Kapitel 7

Hände stützen mich und führen mich wieder hinaus auf den Flur. Jemand bittet mich, kurz zu warten, und andere Leute in Jumpsuits kommen von allen Seiten herbeigerannt. Ich presse meine Tasche an die Brust wie eine Rettungsweste, während rings um mich herum wilde Aktivität ausbricht. Ryme wird von der Decke geschnitten. Eine fahrbare Liege taucht von irgendwoher auf. Als sie ratternd an mir vorbeigeschoben wird, sehe ich, dass das Seil noch immer um Rymes Hals geschlungen ist: Es ist ihr Kleid, in dem sie gestern so hübsch ausgesehen hat und das nun an ein Bettlaken geknotet ist.

Ich kann weder meinen Magen daran hindern, sich zu entleeren, noch die Tränen zurückhalten, die heiß und schnell über meine Wangen strömen. Ich weine um Ryme, und ich weine um mich, weil ich die Verzweiflung und die Niedergeschlagenheit hinter der arroganten Fassade nicht erkannt habe. Habe ich meiner Zimmerkameradin vielleicht den Rest gegeben, weil ich sie dafür verspottet habe, dass sie beim letzten Test nicht fertig geworden ist? Hätte ein freundliches Wort sie retten können?

»Cia?«

Ich blinzele und merke erst jetzt, dass Dr. Barnes beide Hände auf meine Schultern gelegt hat. Er schaut mir tief in die Augen. Ich blinzle zwei Mal und schlucke die bittere Galle hinunter, die sich hinten in meiner Kehle gesammelt hat. Stumm nicke ich, damit er weiß, dass ich ihm zuhöre.

»Man wird dir einen anderen Raum zuweisen.« Er lehnt sich gegen die Wand neben mir. »Willst du darüber sprechen?«

Nein, das will ich nicht. Aber ich werde es tun. Leise erzähle ich ihm von Rymes auftrumpfendem Auftreten und von ihren höhnischen Bemerkungen. Von meiner Reaktion und davon, dass ich mich schließlich bei ihr entschuldigt habe. Selbst von den Getreidekeksen und von dem, was ich darin vermutet habe. Er ist ein guter Zuhörer. Seine braunen Augen ruhen auf mir, und ich lese keine Verurteilung darin. Er nickt und ermutigt mich damit weiterzusprechen. Nicht ein einziges Mal lässt er sich von den Offiziellen, die sich an uns vorbei in den Raum hinein-und wieder herausdrängeln, ablenken. Leute wischen den Boden neben mir auf und flüstern sich mit gedämpften Stimmen zu, dass man Rymes Sachen wegschaffen müsse.

Als ich mit meinem Bericht am Ende angekommen bin, fühle ich mich leer, was in gewisser Weise besser ist als das erstickende, beschämende Schuldgefühl vorher. Dr. Barnes versichert mir, dass ich keine Schuld an Rymes Tod trage. Wir hätten ja schon vorher darüber gesprochen, wie schwierig es sei, mit der Belastung fertigzuwerden. Einige Prüflinge kämen mit dem Stress besser zurecht als andere. Manche könnten nichts essen. Andere fänden einfach keinen Schlaf. Ryme habe sich das Leben genommen. Das sei zweifellos eine Tragödie, aber für die Gesamtbevölkerung des Commonwealth sei es besser, rechtzeitig zu erfahren, dass sie nicht in der Lage gewesen wäre, die Art von Druck zu ertragen, die auch in Zukunft auf sie gewartet hätte. Dieses Ereignis sei unglücklich, aber die Auslese habe ihren Zweck erfüllt. Er hoffe, dass Rymes Entscheidung, ihre Kandidatur zu beenden, keine Auswirkungen auf meine eigenen Leistungen haben werde.

Das Ende ihrer Kandidatur? Mir wird eiskalt. Ein purpurgekleideter Offizieller teilt uns mit, dass mein neuer Raum bereit sei, und Dr. Barnes drückt wiederholt meine Schultern. Ich lächele ihn an und behaupte, dass es mir besser gehe und dass es mir sehr geholfen habe, mit ihm zu sprechen. Ich hoffe, er merkt nicht, dass das eine Lüge ist. Denn obwohl sein Tonfall nett gewesen ist, habe ich die Gleichgültigkeit hinter seinen Worten gespürt. Für ihn war das nur ein weiterer Test. Und Ryme ist durchgefallen.

Wenn ich nicht höllisch aufpasse, werde auch ich versagen.

Man zeigt mir mein neues Zimmer ganz am Ende des Ganges. Die Wände sind gelb gestrichen. Das erinnert mich an das Kleid, das Ryme trug, als ich sie zum ersten Mal traf. Der Offizielle fragt mich, ob es in Ordnung sei, wenn ich keine Zimmerkameradin hätte. Wenn nicht, dann sei er sich sicher, dass sich eine weibliche Offizielle bereit erklären würde, in dem freien Bett zu übernachten.

Nein, ich will nicht allein sein. Schon jetzt, wo ich wach bin, habe ich Schwierigkeiten damit, Rymes leblose Augen aus meinem Kopf zu bekommen. Wenn ich schlafe, werde ich mich erst recht nicht dagegen wehren können, von ihnen verfolgt zu werden. Beim Gedanken daran, bei dieser Qual ganz allein im Zimmer zu sein, will ich mich am liebsten zu einem Ball zusammenrollen.

Aber die Worte von Dr. Barnes klingen noch in meinen Ohren. Bei der Auslese geht es um mehr als nur das, was sich in den Klassenräumen abspielt. Wenn ich darum bitte, dass mir jemand dabei hilft, die Nacht durchzustehen, wird man das als Schwäche auslegen. Anführer sind nicht schwach. In der Auslese suchen sie nach Führungspersönlichkeiten.

