Kapitel 22

Zum ersten Mal seit Wochen habe ich keine Albträume mehr. Im Schlaf kehre ich nach Hause zurück, und ein Gefühl von Frieden und Erleichterung erfüllt mich, weil ich weiß, dass bald schon alles zu Ende sein wird. Ich erwache vom Klopfen an der Tür. Ein neues Tablett wird mir überreicht, und ich werde aufgefordert, in einer Stunde angezogen zu sein und meine Sachen zusammengepackt zu haben. Dann wird mich jemand abholen.

Ich stochere im Essen herum. Frische Erdbeeren. Ein dickflüssiger, heißer Getreidebrei mit Rosinen und Walnüssen. Bittersüßer Orangensaft. Brötchen mit einer dicken Zimtkruste. Ich versuche, die Speisen zu genießen. Allerdings beginnt eine nervöse Spannung, sich in mir breitzumachen und meine gerade erst wieder entstandene Ausgeglichenheit zu vertreiben, weshalb ich nur ein paar Bissen hinunterbringe.

Danach binde ich das eine Erkennungsband um mein Handgelenk, das zweite befestige ich am Träger meiner Tasche. Dabei denke ich an meinen Vater und daran, wie er sich wohl gefühlt hat, als er sich darauf gefasst machte, sein Urteil zu hören. Noch immer hoffe ich, Tomas sehen zu können, ehe die Offiziellen unsere Erinnerungen löschen. Wird es ihm gelingen, mir die eine seiner beiden Pillen zuzustecken? Und wird er die ungeheuerlichen Verdächtigungen in meinen Augen lesen?

Als es erneut klopft, bin ich bereit. Mit der Tasche über meiner Schulter folge ich der dunkelhaarigen Frau, die mich abgeholt hat, den Flur hinunter. Die wenigen Happen, die ich gegessen habe, rumoren in meinem Magen, als wir den Fahrstuhl betreten und uns schweigend in den zweiten Stock bringen lassen. Die Miene meiner Begleiterin ist vollkommen neutral. Kein Lächeln. Kein warnender Blick. Nichts, was mir verraten würde, welches Schicksal für mich beschlossen worden ist.

Die Tür am Ende des hell erleuchteten Ganges steht offen, und die Offizielle an meiner Seite sagt mir, ich solle hineingehen, man würde mich schon erwarten.

Ich stecke meine Hände in die Hosentaschen, damit sie nicht so zittern, und betrete, von der Frau begleitet, den großen Raum. Mindestens ein Dutzend Prüfer sitzen an einem langen Tisch. Dr. Barnes thront in der Mitte. Vor ihm liegt ein weißer Umschlag. Sein Gesichtsausdruck ist unergründlich, als ich zu dem einzeln stehenden Stuhl vor ihm hinübergehe.

In dem Moment, in dem ich Platz genommen habe, wirft mir Dr. Barnes auch schon ein warmes Lächeln zu. »Ich bedaure, dass wir so lange gebraucht haben, um eine Entscheidung zu treffen, aber wir wollten keinen Fehler machen.« Bedeutungsvoll nimmt er den Umschlag, geht um den Tisch herum und bleibt unmittelbar vor mir stehen. Mein Herz hämmert in meiner Brust, als er sagt: »Ich bin mir sicher, dass du es kaum noch abwarten kannst, deine Prüfungsresultate zu erfahren, deshalb will ich die Sache nicht unnötig in die Länge ziehen.«

Er öffnet das Couvert und nimmt ein weißes Blatt Papier heraus. Einen Augenblick lang starrt er darauf, als ob er die Entscheidung noch einmal überdenken will, dann reicht er es mir. Meine Finger zittern. Ich brauche mehrere Anläufe, um das eine Wort zu lesen, das in fetten Buchstaben auf der Mitte der Seite steht.

BESTANDEN

Ich habe es geschafft.

