen Neuguineer an der neuguineischen Nordküste und auf den vorgelagerten Inseln seit Jahrtausenden mitein­ander Handel trieben, Mischehen schlossen und Gene und Sprachen austauschten. Während dieser langen Zeit des Miteinanders wurden austronesische Sprachen of­fenbar erfolgreicher übertragen als austronesische Gene, mit dem Ergebnis, daß die meisten Bewohner des Bis­marckarchipels und der Salomoninseln heute austrone­sische Sprachen sprechen, obwohl sie vom Aussehen und von den Genen her immer noch überwiegend Papuas sind. Tief im Inneren Neuguineas konnten sich indessen weder Gene noch Sprachen der Austronesier durchset­zen. Das Ergebnis ihrer Invasion unterschied sich somit kraß von dem, was sich auf Borneo, Celebes und ande­ren großen indonesischen Inseln abspielte, die von der austronesischen Dampfwalze überrollt wurden und de­ren frühere Bewohner kaum genetische oder sprachliche Spuren hinterließen. Um zu verstehen, was auf Neugui­nea geschah, wollen wir unseren Blick nun wieder ar­chäologischen Erkenntnissen zuwenden.

Um 1600 v. Chr. tauchten die typischen archäologischen Spuren der austronesischen Expansion – Schweine, Hüh­ner, Hunde, Keramik mit rötlichem Tonschlicker und Dechseln aus geschliffenem Stein und Muschelschalen – in der Region um Neuguinea auf, fast zeitgleich mit ihrem Erscheinen auf Halmahera. Zwei Merkmale aber unterscheiden ihre Ankunft dort von ihrem Eintreffen auf den Philippinen und in Indonesien.

Das erste Merkmal betrifft den Stil ihrer Keramik, der, obgleich rein ästhetischer Natur und ohne wirtschaftliche Bedeutung, dem Archäologen sofort verrät, ob es sich um eine frühe austronesische Siedlung handelt. Im Gegensatz zum größten Teil der frühen austronesischen Keramik auf den Philippinen und in Indonesien, die ohne Verzierungen war, wiesen die in der Region von Neuguinea gefundenen Gegenstände feine, in horizon­talen Streifen angeordnete geometrische Muster auf. An­dere Merkmale, wie etwa die Form der Gefäße und der rötliche Tonschlicker, glichen dem Stil jener älteren Ke­ramik aus Indonesien. Anscheinend kam den austrone­sischen Siedlern erst in der Region von Neuguinea die Idee, Gefäße zu »tätowieren«; die Anregung dazu mag von Körpertätowierungen und geometrischen Mustern gestammt haben, mit denen sie ihre Kleidung aus Baum­rinde schon früher verziert hatten. Nach der ersten ar­chäologischen Fundstätte wird dieser Stil als Lapita-Ke­ramik bezeichnet.

Ein wesentlich bedeutsamerer Unterschied der frühen austronesischen Siedlungen in der neuguineischen Regi­on betrifft ihre Verbreitung. Anders als auf den Philip­pinen und in Indonesien, wo selbst die ältesten bekann­ten Siedlungen von Austronesiern auf großen Inseln wie Luzon, Borneo und Celebes gefunden wurden, entdeckt man Orte mit Lapita-Keramik in der Region von Neu­guinea praktisch nur auf kleinen Eilanden vor der Küste größerer, abgelegener Inseln. Bis heute kam Lapita-Ke­ramik nur an einem einzigen Ort (Aitape) an der Nord­küste von Neuguinea selbst sowie an einigen Stellen auf den Salomoninseln zum Vorschein. Die meisten Lapita-Fundstätten in der Region um Neuguinea befinden sich im Bismarckarchipel und dort auf kleinen Eilanden vor der Küste der größeren Bismarckinseln; vereinzelt liegen sie auch an der Küste der größeren Inseln selbst. Da die Hersteller der Lapita-Keramik (wie wir sehen werden) Seefahrer waren, die Tausende von Meilen übers Meer zurückzulegen vermochten, ist der Grund dafür, daß sie ihre Dörfer nicht zu den größeren Bismarckinseln oder nach Neuguinea verlegten, sicher nicht darin zu suchen, daß die Entfernung von einigen Meilen beziehungswei­se wenigen Dutzend Meilen sie daran hinderte.