Also danke ich dem Offiziellen und sage zu ihm: »Es ist schon in Ordnung, wenn ich allein bleibe.«

Er erwidert, dass ich am Tresen bei den Aufzügen Bescheid geben solle, falls ich meine Meinung ändere. Dort könne man mir, wenn nötig, auch ein Schlafmittel geben. Dann schließt er die Tür hinter sich.

Ich sehe mich im Zimmer um. Abgesehen von der Farbe ist es eine exakte Kopie von dem Raum, den ich vorher bewohnt habe. Gedämpft höre ich Stimmen und den Klang von Schritten draußen auf dem Flur. Andere Kandidaten kehren vom Abendessen in ihre Quartiere zurück. Einen Moment lang bin ich versucht, meine Tür aufzureißen und nach meinen Freunden Ausschau zu halten. Ein Lächeln von Zandri, ein Händedruck von Tomas oder sogar einer der ausgeglichenen Blicke von Malachi würden dabei helfen, die Traurigkeit ein wenig zu lindern. Aber ich mache die Tür nicht auf, denn auch das könnte mir als Schwäche ausgelegt werden. Stattdessen dusche ich, schlüpfe in meinen Schlafanzug, wasche die Kleidung, die ich tagsüber getragen habe, und hänge sie zum Trocknen auf.

Als ich auf dem Bett liege, starre ich zur Decke hinauf und versuche, glückliche Erinnerungen heraufzubeschwören – irgendetwas, das das Bild von Ryme vertreibt, wie sie vom Deckenlicht herabbaumelt. Ich kann nicht anders, als mich zu fragen, ob mein Vater etwas Ähnliches zu sehen bekommen hat. Vielleicht hat sich sein Gehirn eine noch schrecklichere Erinnerung an die Auslese ausgedacht, um die furchtbare zu überlagern, die ihn immer wieder verfolgte. In diesem Moment erscheint mir das mehr als plausibel.

Alles ist still. Die anderen haben sich in ihre Betten verkrochen und schlafen, um sich auf das vorzubereiten, was morgen vor ihnen liegt. Ich bin noch immer wach, lasse das Licht brennen und kämpfe gegen meine schwerer werdenden Lider an. Als ich fast verloren habe, fällt mein Blick auf etwas. Ein kleines, rundes, blitzendes Ding an der Decke. Eines, das dem gleicht, welches mir schon im Gleiter aufgefallen war.

Eine Kamera.

Ich versuche, bei dieser Entdeckung keine Miene zu verziehen. Ich weiß nicht, warum es mich überraschen sollte, dass uns eine Kamera dabei beobachtet, wie wir den alltäglichsten Tätigkeiten nachgehen, schlafen oder uns ankleiden. Und doch bin ich verblüfft. Wird nur dieser Raum überwacht? Weil ich es war, die Ryme gefunden hat? Sofort verwerfe ich diese Möglichkeit. Wenn ein Zimmer mit einer Kamera ausgestattet ist, dann wird das bei den anderen nicht anders sein. Es verschlägt mir den Atem, als ich begreife, was das heißt: Wenn jedes Zimmer mittels einer Kamera unter Beobachtung steht, dann hat auch jemand dabei zugesehen, wie Ryme ihr Laken vom Bett abgezogen hat. Wie sie ihr Kleid daran festgeknotet hat. Wie sie das Lichtkabel an der Decke nach dem besten Platz abgesucht hat, um das Seil zu befestigen. Wie sie auf einen Stuhl geklettert ist und einen Schritt nach vorn gemacht hat. Man hat ihr dabei zugeschaut, wie sie hilflos gegen das Seil ankämpfte und verzweifelt versuchte, ihren Hals mit den Händen aus der Schlinge zu befreien. Und auch, wie ihr Körper schließlich schlaff wurde.

Sie hätten sie retten können.

Stattdessen haben sie sie sterben lassen.

Ich zwinge mich dazu, ruhig zu wirken, als ich zum Lichtschalter hinübergehe, ihn betätige und so den Raum in Dunkelheit versetze. Wer auch immer mich überwacht, soll nicht sehen, welches Entsetzen ich empfinde. Ich vergrabe meinen Kopf unter der Decke und presse aus alter Gewohnheit meine Tasche an meine Brust. Und die ganze Zeit über frage ich mich, ob die Menschen auf der anderen Seite der Kamera Rymes Tod ebenfalls wieder und wieder erleben werden, wenn sie heute Nacht schlafen gehen. Es mag boshaft von mir sein, aber ich hoffe, dass es so ist, denn genau das geschieht mir, bevor ich endlich einschlafe.

Rymes fleckiges rotes Gesicht und ihre glasigen, blutunterlaufenen Augen verfolgen mich bis in meine Träume. Ihre Stimme macht sich über meine Unzulänglichkeiten lustig. Sie bietet mir ihre Getreidekekse an, und dieses Mal nehme ich einen und esse ihn. Jedes Mal, wenn ich aufwache, zwinge ich mich dazu, ruhig liegen zu bleiben. Nicht aufzuschreien und mich auch nicht hin und her zu werfen. Ich lasse meinen Kopf unter der Decke, falls die Kamera mehr sehen kann, als ich vermute, und ich gebe mir alle Mühe, meinen Geist von den quälenden Gedanken zu befreien, ehe ich wieder einschlafe.

Als die morgendliche Ansage ertönt, bin ich dankbar, dass ich endlich unter meinem Bettzeug hervorkommen kann. Als Erstes gehe ich ins Badezimmer und betrachte mich im Spiegel. Müde sehe ich aus, aber auch nicht mitgenommener als gestern Morgen. Das werte ich als ein gutes Zeichen, schlüpfe in meine üblichen Sachen und bürste mir die Haare, während ich das Badezimmer nach Kameralinsen absuche. Es gibt keine, jedenfalls keine, die ich sehen kann. Für unsere Hygienegewohnheiten scheinen die Prüfer sich nicht zu interessieren. Ich lasse mir meine Haare offen auf die Schultern fallen und hoffe, dass das von der Erschöpfung in meinen Augen ablenkt; dann schnappe ich mir meine Tasche und mache mich auf den Weg zum Frühstück.