Ein Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht, und mein Herz macht einen Satz. Ich höre beifälliges Gemurmel von den Offiziellen im Raum. Dr. Barnes sagt mir, wie stolz er auf mich sei, und schüttelt mir die Hand. Dann spüre ich einen Stich im Nacken, und die Welt um mich herum wird schwarz.

Ich habe also doch versagt!

Meine Finger fahren die fünf Linien nach, die meinen linken Oberarm furchen, und ich betrachte mich im Spiegel, der in meinem Studentenquartier in der Universität an der Wand hängt. Drei Räume – Schlaf-, Wohn-und Badezimmer – sind mir für die erste Phase meiner Studienzeit zugewiesen worden. Sie sind das sichtbare Zeichen, dass ich die Auslese überstanden habe. Dies ist der größte Erfolg in meinem bisherigen Leben. Und doch erinnere ich mich an nichts davon.

Ganz sicher habe ich versucht, mich gegen den Verlust meines Gedächtnisses zur Wehr zu setzen, aber ich habe es nicht geschafft! Alles, an das ich mich noch erinnern kann, ist, wie ich in einem schwarzen Gleiter nach Tosu-Stadt komme. Ein Junge mit struppigem Haar und gemeinen Augen versucht, Malachi ein Bein zu stellen. An meine Zimmergenossin und ihre Getreidekekse erinnere ich mich ebenfalls. Und dann ist da gar nichts mehr bis zu dem Augenblick, in dem ich mich in einem Raum sitzend wiederfinde, um mich herum andere junge Menschen, die, wie ich vermute, ebenfalls Prüfungskandidaten waren. Meine Blicke huschen herum und suchen nach vertrauten Gesichtern. In diesem Moment betritt ein grauhaariger, bärtiger Mann in einem purpurroten Jumpsuit eine angestrahlte Bühne. Er wirft uns ein warmes, hocherfreutes Lächeln zu und sagt: »Meine Glückwünsche. Ich freue mich sehr, sagen zu können, dass ihr die zwanzig Kandidaten seid, die dafür ausgewählt wurden, im nächsten Jahr die Universität zu besuchen.«

Überraschung. Freude. Verwirrung. Und dann begreife ich. Die Auslese ist vorbei. Ich habe bestanden. Dr. Barnes teilt uns mit, dass wir unmittelbar nach dieser Versammlung aus dem Prüfungszentrum in unsere neuen Quartiere umsiedeln werden. Danach wird es eine Feier geben, damit wir uns ein bisschen besser kennenlernen können. Doch einen der Kandidaten kenne ich bereits. Mein Herz hüpft vor Freude, als ich in ein graues Augenpaar blicke. Tomas breitet seine Arme aus, und ich werfe mich hinein. Ich bin so froh, ein vertrautes Gesicht zu sehen. Dieses Abenteuer werde ich nicht allein durchstehen müssen. Tomas ist bei mir.

Das war vor beinahe drei Wochen. Tomas und ich haben seitdem jeden Tag Zeit miteinander verbracht, die Stadt erkundet und uns einander angenähert. Allein bei dem Gedanken daran, ihn heute wiederzusehen, habe ich Schmetterlinge im Bauch.

Ein Klopfen lässt mich zusammenzucken. Ich rolle meinen Ärmel wieder herunter, um die fünf unregelmäßigen Narben zu verstecken, und öffne die Tür.

»Hey, du bist ja noch gar nicht fertig.« Stacias dunkle Augen werden ganz schmal, als sie meine weiße Tunika und die braune Hose mustert. »Du kannst doch nicht in diesem Aufzug zur Party kommen. Was sollen denn die anderen von dir denken?«

»Die Feier beginnt doch erst in einer Stunde.« Ich lache unbeschwert. »Keine Sorge. Ich werde schon angemessen gekleidet sein.«

»Das solltest du auch.« Stacia runzelt die Stirn, ehe sie wieder davonstapft, aber ich sehe den Anflug eines Lächelns auf ihren Lippen. Stacias ernstes Auftreten hält die anderen Kandidaten, Tomas eingeschlossen, auf Abstand. Aber aus irgendeinem Grund habe ich gleich am Anfang mit ihr ein paar Worte gewechselt, und wir scheinen gut miteinander auszukommen. Vermutlich sind wir uns während des sechswöchigen Ausleseprozesses bereits begegnet, und vielleicht hat unsere Freundschaft damals schon begonnen und wird jetzt einfach fortgeführt.

