Kapitel 12

Eine Druckwelle und meine eigene ungläubige Verblüffung bringen mich aus dem Gleichgewicht, und ich stürze zu Boden, wo ich mich zum Glück abrollen kann. Sofort rappele ich mich wieder auf und versuche zu verstehen, was gerade passiert ist. In meinen Ohren pfeift es. Dort, wo vorher die Oase war, befindet sich jetzt ein riesiges Loch. Tomas liegt vollkommen regungslos unmittelbar daneben auf dem harten, aufgerissenen Boden.

Ich unterdrücke ein Schluchzen und renne Hals über Kopf den Hügel hinunter zu der Stelle, an der Tomas mit geschlossenen Augen auf dem Rücken liegt. Sofort mache ich mich auf das Allerschlimmste gefasst. Darauf, dass ich schon wieder die Hand von einem Freund von zu Hause halten muss, während er aus dieser Welt fortgeht und mich allein hier zurücklässt. Dann sehe ich, dass sich seine Brust regelmäßig hebt und senkt, und ich werde von unbeschreiblicher Erleichterung erfasst. Er ist am Leben. Wie auch immer die Falle ausgelöst wurde: Tomas befand sich nicht darin, als es geschah. Ansonsten wäre von ihm – wie von den Bäumen, den Pflanzen und dem Wasser – nichts mehr übrig. Schon allein die Vorstellung, mich ohne Tomas und seine Stärke und ausgeglichene Art den Anforderungen der Auslese stellen zu müssen, schnürt mir die Luft ab.

Aber er ist nicht bei Bewusstsein, was kein gutes Zeichen ist. Ich lasse mich neben ihm auf die Knie sinken und taste vorsichtig seinen Hinterkopf nach Schwellungen ab, die dafür sprechen könnten, dass er sich eine Gehirnerschütterung oder Schlimmeres zugezogen hat. Zum Glück entdecke ich nichts. Doch dann fällt mein Blick auf die Blutlache, die sich auf dem Boden unter Tomas’ rechter Hüfte zu sammeln beginnt, und auf den mindestens zwei Zentimeter dicken Ast, der aus seinem Körper ragt.

Ich schlucke mühsam meine Tränen hinunter. Mit Weinen werde ich Tomas bestimmt nicht helfen, also muss ich mir überlegen, was ich stattdessen tun kann. Dr. Flint hat immer gesagt, man solle Patienten mit einer Kopfverletzung nicht bewegen, aber mir bleibt keine andere Wahl. Ich muss das Blut, das unablässig in den trockenen Boden sickert, aufhalten. Vorsichtig rolle ich Tomas auf die Seite. Der knorrige Ast hat sich tief in seinen Körper gebohrt. Die Explosion und Tomas’ Aufprall auf dem Boden müssen so heftig gewesen sein, dass er von dem Holzstück regelrecht gepfählt worden ist.

Ich hole tief Luft und versuche, das aus dem Leib ragende Stück gut zu fassen zu bekommen; dann ziehe ich. Die unregelmäßige, raue Rinde reißt an Tomas’ Fleisch wie Widerhaken. Er beginnt zu stöhnen und sich zu wehren, als ich das Holz vorsichtig in seiner Wunde vor und zurück bewege, um es herauszubekommen, ohne noch schlimmeren Schaden anzurichten. Als der Ast schließlich draußen ist, blutet die Wunde noch stärker. Ich reiße Stoffstreifen von meinem Bettlaken, lege sie über die Wunde und presse sie fest mit einer Hand darauf, während ich mit der anderen nach dem Medizinbeutel suche. Die Desinfektionssalbe kann ich jetzt gut gebrauchen. Vielleicht auch Nadel und Faden, wenn ich es über mich bringen sollte, beides zu benutzen. Als ich Tomas ganz auf den Bauch drehe, stöhnt er.