Tomas und die Zwillinge sitzen bereits dort, als ich eintreffe. Auf Tomas’ Gesicht breitet sich tiefe Erleichterung aus, und er schließt mich fest in seine Arme, bevor es mir gelingt, mich hinzusetzen. Als ich dann Platz genommen habe, blickt Tomas geraume Zeit auf meinen Teller. In meinem Bemühen, völlig normal zu wirken, habe ich mir Schinkenspeck, Eier, Tomatenscheiben, Früchte und süße Brötchen aufgetan. Sofort schiebe ich mir ein Stück Speck in den Mund, damit niemand auf die Idee kommt, ich könnte Fragen zum gestrigen Tag beantworten. Das geht so lange gut, bis Zandri, Malachi und ihre Zimmerkameraden zu uns stoßen. Als alle sitzen, fragt Tomas: »Ist alles in Ordnung? Wir haben gestern Abend darauf gewartet, dass du zurückkommst.«

Sie warten auf eine Erklärung. Ich gehe Dr. Barnes’ Worte in Gedanken noch einmal durch. Hat er mir gesagt, ich solle die Sache für mich behalten? Ich glaube nicht, daher antworte ich äußerlich gefasst: »Ryme ist tot. Sie hat sich gestern Abend umgebracht.«

Die Kandidaten aus Five Lakes sehen in unterschiedlichem Ausmaß ungläubig aus. Die Zwillinge seufzen und werfen einander wissende Blicke zu. Nach einem kurzen Moment sagt Will: »Wir haben uns schon gedacht, dass es um etwas in der Art geht. Unser Lehrer hat uns vor dem Druck gewarnt. Er war ein paar Jahre lang selber Prüfer gewesen und hat erzählt, dass es in jeder Testgruppe immer mindestens zwei oder drei Selbstmorde gab.«

Ryme war einer davon. Ich komme nicht umhin, mich zu fragen, wer wohl als Nächstes an der Reihe sein mag. Ihrem Schweigen nach zu urteilen haben meine Freunde den gleichen Gedanken.

Wir sprechen noch kurz über die ganze Angelegenheit, dann konzentrieren wir uns aufs Essen. Ich reiche alles, was ich mir zu viel aufgetan habe, an Malachi weiter, der auf jeden Fall schon ordentlich zugelegt hat, seitdem wir vor drei Tagen angekommen sind. Ein überzähliges süßes Brötchen schiebe ich in meine Tasche. Ich weiß nicht, ob wir uns Essen aus dem Speisesaal mitnehmen dürfen, aber dann denke ich mir, wenn es jemanden auf der anderen Seite der Kamera stört, wird man mich schon davon abhalten.

Niemand spricht mich darauf an.

Eine weitere Ansage ertönt. Wir marschieren zu den Fahrstühlen und werden auf schnellstem Weg zurück in den Versammlungsraum geleitet. Wieder steht Dr. Barnes vorn. Als jeder Platz genommen hat, lächelt er und gratuliert uns dazu, dass wir die erste Phase der Auslese hinter uns gebracht haben. »Im Moment werden die Tests gerade von den Prüfern ausgewertet. Da wir um eure einzigartigen Fähigkeiten wissen, gibt es für jede Gruppe eine unterschiedliche Punktevorgabe, die nötig ist, um zu bestehen. Nach dem Mittagessen werden wir uns mit jedem Prüfungskandidaten zusammensetzen und ihm mitteilen, ob er weitergekommen ist oder ob die Tests für ihn zu Ende sind. Bis dahin könnt ihr die Zeit nach eigenen Vorlieben verbringen – entweder in euren Zimmern, im Speisesaal oder im abgetrennten Bereich draußen.«

Draußen. Die Vorfreude auf frische Luft hebt meine Stimmung. Dr. Barnes sagt uns, dass alle Kandidaten, die nach draußen wollen, innerhalb des Zauns bleiben müssen, der das Prüfungszentrum umgibt. Diese Regel zu brechen würde den sofortigen Ausschluss vom weiteren Prüfungsverfahren bedeuten.

Die Kandidaten rutschen auf ihren Stühlen herum und sind drauf und dran, zur Tür zu stürmen, als sich Dr. Barnes’ Gesichtsausdruck verändert. Plötzlich liegt da Traurigkeit auf seinen Zügen. Auch wenn ich auf die Worte, die gleich kommen werden, vorbereitet bin, schnürt es mir trotzdem die Kehle zu, und Tränen steigen mir in die Augen. »Zu meinem großen Bedauern muss ich euch mitteilen, dass die Prüfungskandidatin Ryme Reynolds gestern Abend ihrem Leben ein Ende gesetzt hat.«

Einige Prüflinge schnappen nach Luft oder schreien auf, aber ich sehe auch mehr als ein hämisches Grinsen, das bedeutet: eine weniger. Ich versuche, mir diese feixenden Gesichter einzuprägen, nur so für alle Fälle.

Dr. Barnes fährt fort: »Wir wissen, dass dies eine schwierige Zeit für euch ist, doch ich hoffe, dass jene von euch, die weiterhin bei uns bleiben, mit mir oder einem der anderen Offiziellen sprechen werden, falls der Druck zu groß wird. Wir sind da, um zu helfen. Bitte genießt die Entspannung an diesem Morgen. Für heute Nachmittag wünsche ich euch viel Glück.«

Je nach den eigenen Vorlieben, was die Gestaltung des Vormittags anbelangt, werden die Kandidaten zu einem der beiden Aufzüge dirigiert. Der linke fährt hinauf in unsere Zimmer im fünften Stock. Wir aus der Five-Lakes-Kolonie schieben uns gemeinsam in den rechten.

