Kapitel 8

Einmal, als ich noch ein Kind war, habe ich mir in den Finger geschnitten. Die Wunde ging bis auf den Knochen. Meine Mutter hat mir später erzählt, ich hätte weder geschrien noch geweint. Ich wäre einfach stocksteif stehen geblieben, als würde diese Reglosigkeit das Blut am Fließen hindern. Die Blutlache, die sich jetzt neben Malachis Kopf auf dem weißen Fußboden ausbreitet, hat den gleichen Effekt. Ein Schrei des Entsetzens steigt in meiner Brust auf und will sich seinen Weg durch meine zugeschnürte Kehle bahnen, aber ich gebe keinen Laut von mir. Die Rufe von jemand anders, vielleicht von Will, wecken mich aus meiner Starre, und ich bin mit einem Satz von meinem Arbeitstisch an der Seite von Malachi, der zuckend auf dem Boden liegt. Zwei purpurgewandete Arme packen mich und reißen mich zurück. In dem verzweifelten Versuch, mich zu befreien, höre ich kaum, was die hauptverantwortliche Prüferin zu mir sagt. Sie fragt mich, ob ich mit meiner Aufgabe fertig sei. Wenn nicht, müsse ich an meine Station zurückkehren – es bestünde sonst die Möglichkeit, dass ich mir einen Vorteil verschaffen könnte, indem ich heimlich die Arbeit der anderen Kandidaten in Augenschein nähme.

Ich will sie anschreien, dass der Test keine Rolle mehr spielt. Nicht solange Malachis Leben tropfenweise auf den Fliesenboden rinnt. Aber ich würge ein »Ja« hervor und werde losgelassen. Die Prüfer kümmern sich nicht um Malachi. Ich bin es, die seine Hand nimmt und festhält. Aus der Körperhaltung der anderen Offiziellen schließe ich, dass sie keinerlei Hilfe anbieten werden. Dies ist die Strafe für eine falsche Lösung der Aufgabe. Für sie verdient Malachi das, was als Nächstes geschehen wird.

Das Zucken wird schlimmer. Malachi hat sein unverletztes Auge geöffnet, aber ich bin mir nicht sicher, ob er etwas sehen kann oder ob die Pflanzen, die er in seinem Magen hat, eine Art Koma hervorgerufen haben, während sie in seinem Körper wüten. Für alle Fälle rücke ich auf dem kalten Fliesenboden näher in sein Blickfeld. Falls Malachi etwas sieht, dann wird er in mir jemanden von zu Hause erkennen. Er wird das Mädchen erblicken, das einst mit ihm im Gras saß und Lieder sang und das ihn um Hilfe bat, wenn es mit den Hausaufgaben nicht zurechtkam. Das Mädchen, das seine Freundin war und das sich jetzt nicht vorstellen kann, was werden soll, wenn er fort ist.

Nur dass ich mir das gar nicht mehr vorzustellen brauche. Das Zucken ist vorbei. Seine Muskeln werden schlaff, als seine Brust aufhört, sich zu heben und zu senken.

Malachi ist tot.

Weine ich? Vermutlich. Als die Offiziellen mir sagen, ich solle an meinen Arbeitstisch zurückkehren, wische ich mir übers Gesicht und merke, dass meine Wangen nass sind. Keine Ahnung, wie lange sie mich neben Malachis reglosem Körper haben sitzen lassen. Eine ganze Weile jedenfalls. Lange genug, damit zwei der anderen Kandidaten ihre Arbeit beenden können. Vielleicht hören die übrigen Prüflinge aber auch lieber vorzeitig auf, anstatt irgendein Risiko einzugehen – nun, wo sie gesehen haben, was Malachi zugestoßen ist.

Ein letztes Mal drücke ich Malachis Hand, streiche ihm eine dunkle Haarlocke aus der Stirn und küsse ihn auf die Wange. Der Raum schwankt und dreht sich um mich herum, als ich aufstehe. Ich brauche noch einen Augenblick, bis ich es schaffe, mit steifen Beinen zu meinem Pult zurückzukehren. Vorsichtig nehme ich auf meinem Hocker Platz und warte darauf, dass die Offiziellen Malachis toten Körper hinaustragen, aber das tun sie nicht. Noch nicht. Nicht bevor alle diesen Teil des Tests beendet haben.

Ich warte darauf, dass die anderen Kandidaten protestieren und sagen, dass das nicht in Ordnung sei. Aber ich weiß längst, dass sie das nicht tun werden. Und zwar aus dem gleichen Grund, der auch mich zum Schweigen bringt. Der Grund ist Malachis stiller, allzu stiller Körper.

Wir alle wollen leben.

Einige Minuten später hebt Will seine Hand, um anzuzeigen, dass er fertig sei. Dann schließt er die Augen, um nicht die leere Hülle des Jungen sehen zu müssen, mit dem er seine Mahlzeiten geteilt hat. Das Mädchen neben mir beendet seine Arbeit ebenfalls. Die Prüferin schaut sich die Ergebnisse an. Als sie fertig ist, gibt sie den anderen Offiziellen einen Wink, damit sie Malachi wegschaffen. Meine Kameraden bei diesem Test starren auf ihre Tische oder zur Decke hinauf.

Ich nicht.

Malachi verdient es, dass es jemand wichtig findet, ganz bewusst Abschied von ihm zu nehmen. Ich zwinge mich dazu, die ganze Zeit lang hinzuschauen. Ich sehe zu, wie sie ihn aufheben und an Armen und Beinen quer durch den Raum und zur Tür hinaustragen.

Nun ist er fort.