Seine grauen Augen öffnen sich mühsam. »Was ist passiert?«

Unwillkürlich muss ich lächeln, als ich seine Stimme höre und sehe, dass er endlich wieder bei Bewusstsein ist. Gleichzeitig kann ich die Tränen der Erleichterung nicht mehr länger zurückhalten. »Die Oase ist explodiert«, berichte ich und wische mir mit meinen verdreckten Handrücken die Tränen von der Wange. »Du bist von einem Ast aufgespießt worden. Ich habe ihn herausgezogen, und die Wunde blutet ziemlich arg. Aber mach dir keine Sorgen«, füge ich mit vorgetäuschter Zuversicht hinzu. »Ich habe dich in null Komma nichts wieder zusammengeflickt. Allerdings …«

Seine Augen werden ganz schmal. »Allerdings was?«

Ich spüre, wie mir die Hitze in die Wangen steigt, noch bevor ich antworte: »Du wirst dafür wohl deine Hose ausziehen müssen.«

Das Grinsen, das Tomas mir zuwirft, ist spöttisch und mehr als nur ein bisschen anzüglich. Doch schnell verschwindet es, und er legt die Stirn in Falten, während er sich damit abmüht, seine Hose zu öffnen und sie abzustreifen. Die Wunde blutet noch immer, aber nicht mehr ganz so schlimm wie vorher. Der aufklaffende Riss hat einen Durchmesser von fast drei Zentimetern, und dem Blut nach zu urteilen, das an dem Stock klebt, ist sie fast acht Zentimeter tief. Die Haut rings um die Wunde ist voller Blut und Muskelgewebe. Eine solche Verletzung muss höllisch wehtun. Und ich habe nicht die geringste Ahnung, wie ich sie versorgen soll. Im Laufe der Jahre hat Dr. Flint so manche offene Stelle meiner Brüder verarztet, aber keine hat je so ausgesehen wie diese hier. Meine Brüder hatten sich immer nur einfache Fleischwunden zugezogen, die man lediglich zusammendrücken und nähen musste. Jetzt sehe ich allerdings eine ziemlich tiefe, breite Kerbe vor mir.

Trotzdem muss ich irgendetwas tun.

Ich krame mehrere Schmerztabletten aus dem Beutel und helfe Tomas dabei, sich aufzurichten, sodass er sie runterschlucken kann. Dann reinige ich die Wunde, so gut ich kann, mit Wasser. Von Blut und Schmutz befreit, sieht die Verletzung sogar noch schlimmer aus als vorher. Ich hatte recht: Es ist unmöglich, diese Wunde einfach zu nähen.

Jetzt fällt mir nur noch eins ein. Allein beim Gedanken daran könnte ich heulen, aber mir bleibt keine Wahl. Noch immer quillt Blut heraus. Wenn ich es nicht bald stoppe, dann wird Tomas nicht mehr weiterlaufen können. Er wird die Prüfung nicht beenden – und ich genauso wenig, da ich es niemals übers Herz bringen würde, in dem Wissen wegzugehen, dass er ganz allein hier draußen an seiner Verletzung sterben könnte.

Ich sammle ein bisschen trockenes Gras und Holz zusammen und schichte es aufeinander, dann zünde ich den Haufen mit einem von Tomas’ Streichhölzern an. Als das Feuer richtig lodert, hole ich das Messer aus meinem Beutel. Zusätzlich zu der Schneide und dem Schraubenzieher gibt es an dem Taschenmesser auch noch eine Nagelfeile, eine kleine Säge, einen Haken und verschiedene andere Werkzeuge aus Metall. Ich habe nie verstanden, wozu das alles gut sein könnte. Jetzt weiß ich es.

Ich wähle das Werkzeug aus, das vielleicht vier Zentimeter lang, weniger als einen Zentimeter breit und an der Spitze abgerundet ist. In der Mitte befindet sich eine Art Haken – mein Vater erklärte mir damals, dass er so etwas als Kind benutzt habe, um damit Flaschen zu öffnen. Da es solche Flaschen beziehungsweise deren Verschlüsse in Five Lakes nicht mehr gibt, kann ich nur ahnen, wie es wohl zu handhaben gewesen ist. Allerdings bin ich gar nicht an der ursprünglichen Funktion des Flaschenöffners interessiert, sondern mehr an der langen glatten Oberfläche. Nun muss ich nur noch den Mut aufbringen, meinen Plan auch in die Tat umzusetzen.