Die Sonne scheint, das Gras ist grün und duftet, und es weht ein leichter Wind, als wir nach draußen treten. Zwei in Purpur gekleidete Offizielle haben sich vor der Tür aufgebaut, doch ansonsten haben wir das große eingezäunte Gebiet rings um das Prüfungszentrum ganz für uns allein. Wir können die Universitätsbauten in der Sonne leuchten sehen, nur einige Schritte vom Zaun entfernt. Die Gebäude und das Wissen, das sie beherbergen, erinnern mich daran, warum ich hier bin.

Nur ungefähr drei Dutzend Kandidaten haben sich dafür entschieden, nach draußen zu gehen. Die meisten setzen sich unmittelbar vor dem Gebäude ins Gras. Wir vier aus Five Lakes aber gehen um das Zentrum herum zur Rückseite des Gebäudes. Dort finden wir mehrere hohe, in voller Blüte stehende Bäume und entdecken neben einem kleinen Teich drei Bänke. Die leichten Wellen des sauberen, klaren Wassers und die warmen Sonnenstrahlen beleben mich. Während die anderen sich auf die Bänke sinken lassen, ziehe ich meine Schuhe und Socken aus, rolle meine Hosenbeine hoch und wate ins Wasser. Dabei bemerke ich ein Metallrohr in der Mitte des Teiches.

Eine Fontäne? Ich wate näher. Ja. Ich bin mir ganz sicher. Langsam schiebe ich mich zur gegenüberliegenden Seite des Teiches und finde dort den Netzanschlusskasten, der kaum sichtbar unter einem Steinhaufen verborgen liegt. Der Schalter in der Box ist auf »An« gestellt. Warum sprudelt dann kein Wasser? Ob dies schon der nächste Test ist?

Ich stelle meine Tasche ab und hole das kleine Jagdmesser heraus, welches ich als einen von zwei persönlichen Gegenständen mitgebracht habe. Nachdem ich den Schraubenzieher ausgeklappt habe, nehme ich den Deckel des Kastens ab und schaue hinein. Keiner der Drähte oder Verbindungen scheint gekappt worden zu sein. Es lassen sich auch keine schwarzen Stellen entdecken, die für eine Überladung oder einen Kurzschluss sprächen. Der Schalter ist ordnungsgemäß mit dem Gerät verbunden. Die Pumpe scheint also das Problem zu sein.

Ich mache mich auf den Weg zurück in die Mitte des Teiches, beuge mich vor und spähe durch das klare Wasser hinab auf die Pumpe. Sie ist kompakt und sieht unversehrt aus. Ich überlege, ob ich sie herausholen soll, doch dann fällt mir ein, dass ich jemanden kenne, der sich besser für diesen Job eignet. Jemanden, der das gesamte Bewässerungssystem auf dem Hof seiner Eltern installiert hat.

Tomas ist sofort bereit, von seiner Bank aufzustehen und sich die Sache mal anzuschauen. Zandri und Malachi lachen, als wir an der Pumpe herumwerkeln, aber schon nach kurzer Zeit nehmen sie ihr leises Gespräch wieder auf und lassen Tomas und mich machen.

Tomas glaubt, das Problem müsse beim Antriebsrad liegen. Ich hingegen tippe auf den Motor. Wir entschließen uns, die Pumpe aus dem Wasser zu nehmen, um zu sehen, wer von uns beiden recht hat.

Tomas benutzt mein Messer, um die Pumpe von der Bodenplatte abzuschrauben, und wir waten zurück ans Ufer. Einige Minuten später haben wir die Abdeckung gelöst, und ich stoße einen kurzen Triumphschrei aus. Das Antriebsrad ist intakt; es ist der Motor, der einen Wackelkontakt hat. Eine Weile mache ich mich daran zu schaffen und bin mir sicher, dass ich das Problem behoben habe. Tomas befestigt die Abdeckung wieder und verschraubt die Pumpe erneut auf dem Boden des Teiches. Nicht viel später schießt Wasser in die Luft und durchnässt uns beide.

Das Problem ist beseitigt.

Wir liegen im Gras und lassen unsere Kleidung von der Sonne trocknen, während ich das schöne Gefühl genieße, das ich immer verspüre, wenn ich irgendetwas wieder zum Funktionieren gebracht habe. Ich drehe am Armband, das ich ums Handgelenk trage, und stochere mit einem Fingernagel nach dem Verschluss, während wir vier uns über unsere Familien unterhalten und spekulieren, was sich in Five Lakes wohl gerade tut. Zandri hat einen abwesenden Ausdruck in den Augen. Sie vermisst ihr Zuhause. Ich ebenfalls, aber ich frage mich unwillkürlich auch, ob wir vier am nächsten Tag noch immer hier sein werden, um von daheim zu sprechen.

Gerade als ich glaube, den Verschluss meines Armbandes gefunden zu haben, werden wir zum Mittagessen gerufen. Schnell stecke ich die Spitze meines Messers seitlich in das zweite Metallglied, und das Klicken, das ich daraufhin höre, verrät mir, dass ich die richtige Stelle getroffen habe. Ich überlege, ob ich den anderen davon erzählen soll, doch sie sind bereits in Richtung Gebäude vorgegangen. Sorgfältig schließe ich das Armband wieder, während ich zur anderen Seite des Teiches marschiere und den Schalter betätige. Die Fontäne gurgelt noch ein bisschen und versiegt dann. Vielleicht haben sie hier genug Energie zur Verfügung, um so sorglos mit ihr umgehen zu können, aber ich komme nicht gegen das an, was ich mein ganzes Leben lang eingetrichtert bekommen habe: keine unnötige Verschwendung! Tomas wartet auf mich, als ich den anderen hinterhereile. Beim Anblick des warmen Ausdrucks in seinen Augen, mit denen er meine Umsicht gutheißt, schlägt mein Herz schneller.