Die Lebensgrundlage der Lapita-Töpfer kann anhand von Abfallresten rekonstruiert werden, die Archäologen an Lapita-Fundstätten zutage förderten. Die Bewohner dieser Siedlungen lebten hauptsächlich vom Meer: Fisch, Schweinswale, Meeresschildkröten, Haie und Schalen­tiere waren die wichtigsten Bestandteile ihrer Nahrung. Daneben hielten sie Schweine, Hühner und Hunde und aßen die Nüsse zahlreicher Bäume (auch Kokosnüsse). Es ist anzunehmen, daß ihr Speiseplan auch die üblichen austronesischen Wurzelfrüchte umfaßte, wie Taro und Jamswurzeln, doch das läßt sich heute schwer nachwei­sen, da harte Nußschalen nun einmal eher als Wurzeln Tausende von Jahren in Abfallhaufen überdauern.

Natürlich kann es keinen direkten Beweis dafür geben, daß die Lapita-Töpfer Sprecher einer austronesischen Sprache waren. Zwei Tatsachen legen diesen Schluß je­doch sehr nahe. Erstens weisen die Verzierungen auf ihren Krügen, die Krüge selbst sowie verwandte Uten­silien Ähnlichkeiten mit Funden auf, die in Indonesien und auf den Philippinen an Orten, an denen Vorfahren moderner Austronesischsprecher gelebt hatten, zutage gefördert wurden. Zweitens gelangte die Lapita-Kera­mik auch auf entlegene, zuvor nicht von Menschen be­siedelte Pazifikinseln, auf denen heute eine austronesi­sche Sprache gesprochen wird, ohne daß Hinweise auf eine größere zweite Welle von Ankömmlingen nach je­ner ersten, die Lapita-Krüge dorthin brachte, vorliegen (hierauf komme ich noch zurück). Es ist also davon aus­zugehen, daß die Lapita-Keramik die Ankunft der Au­stronesier in der neuguineischen Region markiert.

Was aber taten jene austronesischen Krugmacher auf kleinen Eilanden vor der Küste größerer Inseln? Wahr­scheinlich unterschied sich ihre Lebensweise gar nicht so sehr von jener, die moderne Krugmacher bis in die jüng­ste Vergangenheit auf kleinen Inseln im Gebiet um Neu­guinea pflegten. Im Jahr 1972 besuchte ich eines dieser Dörfer auf Malai, einem kleinen Eiland der Siassi-Grup­pe vor der mittelgroßen Insel Umboi, die wiederum der größeren Bismarckinsel Neubritannien vorgelagert ist. Als ich, ohne etwas über die Bewohner Malais zu wissen, an Land ging, um vogelkundliche Studien zu betreiben, verschlug mir der Anblick fast den Atem. Statt eines der üblichen kleinen Dörfer mit flachen Hütten, umgeben von großen Gärten, in denen Obst und Gemüse angebaut wurde, und einigen Kanus am Strand lag vor mir eine große Ansammlung zweigeschossiger, eng nebeneinan­derstehender Holzhäuser, zwischen denen kein Platz für Gärten war – ein neuguineisches Pendant zu Manhat­tan. Am Strand erblickte ich Reihen großer Kanus. Wie sich herausstellte, waren die Inselbewohner nicht nur Fi­scher, sondern auch spezialisierte Töpfer, Holzschnitzer und Händler, die von der Anfertigung wunderbar ver­zierter Krüge und Holzschalen lebten, die sie mit ihren Kanus zu größeren Inseln transportierten und dort ge­gen Schweine, Hunde, Gemüse und andere Bedarfsgüter eintauschten. Selbst das Holz für ihre Kanus stammte nicht von Malai, sondern von der nahe gelegenen Insel Umboi, da die Bäume auf Malai nicht groß genug wa­ren, um daraus Kanus zu bauen.

Bevor die Europäer auf den Plan traten, lag das Monopol für den Schiffsverkehr zwischen den Inseln um Neuguinea in den Händen solcher spezialisierten Ka­nubauer und Töpfer, die ohne Navigationsinstrumente über das Meer fuhren und ihre Siedlungen auf kleinen Inseln oder manchmal auch an der Küste des Festlands errichteten. Als ich 1972 nach Malai kam, existierten diese Handelsnetze schon nicht mehr oder waren stark geschrumpft, was zum Teil mit der Konkurrenz von eu­ropäischer Motorschiffahrt und Aluminiumgefäßen zu­sammenhing, zum Teil aber auch mit dem Verbot des Kanu-Fernverkehrs, das die australische Kolonialverwal­tung nach einer Reihe von Unfällen, bei denen Menschen ertrunken waren, verhängt hatte. Ich hege die Vermu­tung, daß die Lapita-Töpfer in der Zeit ab 1600 v. Chr. die Rolle seefahrender Händler in der Region um Neu­guinea spielten.