Uns bleibt keine Zeit zum Trauern. Schon werden die nächsten Kisten gebracht und vor uns auf den Tischen abgestellt. Dann bekommen wir das Startsignal. Meine Hände zittern, denn ich rieche die Blutflecke auf dem Boden. Ich zwinge mich dazu, tief ein-und auszuatmen und weiterzumachen, auch wenn ich nichts lieber will, als schreiend aus dem Raum zu rennen – das Gebäude zu verlassen – nach Hause zurückzukehren.

Da ich aber weiß, dass das im Moment nicht möglich ist, trockne ich meine Hände an den Hosenbeinen ab, schlucke meine Tränen hinunter und untersuche die vor mir stehende Box. Ich brauche mehrere Versuche, um herauszufinden, wie man sie öffnet. Im Innern befinden sich Bodenproben und verschiedene verschlossene Bechergläser mit Lösungen. Wir sollen jene Proben bestimmen, die kontaminiert sind.

Ich benutze nur solche Chemikalien, die ich bereits am Geruch und an der Farbe identifizieren kann. Von den zehn Proben bin ich mir bei vieren sicher, dass sie verstrahlt sind, bei dreien, dass sie nicht verseucht sind, und bei dreien bin ich mir unschlüssig und wage nicht zu raten. Wenn dies der erste Prüfungsteil gewesen wäre, wenn er vor der Pflanzenaufgabe stattgefunden und ich Malachis zuckenden, blutenden Körper noch nicht gesehen hätte, dann wäre ich vermutlich arrogant genug gewesen, Selbstvertrauen zu heucheln. Jetzt geht das nicht mehr. Malachi hat einen Fehler gemacht, der ihn das Leben gekostet hat. Es wäre sinnlos, wenn er einen solchen Preis bezahlt hätte, ohne dass ich daraus meine Lehren ziehen würde.

Nacheinander bekommen wir noch vier weitere Kisten vorgesetzt. In einer befindet sich eine Tastatur, mit der wir unsere Lösungen für komplexe mathematische Gleichungen eintippen müssen. Ich beantworte nur die Hälfte davon und bin froh, dass ich mich bei der letzten Aufgabe nicht aufs Raten verlegt habe, denn der Junge vor mir beginnt zu zittern. Elektroschock. Die Bestrafung ist keineswegs so hart wie die von Malachi, aber der Bursche kann sich kaum noch auf seinem Hocker halten, um die Arbeit an den nächsten drei Kisten durchzustehen.

Ich identifiziere drei Viertel der Gegenstände auf Objektträgern, die wir uns unter einem Gerät anschauen sollen, das wie eine Art Mikroskop aussieht. Glücklicherweise muss keiner erfahren, wie Fehler bei dieser Aufgabe geahndet werden. Dann gibt es da noch einen Konverter für Solarenergie, den ich mühelos zusammenbaue, während das Mädchen neben mir eine Fingerkuppe dabei einbüßt. Wir bekommen sechs Wasserproben vorgesetzt und müssen diese mithilfe der bereitgestellten Chemikalien säubern. Dieser Klärungsprozess dauert allein zwei Stunden, und wir werden aufgefordert, die Proben, die wir für unbedenklich gehalten haben, zu trinken. Ich probiere zwei. Der Junge mit dem Stromstoß und das Mädchen neben mir lassen alle stehen.

Die zweite Runde der Auslese ist vorüber.

Wir dürfen endlich den Raum verlassen.

Will kann kaum noch laufen. Ich weiß nicht, ob es am Stress liegt, am Wasser, das er getrunken hat, oder an einer Giftpflanze mit verzögerter Wirkung, die er möglicherweise zu sich genommen hat. Seine Beine zittern, als er kleine stockende Schritte macht. Ich lege ihm einen Arm um die Taille und stütze ihn auf dem Weg aus dem Prüfungsraum hinaus. In der Tür bleibe ich stehen und werfe einen letzten Blick zurück zu der Stelle, an der Malachi sterbend zu Boden gestürzt und an der sein Blut auf den Fliesen getrocknet ist. Eine Träne rollt mir über die Wange. Im Stillen sage ich Malachi Lebewohl. Dann versuche ich, meinen Atem zu beruhigen, und führe Will weg. Und die ganze Zeit über frage ich mich, wer an unserem Tisch noch alles fehlen wird.

Es ist Boyd.

Die aschfahle Nicolette berichtet uns, dass er während der dritten Prüfung plötzlich zusammengebrochen und weggebracht worden sei, um behandelt zu werden. Er sei nicht zurückgekehrt. Alle Blicke wenden sich mir und Will zu, der inzwischen zwar auf einen Stuhl gesunken ist, aber ohne Hilfe nicht aufrecht sitzen kann. Tränen steigen mir in die Augen, und Tomas nimmt meine Hand und hält sie fest. Ich bin ihm dankbar für seine wortlose Unterstützung. Und dafür, dass er überlebt hat. Ich erzähle so rasch wie möglich, was in unserem Prüfungsraum geschehen ist, denn ich sage mir, dass es wie bei einem Pflaster ist. Je rascher man es abreißt, desto weniger Schmerz verspürt man. Aber diesmal liege ich falsch. Schnell oder langsam spielt keine Rolle. Über Malachis Tod zu sprechen, das ist, als ob mir jemand ein Messer ins Herz sticht. Als ich sehe, wie Tomas die Zähne zusammenbeißt und Zandris Augen sich mit Tränen füllen, kommt es mir vor, als würde das Messer auch noch herumgedreht, bis ich das Gefühl habe, nicht mehr atmen zu können.