Während die letzten Mahlzeiten von fröhlichem Geplauder begleitet waren, ist die Stimmung bei diesem Mittagessen gedämpft. Jedem Einzelnen ist die Anspannung anzusehen, während alle auf die Uhr starren, die hinter dem Büfett an der Wand hängt. Niemand weiß genau, wann sie damit anfangen werden, uns die Prüfungsergebnisse mitzuteilen, aber wir wissen, dass es nicht mehr lange dauern kann. Auf jedem Teller bleibt etwas liegen. Ich schiebe einen Apfel in meine Tasche, während die Zwillinge versuchen, mit Scherzen die Atmosphäre aufzulockern. Alle tun so, als würden sie darüber lachen.

Dann knackt der Lautsprecher. »Bitte begebt euch in eure Schlafquartiere. Wenn euer Name aufgerufen wird, verlasst ihr sofort euren Raum und nehmt alle eure Sachen mit. Ein Offizieller wird euch zu dem entsprechenden Raum begleiten, in dem ihr die Ergebnisse mitgeteilt bekommt. Viel Glück.«

Stühle scharren über den Boden, als sich alle Prüflinge auf den Weg zu ihren Zimmern machen. Wir an unserem Tisch stehen als Letzte auf. Ich lasse den Blick von einem Gesicht zum anderen wandern. Tomas. Malachi. Zandri. Nicolette. Boyd. Will und Gill. Die Chance, dass wir es allesamt in die nächste Runde geschafft haben, ist gering. Wir sagen nichts. Uns gegenseitig Glück zu wünschen würde nichts an den Aufgaben ändern, die wir bereits hinter uns gebracht haben, und an den Ergebnissen, die schon feststehen. Also drücken wir uns die Hände und sagen, dass wir uns später auf jeden Fall wiedersehen werden, obwohl wir doch alle wissen, dass dies vermutlich nicht stimmen wird.

Ich warte allein in meinem Raum, während über den Lautsprecher Namen verlesen werden. Währenddessen versuche ich, nicht an die Schilderung meines Vaters zu denken. Unwillkürlich frage ich mich, warum niemand jemals ein Wort darüber verloren hat, was mit den Kandidaten in den vorangegangenen Jahren geschehen ist, die bei der Auslese nicht erfolgreich waren. Was ist aus ihnen geworden? Was wird aus uns werden?

Namen, die ich nicht kenne, werden aufgerufen. Dann höre ich Malachis Namen, gleich danach den von Tomas. Die Zeit scheint stillzustehen, auch wenn die Uhr etwas anderes sagt. Endlich stockt mir der Atem, als ich meinen Namen höre. Ich trete hinaus auf den Gang. Eine Frau in Rot begleitet mich schweigend zu den Aufzügen. Sie drückt die Nummer zwei, und die Türen schließen sich.

Als sie wieder aufgehen, nickt mir ein Offizieller zu und fordert mich auf, ihm den langen weißen Gang zu zwei Türen aus dunklem Holz zu folgen. Die linke der beiden öffnet er und macht einen Schritt zur Seite. Allein trete ich ein.

Der Raum ist klein und kahl; es stehen lediglich ein glänzender schwarzer Schreibtisch und zwei schwarze Stühle da. Die Wände sind weiß. Die dunkelhaarige Frau hinter dem Pult sagt mir, ich solle mich setzen. Ich komme der Aufforderung nach und wische mir die schweißnassen Hände an der Hose ab. Die Frau schaut mir in die Augen und schweigt einen Moment lang. Mein Herz hämmert in meinem Brustkorb. Ich schlucke schwer und versuche, nicht herumzuzappeln. Endlich lächelt die Frau. »Gratuliere. Du hast die erste Runde der Auslese bestanden.«

Erleichterung breitet sich in mir aus. Ich stoße die Luft aus, obwohl mir gar nicht bewusst gewesen ist, dass ich den Atem angehalten habe. Währenddessen spricht die Offizielle weiter und sagt mir, ich solle mich gut ausruhen, ehe die nächste Testphase beginnt. Dann werde ich zurück zu den Aufzügen gebracht. Die Türen öffnen sich wieder im dritten Stock. Ich betrete den Versammlungsraum, und sofort umschlingen mich kräftige Arme.

Tomas’ Stimme flüstert: »Gratulation, Partnerin. Ich wusste, dass du es schaffen kannst.«

Anschließend zieht mich Malachi in eine schüchterne Umarmung. Von denen, die im Speisesaal an unserem Tisch gesessen haben, sind wir drei die Ersten, die zurückkehren. Boyd kommt als Nächster und sieht hocherfreut aus. Er klatscht Malachi ab und wirft ihn dabei fast um.

Langsam beginnt sich der Raum zu füllen. Auch Nicolette stößt zu uns, und ihr Gesicht ist vor Stolz gerötet. Von unserem Platz weiter hinten im Raum aus beobachten wir die Tür und warten auf die Fehlenden unserer Gruppe. Will spaziert mit einem frechen Grinsen herein. Wir winken ihm zu. Als er auf uns zusteuert, beginnt er zu strahlen. Doch sein Lächeln versiegt, als seine Blicke von Gesicht zu Gesicht wandern. Bis er bei uns ankommt, hat er zwar seine fröhliche Miene wiedergefunden, aber ich spüre, dass etwas nicht stimmt. Ich denke daran, dass ich über den Lautsprecher die Namen der Kandidaten hören konnte, die vor mir aufgerufen wurden, um sich ihre Ergebnisse abzuholen. Will muss gehört haben, wie ein Name verlesen wurde. Der Name einer Person, die nicht zurückgekommen ist. Von unserer Gruppe fehlen nur noch zwei. Angst macht sich in meinem Magen breit.

Fünf Minuten vergehen, ehe die letzten beiden Kandidaten eintreffen, gefolgt von Dr. Barnes. Eine der beiden Neuankömmlinge sieht sich im Raum um, entdeckt uns und beginnt zu lächeln. Zandri eilt zu uns und fällt als Erstes Malachi um den Hals. Die meisten unserer Gruppe gratulieren ihr, aber ich gehe zu Will, der noch immer wartend die Tür im Auge behält. Ganz langsam beginnt er zu begreifen, dass seine andere Hälfte nicht wiederkommen wird.