Das Vordringen austronesischer Sprachen an die neu­guineische Nordküste und selbst auf die größten Bis­marck- und Salomoninseln muß im wesentlichen nach der Lapita-Ära erfolgt sein, da Lapita-Funde vorwiegend von kleinen Eilanden im Bismarckarchipel stammen. Erst um die Zeitwende tauchten vom Lapita-Stil beein­flußte Töpferwaren an der Südseite der großen Halbinsel im Südosten Neuguineas auf. Als Europäer gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit der Erforschung Neuguineas begannen, war die gesamte übrige neuguineische Süd­küste immer noch ausschließlich von Papua-Sprechern bewohnt, obgleich Austronesisch sprechende Populatio­nen nicht nur auf der südöstlichen Halbinsel, sondern auch auf den Inseln Aru und Kei (etwa 120 Kilometer vor der Südküste von West-Neuguinea) anzutreffen wa­ren. Austronesier hatten somit Tausende von Jahren Zeit, um das Inselinnere und die Südküste Neuguineas von nahen Stützpunkten aus zu kolonisieren, taten es aber nicht. Selbst die Kolonisierung des nördlichen Küsten­saums war eher sprachlicher als genetischer Natur: Alle Völker der Nordküste blieben in genetischer Hinsicht überwiegend Neuguineer. Bestenfalls übernahmen ei­nige von ihnen austronesische Sprachen, vielleicht, um sich mit den seefahrenden Händlern, die verschiedene Gesellschaften miteinander verbanden, verständigen zu können.

Demnach zeitigte die austronesische Expansion in der Region von Neuguinea ein völlig anderes Ergebnis als in Indonesien und auf den Philippinen. Während hier die vorherigen Bewohner verschwanden – vermut­lich wurden sie vertrieben, umgebracht, mit Krankhei­ten infiziert oder von den Eindringlingen assimiliert –, hielt dort, also in der neuguineischen Region, die be­reits ansässige Bevölkerung die Invasoren an den mei­sten Orten auf Distanz. In beiden Fällen waren die Ein­dringlinge Austronesier, und auch die ansässigen Be­völkerungen ähnelten sich genetisch, sofern meine Vermutung zutrifft, daß die von Austronesiern verdrängten ursprünglichen Bewohner Indonesiens Ver­wandte der Neuguineer waren. Worauf mag ein derart unterschiedlicher Ausgang zurückzuführen sein?

Die Antwort ist rasch gefunden, zieht man den unter­schiedlichen kulturellen Entwicklungsstand der Urbe­völkerungen Indonesiens und Neuguineas in Betracht. Vor der Ankunft der Austronesier war der größte Teil Indonesiens nur dünn besiedelt. Die dort lebenden Jäger und Sammler verfügten nicht einmal über geschliffene Steinwerkzeuge. Im Gegensatz dazu wurde im neuguin­eischen Hoch- und wahrscheinlich auch Tiefland sowie im Bismarck- und Salomonarchipel schon seit Jahrtau­senden Landwirtschaft getrieben. Das Hochland von Neuguinea wies sogar eine der höchsten Bevölkerungs­dichten auf, die in der jüngeren Vergangenheit irgend­wo auf der Welt von einer steinzeitlichen Gesellschaft erreicht wurde.