Die letzten Prüflinge kommen in den Speisesaal gewankt, und eine Durchsage ertönt. »Alle Kandidaten, die meinen, medizinische Versorgung zu benötigen, melden sich bitte bei den Aufzügen.«

An jedem Tisch steht mindestens ein Prüfling auf und geht hinaus auf den Gang. Nicolette rät Will, sich ebenfalls Hilfe zu holen. Er stemmt sich mühsam von seinem Stuhl hoch, doch ich drücke ihn wieder runter und sage ihm, er solle es lassen. Ich mustere prüfend sein Gesicht. Seine Pupillen sind geweitet, aber er bekommt wieder leichter Luft. Zwar ist seine Haut noch immer kalt und feucht, aber langsam kehrt Farbe in seine Wangen zurück. Mein Bauchgefühl sagt mir: Was auch immer diese Reaktion hervorgerufen hat, wird nach und nach abgebaut werden. Glaube ich, dass die richtige Medizin ihm dabei helfen würde, schneller wieder auf den Damm zu kommen? Daran besteht gar kein Zweifel. Aber ich erinnere mich auch an Dr. Barnes’ Worte draußen auf dem Gang, als man Ryme von der Decke schnitt. Dass die Tests zeigen würden, wie viel Druck ein Kandidat aushalten könne. Dass es darum ginge, jene herauszufiltern, die mit Belastungssituationen umgehen und auch in Ausnahmesituationen als Anführer auftreten können. Ich bezweifle, dass jene, die sich medizinisch versorgen lassen, für ausreichend starke Führungspersönlichkeiten gehalten und danach wieder zu uns zurückgeschickt werden.

Nicolette fleht mich geradezu an, aber ich lasse Will nicht gehen. Ich kann es nicht.

Das Abendbrot wird aufgetragen. Ich bitte Tomas, Will etwas zu essen und zu trinken zu holen. Das wird ihm sicher guttun. Ich hoffe, dass ich richtigliege.

Nachdem Will zwei Gläser Saft und einige Bissen Brot und Obst zu sich genommen hat, fühlt er sich besser. Da er inzwischen sitzen kann, ohne dass man ihn stützen muss, gehe ich nun selbst los, um mir meine Mahlzeit zusammenzustellen. Allerdings bemerke ich hinterher, dass ich mir mehr aufgetan habe, als ich wahrscheinlich schaffen werde, denn ich spüre keinen Hunger. Ich esse ein wenig Gemüse und einige Happen Hühnchen. Trinke etwas Saft. Die beiden Äpfel, die Orange, die Tüten mit Rosinen und die Brötchen wandern Stück für Stück in meine Tasche. Ich warte, bis meine Freunde satt sind, und verstaue ebenfalls alles bei mir, was sie übrig gelassen haben. Warum? Ich weiß es nicht. Ich bin an einem Punkt angelangt, an dem ich gar nichts mehr weiß. Nur, dass es besser ist, auf alles vorbereitet zu sein, als ohne Vorsichtsmaßnahmen in die nächste Prüfung zu stolpern.

Ich merke, dass die meisten Kandidaten im Speisesaal bleiben, bis man uns auffordert zu gehen. Die gestrige Feier ist nichts als eine ferne Erinnerung.

Heute sind wir nur froh, dass wir immer noch am Leben sind.

Wir kehren in unsere Quartiere zurück. Ich schlafe mit brennendem Licht ein in der Hoffnung, dass Malachi und Boyd sich in meinen Träumen nicht zu Ryme und Gill gesellen. Aber Malachi kommt. Sie kommen alle. Nur dieses Mal gilt die schreckliche Angst in ihren Augen mir. Sie warnen mich, ich solle vorsichtig sein. Ryme schärft mir ein, niemandem zu trauen. Malachi singt mir ein Lied von zu Hause vor.

Die nächtliche Angst findet ihren Höhepunkt bei der morgendlichen Durchsage. Als es Zeit wird, sich zum Frühstück einzufinden, rede ich mir ein, dass ich für den Tag gewappnet bin, ganz gleich was er bringen mag.

Will wirft mir ein Lächeln zu, als ich an unserem Tisch Platz nehme. Seine Augen sind traurig, aber er sieht nicht mehr krank aus. Welche seltsame Pflanze auch immer er verspeist hat, sie hat seinen Körper wieder verlassen. Er flüstert mir einen leisen Dank zu und erzählt, dass sich Tomas’ Zimmerkamerad hat behandeln lassen. Er ist noch immer nicht wieder da.

Ich zwinge mich zu essen, und dieses Mal sehe ich, dass auch jemand anders Lebensmittel in seine Tasche steckt. Tomas sieht, was ich bemerkt habe, und nickt mir bestätigend zu, als der Lautsprecher zu knacken beginnt.

»Gratulation an alle Kandidaten, die die Teamphase der Auslese erreicht haben. Für diesen Prüfungsteil werdet ihr in Fünfergruppen eingeteilt. Aufgrund der Zahl der verbleibenden Kandidaten wird es eine Gruppe geben, die aus nur vier Mitgliedern besteht. Wenn ihr euren Namen hört, geht ihr bitte auf den Gang hinaus und schließt euch dort eurer Testgruppe an. Viel Glück euch allen.«

Wir sitzen zu fünft an unserem Tisch. Mir bleibt nicht einmal Zeit für die verrückte Hoffnung, dass wir alle in einer Gruppe landen könnten, denn schon wird Tomas zusammen mit vier anderen aufgerufen, deren Namen ich nicht kenne. Tomas streichelt mir kurz über den Arm, als er sich seine Tasche über die Schulter streift und aufbricht. Einige Minuten vergehen, ehe das nächste Team verkündet wird. Will und Zandri versprechen mir, dass wir uns später wiedersehen werden, und verschwinden durch die Tür.