Dr. Barnes bittet uns, Platz zu nehmen, und beglückwünscht die übrig gebliebenen Kandidaten. Ich muss Will zu seinem Stuhl führen und ihn beinahe zwingen, sich zu setzen. Tomas und ich lassen uns rechts und links von ihm nieder. Er beginnt zu zittern. Aus Wills und Gills Erzählungen weiß ich, dass die beiden noch nie länger als ein paar Stunden voneinander getrennt gewesen sind. Ich habe gehört, wie sie die Sätze des jeweils anderen beenden, und ich frage mich, wie die eine Hälfte ohne die andere überleben soll.

Will umklammert meine Hand wie einen Rettungsanker, während uns mitgeteilt wird, dass die zweite Prüfungsphase morgen nach dem Frühstück beginnen werde: eine Reihe von praktischen Aufgaben, bei denen wir unsere Intelligenz, unsere einzigartigen Fähigkeiten und Problemlösungsstrategien würden unter Beweis stellen können. Dr. Barnes warnt uns: »Wenn ihr einen Prüfungsteil nicht versteht oder euch nicht sicher seid, wie ihr ihn zu Ende bringen sollt, fangt bitte nicht an zu raten. Hebt eure Hand und teilt dem anwesenden Prüfer in dem euch zugewiesenen Raum mit, dass ihr die Aufgabe nicht bewältigen könnt. Ein Problem nicht zu lösen ist besser, als eine unzutreffende Lösung anzubieten. Falsche Antworten werden bestraft.«

Er lässt seine Worte auf uns einwirken und entlässt uns dann mit einem letzten Glückwunsch.

Tomas und ich helfen Will beim Aufstehen und stützen ihn auf dem Weg zum Speisesaal. Unterwegs erklärt uns Will, dass sein Bruder bestimmt absichtlich durchgefallen sei, um nach Hause zu seiner Freundin zurückkehren zu können. Beim Abendessen gibt er weitere lustige Anekdoten zum Besten. Doch immer wieder sehe ich, wie er nach links schielt, als ob er darauf wartet, dass sein Bruder seinen Gedankengang beendet, ehe ihm einfällt, dass der ja gar nicht mehr da ist.

Wir kehren früh in unsere Zimmer zurück, um uns für das auszuschlafen, was auch immer uns am nächsten Morgen erwarten wird. Ich träume von Ryme, die eine selbst geknüpfte Schlinge um den Hals hat und Gill einen ihrer Kornkekse anbietet. Sie lächelt, als er zugreift und tot auf dem Fußboden zusammensinkt.

Am Morgen schrubbe ich mir das Gesicht in eiskaltem Wasser, um mir den Schlaf aus den Augen zu reiben, dann mache ich mich auf den Weg zum Frühstück. An unserem Tisch bin ich heute die Letzte. Die Stimmung ist gut. Besonders bei Will, der hemmungslos mit Nicolette flirtet. Ihre Wangen und die Spitzen ihrer Ohren glühen, als sie rasch einen Schluck Apfelsaft nimmt. Der Art und Weise nach zu urteilen, wie sie sein Lächeln erwidert, ist seine Aufmerksamkeit durchaus gern gesehen. Ich hoffe, er benutzt sie nicht nur, um mit dem Fehlen seines Bruders klarzukommen. Die Dinge sind schon anstrengend genug.

Die Durchsage ertönt, dann machen wir uns alle auf den Weg zu den Aufzügen und in den Versammlungsraum im dritten Stock. Dr. Barnes lächelt breit durch seinen ergrauten Bart hindurch, während er uns zusieht, wie wir unsere Plätze einnehmen. Er teilt uns mit, dass noch siebenundachtzig Kandidaten übrig seien. Dann erinnert er uns daran, dass heute die zweite Phase der Prüfung eingeläutet wird, und er bittet uns nochmals, immer daran zu denken, dass in diesem Teil falsche Antworten bestraft würden.

Wir werden in Sechsergruppen eingeteilt. Ich bin überrascht, als Malachi und Will mit mir zusammen aufgerufen werden, und wir trotten einem Offiziellen hinterher den Gang hinunter.

Im Prüfungsraum finden wir sechs hüfthohe Arbeitstische in zwei Reihen vor – drei vorn, drei hinten –, und unmittelbar hinter jedem befindet sich ein Hocker. In der linken Ecke jedes Arbeitsplatzes entdecke ich ein schmales Schild mit dem Symbol des jeweiligen Kandidaten. In der Mitte der Tische warten bereits große Holzkisten.

Eine weibliche Offizielle mit silbergrauen Haaren fordert uns auf, den Tisch mit unserem Symbol zu suchen. Mein Arbeitsplatz befindet sich in der Mitte der hinteren Reihe. Malachi sitzt rechts vor mir, Will links neben mir. Er sieht, dass ich zu ihm schaue, und winkt mir zu.

Die Offizielle sagt uns, wir sollten die Hand heben, wenn wir die Aufgabe vor uns gelöst hätten. Dann würde die Kiste abgeräumt werden. Sobald alle Kandidaten mit ihrer laufenden Kiste fertig seien, würde eine neue Testbox ausgeteilt werden. Unsere Aufgabe sei es, so viele Kisten wie möglich in der vorgegebenen Zeit zu bearbeiten. Bei diesem Prüfungsteil würde es keine Mittagspause geben, warnt sie uns. Dann wiederholt sie Dr. Barnes’ Anweisungen, dass wir unsere Hand zu heben hätten, sollten wir eine Aufgabe nicht lösen können, und sie betont, dass wir auf keinen Fall raten sollten, falls wir bei irgendwelchen Antworten unsicher seien. Sie sagt, wir sollten herausfinden, wie sich die Kiste öffnen lasse, und dann den Prüfungsanweisungen folgen, die wir im Innern vorfinden würden.