Im Wettbewerb mit diesen angestammten neugui­neischen Populationen besaßen die Austronesier weni­ge Vorteile. Einige der Kulturpflanzen der Austronesier, wie Taro, Jamswurzeln und Bananen, waren in Neugui­nea vermutlich schon vor ihrer Ankunft eigenständig do­mestiziert worden. Bereitwillig integrierten die Neugui­neer die von den Austronesiern mitgebrachten Hühner, Hunde und insbesondere auch Schweine in ihre Land­wirtschaft. Geschliffene Steinwerkzeuge waren in Neu­guinea schon lange in Gebrauch. Die Abwehrkräfte der Neuguineer gegen Tropenkrankheiten waren denen der Austronesier ebenbürtig, da sie den gleichen fünffachen genetischen Schutz gegen Malaria besaßen wie diese, wo­bei sich einige oder sogar alle beteiligten Gene unabhän­gig auf Neuguinea entwickelt hatten. Die Neuguineer waren bereits erfahrene Seefahrer, mag ihre Navigations­kunst auch nicht an die der Lapita-Töpfer herangereicht haben. Zehntausende von Jahren vor der Ankunft der Austronesier kolonisierten sie den Bismarckarchipel und die Salomoninseln, und schon mindestens 18000 Jah­re vor dem Auftauchen der Austronesier blühte im Bis­marckarchipel der Handel mit Obsidian (einem vulka­nischen Gesteinsglas, geeignet zur Herstellung scharf­kantiger Werkzeuge). In jüngerer Vergangenheit drangen Neuguineer offenbar sogar gegen den Strom der Austro­nesier westwärts in den Osten Indonesiens vor, wo im Norden der Insel Halmahera und auf Timor typische Pa­pua-Sprachen gesprochen werden, die mit einigen west­neuguineischen Sprachen verwandt sind.

Kurzum, der unterschiedliche Ausgang der austronesi­schen Expansion veranschaulicht in großer Deutlichkeit die Rolle der Landwirtschaft bei Bevölkerungsverschie­bungen. Bäuerliche Austronesier wanderten in zwei Re­gionen ein (Indonesien und Neuguinea), deren bisherige Bewohner wahrscheinlich obendrein miteinander ver­wandt waren. Während in Indonesien noch Jäger und Sammler lebten, trieben die Bewohner Neuguineas be­reits Landwirtschaft und hatten viele der üblichen Be­gleiterscheinungen hervorgebracht (hohe Bevölkerungs­dichte, Abwehrkräfte gegen Krankheiten, fortgeschrit­tene Technik usw.). So kam es, daß die austronesische Expansion die ursprünglichen Indonesier hinwegfegte, in der Region von Neuguinea jedoch mehr oder weniger steckenblieb, so, wie es ihr schon im Gebiet der Land­wirtschaft treibenden austroasiatischen und Tai-Kadai-Völker in Südostasien ergangen war.

Bis hierher haben wir die austronesische Expansion durch Indonesien bis an die Strände Neuguineas und des südostasiatischen Festlands verfolgt. In Kapitel 18 werden wir sehen, wie sie sich über den Indischen Ozean nach Madagaskar fortsetzte, und in Kapitel 14 erfuhren wir bereits, daß ökologische Hindernisse Austronesier davon abhielten, im Norden und Westen Australiens heimisch zu werden. Der letzte Akt der austronesischen Expansion begann, als die Lapita-Töpfer an den Salomonen vorbei ostwärts in den Pazifik hineinfuhren und dort eine Insel­welt in Besitz nahmen, die noch kein Mensch vor ihnen betreten hatte. Um 1200 v. Chr. tauchten Lapita-Tonscher­ben, das vertraute Dreigespann aus Schweinen, Hühnern und Hunden sowie andere typische archäologische Hin­terlassenschaften der Austronesier auf den Fidschiinseln, im Samoa- und Tongaarchipel auf, über tausend Meilen östlich der Salomonen. In den ersten Jahrhunderten nach der Zeitwende traten die meisten dieser Markenzeichen (mit der bemerkenswerten Ausnahme von Töpferwaren) auch auf den Inseln Ostpolynesiens, insbesondere auf den Gesellschafts- und Marquesasinseln, in Erscheinung. Weitere ausgedehnte Kanureisen brachten austronesische Siedler im Norden nach Hawaii, im Osten zur Pitcairn- und zur Osterinsel und im Südwesten nach Neuseeland. Die Ureinwohner der meisten dieser Inseln sind heute Po­lynesier, also direkte Nachfahren der Lapita-Töpfer. Ihre Sprachen sind eng mit denen der neuguineischen Region verwandt, und ihre Hauptanbaupflanzen gehören zum austronesischen »Kulturbündel« aus Taro, Jamswurzel, Banane, Kokosnuß und Brotfrucht.

Mit der Inbesitznahme der Chathaminseln vor Neu­seeland um 1400 n. Chr., also knapp hundert Jahre vor dem Auftauchen europäischer »Entdeckungsreisender« war die Entdeckung des Pazifiks durch Asiaten endlich abgeschlossen. Ihre jahrzehntausendelange Entdecker­tradition hatte begonnen, als Wiwors Vorfahren über Indonesien nach Neuguinea und Australien vordran­gen. Sie endete erst, als es nichts mehr zu entdecken gab, weil nahezu jede bewohnbare Pazifikinsel in Be­sitz genommen war.