Nicolette und ich starren einander an, während Gruppe für Gruppe den Saal verlässt. Schließlich wird Nicolettes Name zusammen mit vier anderen verlesen. Sie und ich werden auch die nächste Prüfung nicht gemeinsam durchstehen. Ein plötzlicher Schreck durchfährt mich und lässt das Frühstück in meinem Magen verklumpen, als ich den Blick durch den Raum wandern lasse und sehe, dass der Junge mit dem struppigen Haar, der Malachi an unserem ersten Tag zum Stolpern gebracht hat, noch am Tisch sitzt. Sowohl er als auch ein großer, muskulöser blonder Junge und ein rothaariges Mädchen, an das ich mich vom schriftlichen Teil der Prüfungen her erinnere, werden bei dieser Testphase in meiner Gruppe sein. Wir bilden das einzige Team, das nur aus vier Kandidaten besteht.

»Warten wir darauf, dass wir aufgerufen werden, oder ersparen wir ihnen die Arbeit?«, fragt die Rothaarige.

Ich lächele sie an und stehe auf: »Wenn wir jetzt noch nicht wissen, wer in unserer Gruppe ist, gehören wir ganz bestimmt nicht hierher, oder?«

Die beiden Jungen bleiben sitzen, aber die Rothaarige steht auf. Gemeinsam gehen wir auf den Flur hinaus, wo sie mir ihre Hand entgegenstreckt. Auf ihrem Armband sehe ich einen Halbkreis, der vom achtzackigen Stern-Symbol umschlossen ist, das wir beide gemeinsam haben.

»Annalise Walker. Grand-Forks-Kolonie.«

»Cia Vale. Five Lakes.«

Sie grinst mich breit an. »Ich weiß. Alle, die aus meiner Kolonie hier sind, haben sich bislang für kein anderes Gesprächsthema als die Kandidaten aus Five Lakes interessiert.«

Ich zucke innerlich zusammen. »Was haben sie denn gesagt?«

»Die meisten waren der Meinung, ihr wärt keine ernst zu nehmende Konkurrenz. Sie setzen kleine Kolonien mit geistiger Beschränktheit gleich.«

Das selbstzufriedene Lächeln auf ihrem Gesicht lässt mich fragen: »Und was denkst du?«

»Einer der Jungen aus meiner Kolonie trägt das gleiche Symbol wie du: den achtzackigen Stern. Er war immer der Einzige in meiner Klasse, der in Prüfungen besser als ich abschnitt. Ich habe wochenlang gebüffelt, um ihn wenigstens einmal zu schlagen, aber es ist mir nie gelungen.« Sie zuckt mit den Achseln, als ob sie mir sagen will, dass es ihr nicht das Geringste ausmacht, nur die Zweitbeste gewesen zu sein, aber das Glitzern in ihren Augen erzählt eine ganz andere Geschichte. Lächelnd fügt sie hinzu: »Wenn es sogar zwei von euch aus Five Lakes in die gleiche Testgruppe geschafft haben wie wir beide aus Grand Forks, dann würde ich mal sagen, dass es ziemlich dumm von den anderen Kandidaten ist, euch zu unterschätzen.«

Aus dem Lautsprecher tönt es: »Malencia Vale, Brick Barron, Roman Fry und Annalise Walker – findet euch auf dem Gang ein.«

Brick. Roman. Ich überlege, welcher Name zu welchem Jungen gehört, als sie auf uns zukommen. Ehe ich nachfragen kann, drängt uns ein Offizieller in Rot in Richtung Aufzüge und drückt den Knopf für den vierten Stock.

Wir werden in einen weißen Raum geführt, in dem ein Tisch steht, der von vier Stühlen umringt ist. An der linken Seite des Zimmers sehe ich eine große Holztür, über der ein grünes Lämpchen leuchtet. Auf dem Tisch in der Mitte liegen vier Bleistifte und vier Hefte mit unseren Symbolen. Der Knoten in meinem Magen löst sich ein wenig, als ich das Papier sehe. Zwar habe ich keine Ahnung, was auf diesen Seiten abgefragt werden wird, aber eines weiß ich mit Sicherheit: Ein schriftlicher Test stellt keine unmittelbare Bedrohung dar. Keiner meiner Freunde wird bei der heutigen Prüfung sterben.

Als wir uns hingesetzt haben, beginnt die Offizielle zu erklären: »Der heutige Test soll eure Fähigkeit prüfen, in einem Team zu arbeiten. Auf dem Tisch vor euch findet ihr Hefte mit fünf Probeaufgaben. Die Lösung jedes Problems erfordert eine besondere Fähigkeit. Als Gruppe müsst ihr entscheiden, welches Teammitglied über Fertigkeiten verfügt, die am besten geeignet sind, ein ähnliches Problem in einem der fünf gesonderten Prüfungsräume zu bewältigen. Sobald ihr entschieden habt, wer am ehesten für welche Aufgabe geeignet ist, wird diejenige Person, die ihr dazu bestimmt habt, als Erste ein Problem zu lösen, durch diese Tür da gehen.« Sie zeigt auf die Tür unter dem grünen Licht. »Sobald ihr diesen Raum verlassen habt, wird das Licht darüber rot werden. Ihr müsst dann dem Gang bis zum Ende folgen. Dort werdet ihr fünf Türen vorfinden, auf denen jeweils eine Zahl zu lesen ist. Diese Zahlen korrespondieren mit den Nummern der Beispielaufgaben in eurem Heft. Es gibt auch eine Tür mit der Aufschrift AUSGANG, wenn ihr euren Beitrag für diese Prüfung beendet habt. Öffnet die Tür mit der Nummer der Aufgabe, die euer Team für euch ausgewählt hat. Im Raum dahinter löst ihr das Problem, so gut ihr es könnt. Wenn ihr euren Teil des Tests erledigt habt, zeigt ihr, dass ihr fertig seid, indem ihr durch die Ausgangstür geht. Das Licht über dieser Tür hier wird dann wieder grün werden. Dies ist das Signal, dass es für den nächsten Kandidaten Zeit wird. Jedes Gruppenmitglied wird Punkte für alle korrekten Antworten während der Prüfung erhalten, nicht nur für seinen jeweils eigenen Teilbereich.«

Die Vorstellung, aufgrund der Leistungen anderer benotet zu werden, gefällt mir ganz und gar nicht, aber Annalises zuversichtliches Lächeln nimmt mir einen Teil meiner Bedenken.