Als ich die Tür wieder zugemacht habe, stelle ich fest, dass Stacia recht hat. Ich sollte mich wirklich für die Feier umziehen. Schließlich findet sie mir zu Ehren statt.

Wir waren bislang viel zu sehr damit beschäftigt, unsere Ausbilder an der Universität zu treffen, den neuen Gebäudekomplex zu erkunden und in unsere Apartments einzuziehen, als dass irgendeiner von uns Zeit gehabt hätte, neue Kleidung zu kaufen. Andere Studenten haben uns ein paar überzählige Anziehsachen überlassen, und Dr. Barnes hat uns auf die kommenden Wochen vertröstet, in denen wir unsere eigene Garderobe werden aufstocken können. Also schlüpfe ich jetzt wie üblich in meine Hose, ziehe mir jedoch ein geborgtes blaues Hemd an, das meine Narben versteckt. Meine Haare lasse ich offen, weil Tomas mal erwähnt hat, wie gerne er das mag. Da wir die Einzigen aus der Five-Lakes-Kolonie sind, die die Auslese überstanden haben, fühlen wir uns natürlich zueinander hingezogen. Aber uns verbindet mehr als nur die Gespräche von zu Hause. Etwas Wärmeres, Tieferes und Aufregenderes als Freundschaft. Vielleicht ist es dumm von mir zu glauben, dass unsere Gefühle Liebe sein könnten, aber nun, wo die Auslese vorbei ist, kann Tomas und mich nichts mehr davon abhalten, es herauszufinden.

Als Stacia das nächste Mal klopft, habe ich das silberne Erkennungsarmband mit der Gravur eines einzelnen Sterns – dem Symbol der Erstsemester – um mein Handgelenk gebunden und bin zum Aufbruch bereit. Wir treten hinaus und werden von einem Stimmengewirr begrüßt, und als wir um eine Ecke biegen, beginne ich zu strahlen. Ich sehe ein Poster, auf dem man mir zum Geburtstag gratuliert, einen großen Kuchen und lächelnde Gesichter. Tomas, Dr. Barnes, unser gesamter Uni-Jahrgang und auch einige Offizielle sind da, um mit mir zu feiern.

Irgendjemand hat uns entdeckt, und schon drehen sich alle um und beginnen zu singen. Ich weiß nicht, ob dieses Lied in jeder Kolonie an Geburtstagen erklingt oder ob Tomas es den anderen beigebracht hat, aber die Melodie lässt Erinnerungen an zu Hause in mir aufsteigen. Ich kann nichts dagegen tun, dass ich zu weinen beginne.

Als der Gesang verstummt ist, wischen mir zärtliche Finger die Tränen von den Wangen. »Hey, das ist doch ein Anlass, um fröhlich zu sein. Vielleicht war das mit dem Lied doch keine so gute Idee.«

»Unsinn.« Ich lächele Tomas an. »Das war perfekt, ganz ehrlich.«

»Wirklich?«

Seine Lippen liebkosen meine, und ich versichere ihm strahlend: »Wirklich.«

Eine spöttische Stimme ruft: »Hey, andere Leute wollen dem Geburtstagskind auch einen Kuss geben.«