Das klingt nicht allzu schwer, und genau das macht mich nervös. Die Tests sind nicht so angelegt, dass sie einfach sind. Ich taxiere die Box mit meinen Blicken, während ich aus den Augenwinkeln sehen kann, dass einige meiner Mitstreiter an ihren Kisten ziehen und zerren. Meine Mutter hatte ein Kästchen mit einem Geheimfach zu Hause, das mein Großvater für sie gemacht hatte. Um es zu öffnen, musste man verschiedene bewegliche Teile in einer besonderen Reihenfolge zur Seite schieben. Wenn man sich irrte, ging das Fach nicht auf.

Langsam drehe ich die Box auf dem Tisch, sodass ich sie mir nach und nach von allen Seiten anschauen kann. Das Holz ist massiv und glatt und hat ein verschlungenes, eingebranntes Muster, das wirklich hübsch anzusehen ist. Ich bin mir sicher, dass Zandri die Technik, die für das Muster verwendet wurde, kennt, aber ich habe keine Zeit, es lange zu bewundern. Ich will das Ding öffnen.

Ah. Da, in der unteren Ecke sehe ich eine kleine Verdickung in der Verzierung. Nirgends sonst im Holz ist eine solche winzige runde Erhebung zu entdecken. Ein Knopf? Ich drücke meinen Zeigefinger fest auf den kleinen Punkt und spüre, wie etwas nachgibt. Und tatsächlich: Die Seite der Kiste lässt sich jetzt aufschieben und herausnehmen. Ich lege das Teil beiseite und ziehe den Aufgabenzettel heraus.

Prüfe, ob die Pflanzen im Innern der Kiste essbar sind. Trenne jene, die essbar sind, von den giftigen.

Und wieder lese ich die Warnung: Wenn du dir bei der Antwort nicht sicher bist, dann rate nicht. Lege die unbekannte Pflanze weg.

Ich lächele. Diese Aufgabe ist wie für mich gemacht.

Es befinden sich acht Pflanzen in der Kiste. Sechs davon erkenne ich sofort. Die weißen Blüten, die wie ein Schirm angeordnet sind, stammen vom Wasserschierling. Mein Vater sagt, sie seien schon tödlich giftig gewesen, bevor die Seen durch die biologische Kriegsführung verseucht wurden. Das dunkelgrüne Blatt mit den roten Adern halte ich ebenfalls für giftig, denn schließlich darf man die Rhabarberblätter, die bei uns wachsen, auch nicht essen. Der Zweig mit den dunkelgrünen, ovalen Blättern, an dem braune, nestähnliche Gebilde hängen, muss von einer Buche stammen. Ich bin auch überzeugt, Sassafraswurzel, Lauch und Nessel zu erkennen, die in unserer Kolonie häufig von den Käfern gefressen werden.

Bei den letzten beiden Exemplaren bin ich mir gar nicht mehr so sicher.

Ich schnuppere an dem ersten: Es ist ein großes grünes Blatt von unregelmäßigem Wuchs, und ich nehme einen schwachen Blütenduft wahr. An dem Stängel kann ich sehen, wo sich noch vor Kurzem eine Blüte befunden haben muss. Das Blatt ist weich und erinnert mich an eine Blume, die mir mein Vater vor ein paar Jahren gezeigt hat. Es war keine seiner eigenen Züchtungen, denn jenes Gewächs war giftig gewesen, und Dad arbeitete nur an Dingen, die das Leben erhielten. Trotzdem war er der Ansicht, diese Blüte habe einen gewissen Wert, und zwar wegen ihrer duftenden Schönheit. Ob dies die gleiche Pflanze ist? Falls nicht, dann müssen sie miteinander verwandt sein, denke ich. Ich lege sie auf den Stapel mit den giftigen Exemplaren und wende mich der letzten Pflanze zu: einer dunklen, pelzigen Wurzel mit weißen, blütenartigen Blättern oben an der Spitze. Mit dem Fingernagel kratze ich die Außenseite der Wurzel ab und schnuppere daran. Es riecht süßlich. Nicht wie Rote Bete oder Karotten, sondern ganz anders. Aber irgendetwas daran kommt mir bekannt vor. Ich kann Dads Stimme hören, wie er mir von den vielen Wurzeln erzählt, die glücklicherweise in südlicheren Kolonien gedeihen. Eine davon wird Chicorée genannt. Zeen wollte unbedingt eine Probe davon haben, um sie zu untersuchen, denn er erhoffte sich davon Anregungen für seine eigene neue Kartoffelsorte. Diese Wurzel muss Chicorée oder irgendetwas Vergleichbares sein. Ich bin mir sicher genug, um das Grünzeug auf den essbaren Haufen zu legen und meine Hand zu heben.

Die anderen Kandidaten beobachten mich, als die Offizielle meine Arbeit überprüft. Sie fragt mich, ob ich mir bei meinen Antworten auch vollkommen sicher sei. Ich wische mir die Handflächen an den Hosenbeinen ab und schaue nochmals die Pflanzen durch. Ja. Ich bin mir so sicher, wie ich nur sein kann. Sie lächelt und kritzelt etwas in ihr Notizbuch. Dann nimmt sie die nicht essbaren Pflanzen mit und sagt mir, ich solle mich hinsetzen und abwarten, bis auch die anderen Prüflinge mit ihrer Aufgabe fertig seien.

Zehn Minuten später sind die Arbeiten von allen überprüft. Die Offizielle hat all jene Pflanzen weggeschafft, die als ungenießbar klassifiziert worden sind, und hat sie sich in ihrem Buch notiert. Als sie wieder vorn angekommen ist, fragt sie uns ein letztes Mal, ob wir unsere Auswahl noch einmal überdenken wollen. Sie ruft uns einzeln auf und wartet ab, ob wir mit »Ja« oder mit »Nein« antworten. Keiner von uns nimmt ihr Angebot zur Nachbesserung an.