Die Prüferin ist noch nicht fertig. »Weil ihr in dieser Gruppe nur vier Prüflinge seid, wird ein Mitglied für die Lösung von mindestens zwei Aufgaben verantwortlich sein. Sobald ein Prüfungsteil fertig ist, darf die Tür mit dieser Nummer kein zweites Mal geöffnet werden. Jeder Versuch, sich einer bereits bearbeiteten Aufgabe zuzuwenden, wird mit einer Strafe für den Prüfling geahndet werden, der diesen zweiten Lösungsversuch unternimmt. Ihr habt eine Stunde Zeit, um eure Strategie abzusprechen.« Die Offizielle drückt einen Knopf, und das grüne Licht wird von einem roten abgelöst.

»Wenn das grüne Licht angeht, könnt ihr mit dem Test beginnen. Es gibt für diesen Prüfungsteil kein Zeitlimit. Lasst euch also so viel Zeit, wie ihr benötigt, um die Stärken und Schwächen eurer Teamkollegen auszuloten. Viel Glück.«

Die Offizielle verlässt den Raum, und wir hören das einrastende Schloss. Der einzige Weg aus diesem Zimmer führt durch die Türen der Prüfungsräume.

Einen Moment lang schauen wir vier uns an. Ich greife als Erste nach dem Heft mit meinem Symbol. Der große, muskelbepackte blonde Junge nimmt sich sein Exemplar, auf dem ich einen Anker zu erkennen glaube, der von einem Herz eingerahmt ist. Das X mit einem Kreis darum gehört zu dem Strubbelkopf.

Irgendetwas an dieser Prüfung macht mich stutzig. Vielleicht sind es die unkomplizierten Anweisungen, oder es ist der Gedanke, dass ein anderer Punkte für meine Leistungen bekommen wird und umgekehrt. Was immer es sein mag: Bei diesem Test muss es um mehr gehen, als man auf den ersten Blick vermuten würde. Ich spüre es förmlich, kann aber nicht lange darüber nachdenken, denn Annalise ergreift die Initiative. »Wie wäre es, wenn wir die Musteraufgaben nacheinander durchgehen? Wenn jeder mit seiner Aufgabe fertig ist, vergleichen wir unsere Notizen. Das sollte uns dabei helfen herauszufinden, wer dann welchen Prüfungsteil übernehmen soll. In Ordnung?«

Da keiner von uns eine bessere Idee hat, greifen wir ihren Vorschlag auf und machen uns an die Arbeit. Die erste Aufgabe stammt aus dem Bereich Mathematik: eine eindimensionale Wärmeleitungsgleichung, um den Hitzefluss in einem Stück Draht zu berechnen, das mit Ausnahme beider Enden vollständig isoliert ist. Solche Gleichungen habe ich schon oft gelöst, und ich lächele, als ich mich an die Arbeit mache.

Ich bin überrascht, als der zerzauste Junge, der sich als Roman herausstellt, noch vor mir fertig ist und das gleiche Ergebnis hat wie ich. Auch Annalises Antwort stimmt mit unseren überein. Bricks allerdings nicht.

Aufgabe für Aufgabe gehen wir unsere Hefte durch. Da gibt es eine Geschichtsfrage, bei der es um Daten, Namen und Einwohnerzahlen in den Kolonien des Vereinigten Commonwealth geht. Im Biologieteil wird nach der DNA eines Bergmarders gefragt, der einem Wolf ähnelt, in Wahrheit aber eine Mutation der Nebelung-Katze ist. Während ich die Frage über Solarkraft beantworte, schaltet das Licht von Rot auf Grün um. Wir können jederzeit mit der Prüfung beginnen. Vielleicht lenkt mich das Leuchten zu sehr von der Beantwortung der letzten Frage ab, bei der es um die Grundlagen von Atomwaffen geht. Alle anderen sind vor mir fertig, Brick als Erster. Seine Antwort ist die gleiche wie die der beiden anderen. Auf mein Ergebnis ist keiner gekommen.

Bei fünf Fragen haben meine Antworten vier Mal mit mindestens einer der Lösungen der anderen Kandidaten übereingestimmt. Auch Annalise hatte vier Treffer, Brick zwei. Romans erste Antwort war seine einzige richtige.

»Ich schätze, das heißt, dass ich als Erster gehe, nicht wahr?«, sagt er.

Ich bin mit Abstand das jüngste Gruppenmitglied. Zu Hause wäre mein Instinkt gewesen, mir zunächst die Meinung der anderen anzuhören, ehe ich selbst etwas zur Diskussion beigetragen hätte, aber irgendetwas an Romans Eifer kommt mir seltsam vor. Statt abzuwarten, erwidere ich: »Die Offizielle hat nichts davon gesagt, dass die Aufgaben der Reihe nach bearbeitet werden müssen, wie sie hier im Musterheft stehen. Wir müssen nur die Reihenfolge bestimmen, in der wir die Mitglieder unserer Gruppe losschicken.«

Roman verschränkt die Arme vor seiner Brust und runzelt ärgerlich seine Stirn. »Das habe ich aber ganz anders verstanden.«

Ich schaue zu Annalise. Sie kaut auf ihrer Unterlippe herum und schließt ihre Augen, während sie versucht, sich an den genauen Wortlaut zu erinnern. Als sie die Lider wieder öffnet, sieht sie mich entschuldigend an. »Ich denke, Roman hat wohl recht. Sicher könnten wir es auch anders versuchen, aber vielleicht fallen wir dann durch. Dieses Risiko will ich nicht eingehen.«

Roman lächelt. Brick zuckt die Achseln und nickt schweigend. Drei gegen eine. Damit ist die Sache also klar.