Tomas sieht Will mit finsterer Miene entgegen, als der zu mir kommt, mich auf die Wange küsst und mir einen Arm um die Schultern legt. Wills lange Haare sind im Nacken zusammengebunden, und in seinen Augen blitzt der Schalk, was schön zu sehen ist, weil das vor Kurzem noch ganz anders war. Als Dr. Barnes uns bei unserem ersten Meeting dazu gratuliert hatte, dass wir an der Universität aufgenommen worden sind, hatte Will sofort seine Hand gehoben und nach seinem Bruder Gill gefragt, der gemeinsam mit ihm zur Auslese angetreten war. Dr. Barnes hatte erwidert, dass nur Will bei den Prüfungen erfolgreich gewesen sei und dass sein Bruder, wie alle Kandidaten, die nicht bestanden hatten, einer neuen Kolonie zugewiesen worden sei. Daraufhin rastete Will aus. Vier Offizielle waren nötig, um ihn aus dem Versammlungsraum zu schaffen, und es dauerte mehrere Tage, ehe er sich wieder so weit beruhigt hatte, dass er sein Quartier an der Universität beziehen durfte. Ein paar Leute hatten schon spekuliert, dass die Prüfer vorhätten, einen der durchgefallenen Kandidaten zurückzuholen, um Will auszutauschen. Aber er kehrte zurück, und ich bin froh darüber.

Jetzt gibt mir Will einen zweiten Kuss auf die andere Wange, und als Tomas protestiert, lacht er. »Dein Freund ist eifersüchtig, dass wir ein Team für die Stadterkundung bilden. Ich persönlich denke ja, dass wir alle dich nicht verdient haben, Cia, aber was weiß ich denn schon?«

Wills Worte kommen mir vertraut vor. Ich merke, wie ich – keineswegs zum ersten Mal – den Kopf schräg lege und vergeblich versuche, mich an etwas zu erinnern, was in greifbarer Nähe zu liegen scheint.

Tomas sagt zu Will, er sähe keinen Anlass, eifersüchtig zu sein. Andere Kandidaten stoßen zu uns. Ein großer schweigsamer Junge namens Brick überreicht mir Blumen. Dann wendet sich das Gespräch der kommenden Orientierungsphase zu. Ehe die Kurse beginnen, werden alle Studenten vier Wochen damit verbringen, die Offiziellen von Tosu-Stadt und Abgesandte aus allen Kolonien zu treffen. Wir werden uns auch in der Stadt umsehen, die in den nächsten Jahren unser Zuhause sein wird. Die Studenten sind für ihre Treffen und Touren in Zweiergruppen eingeteilt worden. Dass Will und ich zusammengesteckt wurden, passt Tomas gar nicht. Nicht, weil er glaubt, zwischen uns könnte sich eine Romanze entspinnen. Tomas kommt mit den meisten anderen Studenten in unserem Jahrgang gut aus, aber Will scheint ihm gegen den Strich zu gehen. Ich hoffe, dass die beiden ihre Antipathie in den vor uns liegenden Wochen und Monaten verlieren werden.

Jemand holt ein Solar-Radio, und dann beginnt der Tanz. Selbst Dr. Barnes schiebt sich ins Getümmel und wirbelt eine der Prüferinnen herum, die er uns, ehe die beiden die Feier verlassen, als seine Frau vorstellt.

Kurz bevor die Sonne untergeht, tun mir die Füße vom Tanzen weh, und ich habe viel zu viel Geburtstagskuchen gegessen. Ich überlege, ob ich zurück in mein Apartment gehen soll, als ich etwas abseits eine vertraute Gestalt an einen Baum gelehnt stehen sehe. Ich sage Tomas Bescheid, dass ich gleich wieder da bin, und gehe über den Hof zu einem der Offiziellen aus Tosu-Stadt, Michal Gallen.

»Herzlichen Glückwunsch.«

»Bist du schon die ganze Zeit hier?«, frage ich.

Er schüttelt den Kopf. »Ich habe gedacht, es wäre am besten, wenn ich warte, bis einige der Gäste nach Hause aufgebrochen sind. Ansonsten hätte ich gar keine Chance gehabt, in Ruhe ein paar Worte mit dir zu wechseln. Ich gratuliere dir zu deinem Erfolg bei der Auslese. Nicht dass mich das überrascht hat. Du bist klug und stark. Ich wusste, dass du es schaffen würdest.«

Wieder habe ich das quälende Gefühl, als hätte ich das schon mal gehört. Aber als ich versuche, die Erinnerung zu fassen zu bekommen, entgleitet sie mir und verflüchtigt sich.