»Nun«, sagt sie fröhlich, »dann sollte keiner von euch ein Problem damit haben, eine Kostprobe von jeder Pflanze zu nehmen, die ihr als essbar eingestuft habt.«

Totenstille breitet sich im Raum aus. Da begreife ich schließlich.

Ja, jetzt ist es endlich klar. Eine falsche Antwort wird bestraft werden. Mit Schwindelgefühlen. Erbrechen. Halluzinationen. Vielleicht sogar mit dem Tod.

Ich lasse den Blick über die Tische im Raum wandern und sehe, dass jeder Prüfungskandidat ein anderes Sammelsurium von Pflanzen hat. Es gibt keine Möglichkeit, unsere Wahl abzugleichen. Habe ich einen Fehler gemacht? Der Junge vor mir scheint sich sicher zu sein, dass er richtigliegt. Neben mir kostet Will seine vier ausgewählten Pflanzen. Ich hole tief Luft und esse die Buchecker. Dann beiße ich ein kleines Stück von der zuckrigen Wurzel ab, von der ich hoffe, dass es sich dabei um Chicorée handelt, und probiere schließlich auch die drei übrigen Pflanzen. Keines der Gewächse, die ich für giftig gehalten habe, würde seine Wirkung schnell entfalten. Wir werden abwarten müssen, um herauszufinden, ob sich irgendjemand von uns geirrt hat.

Es bleibt keine Zeit, sich darüber Sorgen zu machen, was gleich in meinem Körper geschehen könnte, denn schon tragen die Prüfer die nächsten Kisten herein.

Die Box, die nun vor mir steht, hat ein kompliziertes Schiebesystem, das man richtig bedienen muss, um den Deckel abzunehmen und alle vier Seitenwände zu entfernen. Im Innern finde ich einen großen Impuls-Transmitter und einige kleine, handliche Werkzeuge vor. Die Anweisung lautet, ich solle den Transmitter wieder funktionstüchtig machen.

Man hat uns erzählt, dass die Welt vor den Sieben Stadien des Krieges in der Lage gewesen sei, mithilfe von Geräten zu kommunizieren, welche Signale an Satelliten im All abgaben. Ich weiß nicht, was aus diesen Satelliten geworden ist. Vielleicht kreisen sie noch immer hoch über unseren Köpfen, vielleicht sind sie auch auf die Erde niedergestürzt und eingeschlagen, ohne dass es jemand mitbekommen hat. Durch die Erdbeben, die den Boden aufgerissen haben, wurden alle Kabel in der Erde, die für Kommunikationszwecke genutzt wurden, zerstört. Nach dem Krieg haben sich die Wissenschaftler entschieden, die nun weitaus höhere Konzentration der elektromagnetischen Strahlung dafür zu verwenden, neue Kommunikationswege zu erschließen. So entstanden Impuls-Transmitter, die mehr übermitteln können als nur Stimmen. Mit dem richtigen Empfangsgerät auf der anderen Seite können nicht nur Klänge, sondern auch Bilder transportiert werden. Diese Transmitter zeichnen größere Kommunikationsabschnitte auf und wandeln sie in ein Signal um, das dann an die Empfänger gesendet wird. Mein Vater besitzt einen Impuls-Transmitter, um Kontakt mit anderen Kolonien und Tosu-Stadt zu halten, weshalb ich ein derartiges Gerät schon vor dem heutigen Tag zu sehen bekommen habe. Mein Vater hatte mich sogar hineinschauen lassen. Das wiederum bedeutet, dass es ganz leicht für mich ist, die Drähte zu finden, die falsch verbunden worden sind, den solarbetriebenen Motor wieder in Gang zu setzen und den Sendemechanismus ein bisschen besser einzustellen. Zwischen den einzelnen Arbeitsschritten halte ich immer wieder kurz inne, um in mich hineinzuhorchen und zu prüfen, ob die Pflanzen, die ich gegessen habe, schon Übelkeit hervorrufen.

Beim kleinsten Anzeichen von Unwohlsein, so habe ich mir vorgenommen, werde ich alle Pflanzen aus meinem Magen hochwürgen. Das hätte dann zwar keine Auswirkungen mehr auf das Gift, das bis dahin bereits in meinen Blutkreislauf gelangt wäre, aber ich würde es trotzdem versuchen müssen.

Während ich arbeite, bemerke ich einige Drähte, die definitiv nichts in einem Impuls-Transmitter verloren haben, und auch ein paar kleine Kästchen mit Metallscharnieren, die mir völlig unbekannt vorkommen. Wäre ich jetzt zu Hause, dann würde ich daran herumwerkeln, um zu sehen, was sich im Innern verbirgt. Aber ich bin nicht zu Hause. Ich werde nur die Handgriffe tun, bei denen ich mir ganz sicher bin.

Ich schraube den Deckel wieder aufs Gehäuse und will gerade meine Hand heben, als ich bemerke, dass Malachi zu schwanken beginnt. Ist er erschöpft, oder ist das die Auswirkung einer der Pflanzen, von denen er gekostet hat? Ich gehe in Gedanken die Gewächse durch, die ich zugeteilt bekommen habe, und versuche mich daran zu erinnern, ob irgendeines davon eine solche Reaktion hervorrufen würde. Schweiß läuft Malachi übers Gesicht. Seine Hände beginnen zu zittern, als er an dem Teil des Transmitters zu arbeiten beginnt, den ich ignoriert habe – dem Teil, in dem sich auch ein unbekanntes, kleines Metallkästchen befindet. Ich weiß, dass wir den anderen Kandidaten nicht helfen sollen, aber Malachis Schultern zucken, und ich befürchte, dass ihn die Pflanzen, die er geschluckt hat, daran hindern, rational zu denken. Ich öffne den Mund, um ihm etwas zuzurufen – ich will ihm sagen, dass er das Metallkästchen nicht anrühren solle.

Aber das hat er bereits getan. Er hält es sich dicht vors Gesicht … Im nächsten Moment bohrt sich ein Nagel in sein Auge, und er fällt wie ein Stein zu Boden.