Annalise führt bei der Entscheidungsfindung das Wort. Roman wird die erste Aufgabe beantworten. Sie selbst die zweite und die dritte. Ich werde mich um die vierte kümmern, Brick um die fünfte. Obwohl ich zu bedenken gebe, dass mir die dritte Aufgabe besser liegen könnte, da ich dank der Arbeit meines Vaters ein gutes Verständnis von Genetik habe, lassen sich Roman und Annalise nicht mehr von ihrer Reihenfolge abbringen. Brick lehnt es ab, seine Meinung zu äußern. Irgendwo im Hinterkopf bin ich erstaunt darüber, doch da steht Roman auch schon auf und sagt: »Ich sehe euch dann nach der Prüfung.« Er drückt die Klinke an der Tür unter der grünen Lampe runter und geht hinaus, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Das Licht wird rot. Wir warten.

Zuerst versuchen wir, uns zu unterhalten. Annalise fragt Brick, wo er herkomme, und er erzählt uns, dass er aus der Roswell-Kolonie stammt. Seine Eltern haben beide einen Universitätsabschluss. Sie arbeiten auf einer früheren Militärbasis, wo sie gemeinsam Waffen und Sicherheitsmaßnahmen für Kolonien entwickeln, die unter Angriffen von wilden Tieren leiden. Kein Wunder, dass er bei der Frage zu Atomwissenschaften keinerlei Probleme hatte.

Die Minuten verstreichen, und unsere Konversation wird mühsamer. Immer größer werden die Zeiträume zwischen den einzelnen Fragen. Die Antworten fallen zunehmend kürzer aus, und schließlich verstummen wir ganz. Wir warten schweigend darauf, dass das Licht wieder umschaltet.

Es gibt keine Uhr im Raum. Auch kein Fenster, sodass wir am Stand der Sonne die Tageszeit hätten abschätzen können. Es gibt keine Möglichkeit herauszufinden, ob die Zeit, die bereits vergangen ist, so lang ist, wie es sich anfühlt. Meine Schultermuskeln verkrampfen. Ich sehe, dass Annalise ihren Hals hin und her dreht, um eine Verspannung zu lockern. Brick ist der Einzige, dem die Warterei nichts auszumachen scheint.

Er schließt die Augen.

Annalise kaut an ihrem Daumennagel.

Ich recke und strecke mich.

Jede Minute fühlt sich an wie zehn. Keine Sekunde lasse ich das Licht aus den Augen.

Und endlich springt es um. Annalise steht auf und lächelt. »Ich bin dran. Ich wette, ich kann meine beiden Aufgaben schneller lösen als Roman sein eines Problem.« »Überstürze nichts«, warne ich sie und merke, wie meine Wangen sich röten, als mir auffällt, dass es geklungen haben könnte, als wenn ich sie kritisieren wollte. »Es macht uns nichts aus zu warten«, füge ich hastig hinzu. »Lass dir so viel Zeit, wie du benötigst.«

Annalises Lächeln versiegt, als sie meinen Blick auffängt. Tief in ihren Augen sehe ich die Nervosität und die Furcht, die hinter ihrer vorgespielten Forschheit lauern, die ich in der kurzen Zeit, die wir uns erst kennen, schon zu bewundern begonnen habe. Dann kehrt ihr Lächeln zurück, und sie nickt. »Ich verspreche euch, dass ich Aufgabe zwei und drei im Handumdrehen lösen werde. Der Rest liegt dann bei euch beiden.«

Die Tür schließt sich hinter ihr. Das rote Licht flammt wieder auf. Und auch das Schweigen ist zurückgekehrt. Brick sitzt reglos da. Seine ruhige, gelassene Art hat den gegenteiligen Effekt auf mich. Ich stehe auf und tigere im Raum auf und ab. Plötzlich knurrt mein Magen. Ich bin mir ganz sicher, dass die Mittagszeit lange vorbei ist. Es ist offenkundig, dass wir bis zum Ende des Tests nichts zu essen bekommen werden. Vielleicht ist ja auch das ein Teil der Prüfung: zu sehen, ob die Kandidaten sich dann immer noch konzentrieren können, wenn sie hungrig sind.

Meine Mutter hat stets darauf bestanden, dass ich morgens alles aufesse, was auf meinem Teller liegt, wenn an dem betreffenden Tag eine wichtige Prüfung anstand. Sie sagte immer, dass Gehirn und Körper Energie bräuchten, um Höchstleistungen vollbringen zu können. Ich krame in meiner Tasche nach meinen gehamsterten Vorräten und versuche, mich zwischen einem Rosinen-Nussbrötchen und einem Apfel zu entscheiden. Da sich das Brötchen leichter mit Brick teilen lässt, will ich es gerade herausnehmen, als mir auffällt, dass ich mich auch am ersten Abend der Auslese dafür entschieden hatte. Ich zähle die Tage zurück. Weniger als eine Woche ist vergangen, doch nichts ist mehr so, wie es an jenem Abend war, als wir vier aus Five Lakes ankamen und uns unseren Tisch suchten. Malachi lebt nicht mehr, und ich arbeite in einer Gruppe mit dem Jungen, der ihn hatte zu Fall bringen wollen. Hatte Roman sein Bein aus Bosheit ausgestreckt? Aus Spaß? Hat er vielleicht geglaubt, er würde Malachi so einschüchtern, dass der schlechter bei den Prüfungen abschneiden würde, als er eigentlich in der Lage wäre, wodurch sich Romans Chancen auf einen Universitätsplatz erhöhen könnten? Vielleicht. Allerdings: Roman hatte heute nur eine einzige Aufgabe richtig. Wie schlau kann er da schon sein? Seine Antwort auf die letzte Frage ist so unlogisch gewesen, dass ich es mir nur schwer erklären kann, wie er überhaupt so weit hat kommen können.