»Was ist los?«

Ich winke ab. »Nichts. Ich hätte nur schwören können, dass du das schon mal zu mir gesagt hast. Sonderbar, nicht wahr?«

Michal lächelt, widerspricht jedoch nicht. Stattdessen sagt er: »Ich habe dir etwas mitgebracht.« Er zieht ein Päckchen aus der Tasche hinter seinem Rücken und überreicht es mir. Als ich es auswickeln will, schüttelt er den Kopf.

»Warum wartest du damit nicht, bis du allein bist? Ansonsten bekommen wir noch beide Schwierigkeiten. In den Statuten der Universität ist festgelegt, dass die Studenten möglichst wenig mit ihren Familien zu tun haben sollen, aber ich konnte nichts Schlimmes daran finden, dir dies hier mitzubringen.«

Meine Familie. Ich drehe verwundert das Geschenk in meinen Händen hin und her. »Wie kommt das denn? Hat meine Familie zu dir Kontakt aufgenommen?«

»Ich hatte letzte Woche etwas in der Madison-Kolonie zu erledigen und habe erfahren, dass dein Vater dort ebenfalls einige Leute treffen wollte. Also habe ich beschlossen, mich bei ihm zu melden. Er hat mich gebeten, ein Geschenk deiner Familie mitzunehmen.«

Seine Worte sind freundlich. Ein netter Kerl, der einem Mädchen, das weit weg von zu Hause ist, einen Gefallen tut. Aber einige Augenblicke zuvor hat er nicht abgestritten, dass er zu einem früheren Zeitpunkt Dinge zu mir gesagt hat, an die ich mich nun nicht mehr erinnere. Ich halte das Geschenk in den Händen und weiß, dass es gerade um mehr geht, als es den Anschein hat.

Einen Moment lang treffen sich unsere Blicke. Ich suche in seinem Gesicht nach Antworten, als eine Stimme meinen Namen ruft. Ich drehe mich um und entdecke Tomas und einige der anderen, die mir mit Winken und Gesten zu verstehen geben, dass ich mich wieder zu ihnen gesellen solle. »Ich komme gleich«, rufe ich ihnen zu. Und als ich mich zurückdrehe, ist Michal fort.

Einige der anderen Studenten ziehen mich damit auf, dass mir ein Offizieller aus Tosu-Stadt ein Geschenk überreicht hat. Ich erkläre ihnen, dass Michal Gallen derjenige war, der mich zur Auslese abgeholt hat, aber daraufhin kichern die Mädchen nur noch mehr. Selbst Tomas hebt eine Augenbraue. Rasch werfe ich ihm einen beruhigenden Blick zu, mit dem ich ihm sagen will, dass ich ihm später alles erklären werde. Den Ursprung des Geschenks behalte ich für mich. Michal hat gegen die Regeln verstoßen, indem er mir diesen Gruß von zu Hause mitbrachte. Ich will nicht, dass er deswegen Ärger bekommt.

Der Himmel wird dunkel, und die Feier ist nun zu Ende. Tomas bringt mich zu meiner Tür und gibt mir einen zärtlichen Kuss. Dann – und das ist noch viel besser – sagt er mir, dass er mich liebe. Ich antworte ihm, dass ich denke, ich würde ihn auch lieben, und als mir Tomas daraufhin tief in die Augen schaut, um herauszufinden, ob ich auch die Wahrheit sage, scheint die Zeit stillzustehen. Nach einem letzten Kuss und Tomas’ Versprechen, mich am nächsten Morgen abzuholen, trennen wir uns.

Endlich bin ich allein mit meinem Geschenk. Mit einem Geschenk von zu Hause.