Für jeden, der sich für die Weltgeschichte interessiert, sind die Gesellschaften Ostasiens und des Pazifiks sehr aufschlußreich, da sie viele Beispiele für den prägen­den Einfluß der Umwelt auf den Gang der Geschich­te liefern. Je nach geographischer Herkunft unterschie­den sich die Völker Ostasiens und des Pazifiks in ih­rem Zugang zu domestizierbaren Wildpflanzen und -tieren sowie in der Intensität ihres Kontakts zu ande­ren Völkern. Ein ums andere Mal verdrängten Völ­ker, die im Besitz der Voraussetzungen für die Land­wirtschaft waren und deren geographische Heimat die Bekanntschaft mit technischen Neuerungen aus an­deren Regionen begünstigte, andere Völker, denen es daran mangelte. Und immer wieder war zu beobach­ten, daß sich die Nachkommen einer Welle von Kolo­nisten, die in Regionen mit unterschiedlichen Umwelt­bedingungen geschwappt war, je nach der ökologischen Beschaffenheit des neuen Lebensraums höchst unter­schiedlich entwickelten. So haben wir etwa erfahren, daß die Südchinesen die Landwirtschaft und verschie­dene technische Errungenschaften eigenständig hervorbrachten, die Schrift und weitere Techniken sowie politische Strukturen aus Nordchina übernahmen und in der Folge Südostasien und Taiwan unter weitgehen­der Verdrängung der vorherigen Bewohner besiedelten. Von den Nachfahren beziehungsweise Verwandten je­ner bäuerlichen Kolonisten aus Südchina kehrten die Yumbri in den Regenwäldern von Nordostthailand und Laos zur Jagd- und Sammelwirtschaft zurück, während enge Verwandte der Yumbri, die Vietnamesen (Spre­cher einer Sprache der gleichen Unter-Untergruppe der austroasiatischen Sprachfamilie), im fruchtbaren Del­ta des Roten Flusses weiter Landwirtschaft trieben und ein eigenes, auf Metallverarbeitung basierendes Reich errichteten. Ähnlich sahen sich die Punan, ebenfalls bäuerliche austronesische Emigranten aus Taiwan und Indonesien, in den Regenwäldern Borneos gezwungen, wieder als Jäger und Sammler zu leben, während ihre Verwandten auf Java, das mit fruchtbaren Vulkanböden gesegnet ist, der Landwirtschaft treu blieben, ein von Indien beeinflußtes Königreich gründeten, die Schrift einführten und das prächtige buddhistische Monu­ment von Borobudur bauten. Jener Zweig der Austro­nesier, der schließlich Polynesien besiedelte, geriet au­ßer Reichweite der ostasiatischen Schrift und Metall­verarbeitung, was zur Folge hatte, daß er metall- und schriftlos blieb. Indessen entwickelten sich die austro­nesischen Gesellschaften politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich in verschiedenen Lebensräumen höchst unterschiedlich. So waren die Besiedler Ostpolynesiens binnen tausend Jahren auf den Chathaminseln wieder zur Jagd- und Sammelwirtschaft zurückgekehrt, wäh­rend sie auf Hawaii ein Staatsgebilde mit intensiver Landwirtschaft errichteten.

Als schließlich die Europäer eintrafen, waren sie auf­grund ihrer Überlegenheit im Bereich der Technik und auf anderen Gebieten in der Lage, den größten Teil Südostasiens und der pazifischen Inselwelt vorüberge­hend unter ihre Kolonialherrschaft zu bringen. Örtli­che Krankheitserreger und die bäuerlichen Bewohner der Region hinderten die Europäer jedoch an den mei­sten Orten daran, sich in größerem Umfang als Sied­ler niederzulassen. Nur auf Neuseeland, Neukaledoni­en und Hawaii – den größten und entlegensten Inseln, deren Klima aufgrund der äquatorfernen Lage am ehe­sten dem gemäßigten Klima Europas entspricht – sind heute größere europäische Populationen ansässig. Im Unterschied zu Australien, Nord- und Südamerika sind Ostasien und die meisten Pazifikinseln somit weiter in der Hand der Völker, die schon vor der Ankunft der Eu­ropäer dort lebten.