Augenblick mal.

Ich nehme das Heft mit dem X und dem Kreis drum herum zur Hand. Romans Handschrift ist sauberer, als ich es seinem Erscheinungsbild nach erwartet hätte. Ich höre die warnende Stimme meiner Mutter, dass ich mich niemals vom äußeren Eindruck blenden lassen solle, und lese die Seite mit Zahlen und Formeln für die erste Aufgabe. Seine Lösung beeindruckt mich. Zwar bin ich auch auf das richtige Ergebnis gekommen, aber Roman hat offensichtlich einige Berechnungen im Kopf angestellt, was der Grund dafür war, dass er als Erster fertig war. Seine Bearbeitung der Aufgabe verrät deutlich, warum er für die Auslese ausgewählt worden ist. Er ist schlau. Sehr schlau.

Und das ist der Grund, warum seine Antworten auf die anderen Fragen keinen Sinn ergeben. Bruchstückhafter Unsinn füllt die nächsten Seiten. Wir waren alle so beschäftigt damit herauszufinden, wer die richtigen Lösungen für die einzelnen Fragen hatte, dass wir uns weder um die Aufzeichnungen der anderen gekümmert haben noch um die Wege, wie sie zu ihren Ergebnissen gekommen sind.

Romans Kritzeleien machen eines offensichtlich: Ihm ging es gar nicht darum, richtige Antworten zu finden. Er hat einfach nur abgewartet. Warum?

»Cia.«

Ich schrecke zusammen, als Bricks Stimme die Stille durchbricht, und folge seinem Blick zum Licht über der Tür. Grün. Wenn ich es schätzen sollte, würde ich sagen, dass noch nicht einmal eine halbe Stunde vergangen ist, seitdem Annalise durch die Tür verschwunden ist. Kann sie wirklich ihre beiden Aufgaben in so kurzer Zeit bewältigt haben? Mit zitternden Händen nehme ich das Heft mit dem anderen achtstrahligen Stern und blättere die Seiten durch.

Ja. Ihre Aufzeichnungen sind klar. Stimmig. Selbstbewusst. Ihre logischen Schlüsse weisen keine Widersprüche auf, soweit ich das sehen kann. Wenn irgendjemand zwei Tests in weitaus weniger Zeit durchziehen könnte als ein anderer Kandidat, der nur eine Aufgabe zu erledigen hatte, dann wäre das Annalise. Und trotzdem …

»Gehst du rein?«, fragt Brick.

»In einer Minute«, sage ich. Durch die Tür zu treten ist meine einzige Option. Der alleinige Weg, diesen Prüfungsteil hinter mich zu bringen. Das Problem ist das, was geschehen wird, wenn ich den Raum verlassen habe. Ich denke zurück an die Anweisungen der Offiziellen. An Romans Beharren darauf, als Erster zu gehen. Nur eine einzige Antwort ist pro Frage erlaubt. Punkte pro Antwort zählen für uns alle. Jeder Versuch, eine Problemstellung ein zweites Mal zu lösen, wird bestraft werden.

Annalises Prüfungsheft fällt mir aus den Fingern, und meine Knie werden weich, als sich plötzlich alles zusammenfügt. Romans mangelnde Anstrengung bei den anderen Aufgaben. Die lange Zeit, die es gedauert hat, bis das rote Licht nach seiner Runde wieder grün wurde. Dr. Barnes hat uns eingeschärft, dass es bei diesem dritten Test nicht nur um unsere Fähigkeit gehe, mit anderen zu kooperieren, sondern auch darum, die Stärken und Schwächen der Mitstreiter korrekt einzuschätzen. Wenn ich recht habe, dann hat Roman unsere Gruppe vollkommen richtig beurteilt und will uns dazu bringen, in seine Falle zu tappen.

Eine Falle, die Annalise bereits zum Verhängnis geworden sein muss.

Ich lasse mich schwer auf den Stuhl hinter mir fallen und hole einige Male tief Luft, um die aufsteigende Panik in den Griff zu bekommen. Wenn ich recht habe, dann darf ich auf keinen Fall versuchen, die Aufgabe zu lösen, die mir mein Team zugeteilt hat. Wenn ich mich hingegen irre und keinen Versuch unternehme, meinen Teil zu bearbeiten, könnte das bedeuten, dass ich die Prüfung nicht bestehe. Ich muss mich entscheiden, was ich glauben will.

Mein Herz hämmert, als ich Brick anschaue. Sein ruhiges Verhalten und sein dürftiges Abschneiden bei den Übungsaufgaben bekommen einen schalen Nachgeschmack. Weiß er von Romans Plan? Haben sie ihn gemeinsam ausgeheckt? Bricks Heft könnte mir die Antworten auf diese Fragen geben, aber es befindet sich im Augenblick auf dem Tisch vor ihm unter seinem Ellbogen. Um an seine Musteraufgaben zu kommen, muss ich ihm meine Bedenken anvertrauen. Wenn er nichts mit Romans Falle zu tun hat, wird er von mir davon erfahren und die Prüfung bestehen, obwohl er es gar nicht verdient hätte.