Zwar habe ich an die Tage vor meinem Geburtstag keine Erinnerungen, aber meine Familie hat mich in dieser Zeit nicht vergessen. Ich öffne die Schachtel und finde darin zwei Karten und ein getrocknetes Rosensträußchen in einem kleinen schmiedeeisernen Übertopf. Blumen, die mein Vater und meine Brüder in diesem Topf gezogen haben, den meine Mutter, wie sie mir mal erzählte, einst von ihrer eigenen Mutter geschenkt bekommen hatte. Ich könnte mir kein schöneres Geschenk vorstellen.

Ich stelle die Blumen auf den Tisch neben meinem Bett und lese die Karten. Eine stammt von Daileen, die mir schreibt, wie sehr sie mich vermisst. Sie verspricht mir, es nächstes Jahr auch hierher zu schaffen. Die andere Karte kommt von meiner Familie. Drei meiner Brüder haben in je einer Zeile hingekritzelt, wie sehr sie mich vermissen und dass sie mir einen schönen Geburtstag wünschen. Zeen dagegen schreibt, wie stolz er auf meinen Erfolg sei, und er entschuldigt sich für sein Verhalten am Abend vor meinem Aufbruch. Außerdem will er seinen Transit-Kommunikator wiederhaben.

Lachend suche ich in meiner Tasche nach dem Gerät und drehe es in den Händen. Bestimmt hat Dad längst einen neuen Kommunikator für Zeen besorgt. Aber ich werde ihm diesen hier trotzdem zurückschicken. Allerdings nicht, ohne ihn deswegen noch ein bisschen aufzuziehen. Dafür sind kleine Schwestern ja schließlich da.

Ich stecke das Gerät wieder in meine Tasche und schiebe sie unter mein Bett. Als ich zum Schrank gehe, um meinen Schlafanzug zu holen, höre ich ein Klicken.

So was Blödes! Ich muss das Ding versehentlich angeschaltet haben, als ich gegen die Tasche gedrückt habe.

Und tatsächlich habe ich irgendwie das Zwei-Wege-Radio in Gang gesetzt. Leider bin ich in Tosu-Stadt außer Reichweite zum Gegenstück in Dads Büro. So viel weiß ich, denn natürlich habe ich längst versucht, Kontakt aufzunehmen. Aber wer weiß? Nach einem Jahr oder mehr an der Universität finde ich vielleicht heraus, wie man das Signal verstärkt, sodass ich jederzeit mit meiner Familie sprechen kann.

Gerade will ich den Kommunikator wieder verstauen, als mein Blick auf eine Schramme auf der Rückseite fällt. Ich kann mich nicht daran erinnern, sie gesehen zu haben, als ich mir das Gerät zu Hause von Zeen ausgeliehen habe. Der Kratzer ist nur einen Zentimeter lang, aber seine unregelmäßige Form erinnert mich an etwas. An den Blitz auf meinem Erkennungsarmband. Ich betaste die eingeritzte Vertiefung mit einem Finger, und da spüre ich, wie etwas im Metall nachgibt. Ein Knopf? Bestimmt. Er ist zwar gut verborgen, aber auf der Rückseite des Geräts befindet sich definitiv ein Knopf. Kein Wunder, dass Zeen das Ding zurückhaben will, denke ich. Er hat es umgebaut. Wahrscheinlich habe ich das während der Auslese herausgefunden und diese Markierung als Erinnerungshilfe angebracht. Lächelnd lasse ich mich aufs Bett fallen, drücke auf den Knopf und warte darauf, dass etwas Unglaubliches geschieht. Denn wenn Zeen seine Finger im Spiel hat, passieren immer unglaubliche Geschichten.

Und in der Tat.

Ich blinzle verwundert, als sich der Raum mit einer Stimme füllt, die wie meine eigene klingt, und ich höre mit wachsendem Entsetzen zu, wie diese Stimme von Dingen berichtet, die so furchtbar und gewissermaßen unvorstellbar sind, dass ich sie einfach nicht glauben will …