Brennend heiße Scham überkommt mich. Eine sich aufdrängende, Übelkeit erregende Verlegenheit. Meine Gedanken machen mich zu einer Person, die nicht viel besser ist als Roman. Ich werde nicht so tief sinken, andere ins offene Messer laufen zu lassen, nur um Konkurrenten loszuwerden. Die Methoden der Prüfungskommission lassen mich schaudern vor Entsetzen, aber ich bezweifle, dass die Prüfer, die uns am Ende beurteilen werden, Fallstricke für andere gutheißen werden. Was für ein Anführer würde so eine Art von Mensch schon werden?

Ich versuche, mir an Bricks gelassenem Auftreten ein Beispiel zu nehmen, und erkläre ihm ruhig, was meiner Meinung nach Romans Plan ist. Was meiner Ansicht nach Annalise zugestoßen ist. Was möglicherweise mit uns geschieht, wenn wir versuchen, unsere Aufgaben wie abgesprochen zu lösen. Brick hört zu, ohne mich zu unterbrechen, und als ich fertig bin, schaut er mich lange und nachdenklich an, ehe er sagt: »Wir haben vereinbart, die Fragen zu lösen, auf die wir uns geeinigt haben.«

Glaubt er mir nicht? Nein. Auf seinem Gesicht liegen keine Zweifel, sondern ich sehe dort Resignation. »Roman hat zugestimmt, im Team zu arbeiten, aber ich glaube nicht, dass er sich daran hält. Wenn wir eine Frage beantworten wollen, für die bereits eine Lösung gefunden wurde, dann werden wir bestraft werden.«

Vor meinem geistigen Auge sehe ich den Nagel, der in Malachis Auge eindringt. Das Blut. Den zuckenden Körper auf dem Boden. Da ich weiß, was geschehen kann, will ich Bricks regungslose Schultern packen und schütteln, als er den Kopf wiegt und sagt, dass er sein Wort gegeben habe. Seine Eltern hätten ihn gelehrt, ein Versprechen zu halten. Ende der Geschichte.

Verzweiflung greift nach meinem Herzen. Ich frage mich, ob er recht hat. Oder ob ich mich irre. Ob Roman vielleicht wirklich nur seine eigene Aufgabe bearbeitet hat. Ob es nicht der größte Fehler wäre, den wir machen können, unsere eigene Frage nicht zu beantworten.

Ich hänge mir meine Tasche über die Schulter und gehe durch den Raum. Ich habe alles getan, was in meiner Macht steht, um Brick dabei zu helfen, den Tag zu überleben. Wenn er nicht …

»Bitte.« Ich drehe mich um, laufe zurück zu Brick und nehme eine seiner Hände. »Du kennst mich nicht, und es gibt keinen Grund, warum du meinen Worten Glauben schenken solltest. Ich kann dir nicht vorschreiben, was du tun sollst. Ich kann dich nur bitten, dir Romans Heft anzuschauen und dich zu fragen, wer am meisten zu gewinnen hat, wenn er die anderen betrügt. Wenn er alle fünf Aufgaben gelöst hat, dann wird jeder, der es noch einmal versucht, bestraft werden. Ich weiß nicht, wie diese Strafe aussieht …« Ich sehe wieder den Nagel in Malachis Auge und schlucke die bittere Galle hinunter, die sich in meiner Kehle gesammelt hat. »Aber wenn ich recht habe, dann könnten wir drei aus der Auslese ausscheiden, nur weil wir unserem Teamkameraden vertraut haben.«

Einen Moment lang gerät Bricks gefasste Haltung ins Wanken und macht Verwirrung Platz. »Ich bin nicht aus deiner Kolonie. Warum kümmert es dich, was aus mir wird?«

»Weil ich nicht will, dass noch jemand stirbt.«

Brick sieht über meine Schulter hinweg zur Tür. Das grüne Licht erinnert mich daran, dass es Zeit für mich wird, meine Entscheidung zu treffen.

Ich lasse seine Hand los, öffne die Tür und werfe meinem Teamkameraden einen letzten Blick zu. Als ich hinausgehe, hoffe ich inständig, dass ich alles getan habe, um Bricks Leben zu retten. Ich hoffe, dass ich meinen Schlussfolgerungen genug trauen werde, um mein eigenes Leben zu retten.

Der Flur ist spärlich beleuchtet. Ich fühle mich unbehaglich in diesem Dämmerlicht, als ich dem Gang bis zum Ende hin folge. Wie angekündigt, stoße ich auf einen weiteren Flur, von dem sechs angestrahlte Türen abgehen. Rechts von mir befindet sich die Tür mit der Nummer vier. Die Tür, durch die ich, wie vereinbart, gehen soll. Zu meiner Linken sind die Türen eins bis drei. Ich gehe zu Tür zwei und suche nach irgendwelchen Anzeichen – wovon? Von Blut? Von Haaren? Von irgendetwas, das meine Theorie bestätigt. Die silberne Türklinke schimmert im Licht. Es sind keine Flecken darauf zu erkennen, die verraten könnten, dass sie benutzt worden ist. Ich überprüfe die anderen Klinken. Alle sind makellos poliert.

Schließlich gehe ich wieder zurück zu Nummer vier und fahre die schwarze Zahl auf der schneeweißen Tür mit dem Finger nach. Halte ich mein Wort und drücke die Klinke runter, oder vertraue ich meinem Bauchgefühl und gehe einfach davon?

Wie lange stehe ich schon vor der Tür? Ich weiß es nicht. Aber als ich endlich meinen Entschluss fasse und mein Gewicht verlagere, um mich in Bewegung zu setzen, drohen meine Knie nachzugeben. Ich hole tief Luft und trete einen Schritt von der Tür weg. Drehe mich nach rechts. Gehe zwei Türen weiter, bis ich vor der Aufschrift AUSGANG stehe, lege die Hand auf die glänzende Klinke und hoffe inständig, dass dies nicht die letzte Entscheidung ist, die ich in meinem Leben getroffen habe.