Das kleine Feuer prasselt vor sich hin, während ich etwas tue, was ich bei Dr. Flint gesehen habe, wenn ein Patient bei einer besonders unangenehmen Behandlung bei Bewusstsein war. Ich reiche Tomas das Laken aus seiner Tasche und sage ihm, er solle es sich ein Stück in den Mund stopfen und dann fest zubeißen. Unterdessen halte ich den Flaschenöffner über die Flammen und warte darauf, dass das Metall glühend rot wird. Als das der Fall ist, bitte ich Tomas wegzugucken. Ehe ich in letzter Sekunde noch die Nerven verlieren kann, ziehe ich das heiße Metall aus der Flamme und stecke es tief in die Wunde.

Tomas brüllt in sein Laken und bäumt sich vor Schmerzen auf. Seine gequälten Schreie sind gedämpft, und meine Augen füllen sich mit Tränen. Aber ich muss weitermachen. Wieder schiebe ich das Werkzeug mit einer Hand ins Feuer, während ich mit der anderen Hand erst das Blut rings um die Wunde abtupfe und dann Tomas’ Beine festhalte. Als das Metall wieder glüht, drücke ich es noch einmal in Tomas’ Fleisch. Ein Geruch nach Kupfer und Schwefel bringt mich zum Würgen. Der Gestank verbrannter Haut. Tränen laufen mir über die Wangen. Meine Brust wird mir so eng, dass ich kaum mehr atmen kann. Tomas’ erstickte Schreie stechen mir ins Herz, während ich das heiße Metall wieder und wieder in die Wunde schiebe. So lange, bis sich das verbrannte Gewebe endlich zusammenzieht und die Blutung stoppt.

Meine Hände beben, als ich unser kostbares Wasser dafür verwende, die Wunde ein letztes Mal zu säubern. Dann trage ich vorsichtig überall Salbe auf, verbinde die Stelle und helfe Tomas dabei, seine Hose wieder hochzuziehen. Ich hoffe inständig, dass die Blutung dauerhaft gestillt ist, denn ich glaube kaum, dass ich diese Prozedur noch einmal durchstehen würde.

Tomas’ Augen sind glasig, und seine Stirn ist schweißgebadet, aber er versucht, mir ein schwaches Lächeln zuzuwerfen. »Hab kaum etwas gespürt«, lügt er.

Ich will ihm einen Kuss auf die Wange drücken, aber er dreht in letzter Sekunde seinen Kopf, und der Kuss landet auf seinem Mund. Die Zeit scheint stehen zu bleiben, und wir starren einander an. Dann beugt sich Tomas ganz, ganz langsam vor und küsst mich noch einmal. Dieser Kuss ist leicht wie eine Feder, aber ich spüre ihn bis hinab in meinen Magen. Ich bin schon früher von Jungen geküsst worden – zwar war ich jung im Vergleich zu den anderen in meiner Klassenstufe, aber so jung nun auch wieder nicht. Bei keinem dieser Küsse habe ich mich gefühlt wie bei diesem. Vielleicht liegt es an der Angst, die sich während der gerade erfolgten Behandlung in mir aufgestaut hat, und an dem Adrenalin oder daran, dass ich mir nicht sicher bin, warum Tomas mich küsst. Aus Dankbarkeit? Oder ist da noch mehr? Irgendetwas, von dem ich gespürt habe, dass es langsam mehr wurde, seitdem wir im letzten Jahr zusammen getanzt haben. Ich habe mich bislang einfach nicht getraut, daran zu glauben, dass da etwas zwischen uns sein könnte.

Meine Gefühle, über die ich jetzt nicht weiter nachgrübeln will, verwirren mich, und ich drehe mich um und stopfe meine Sachen zurück in die Tasche. »Es wird bald dunkel. Als ich da auf dem Hügel stand, habe ich einen kleinen Bach gesehen, gar nicht weit entfernt von hier. Kannst du dich bewegen, oder wollen wir lieber hier die Nacht abwarten? Für mich ist es noch hell genug, um schnell dort hinzulaufen, unsere Trinkflaschen aufzufüllen und wieder zurückzukommen.« Ich weiß, dass ich zu viel rede, aber ich kann nichts dagegen tun.

Tomas schüttelt seinen Kopf und richtet sich mühsam auf die Knie auf. »Wenn unser Freund mit der Armbrust die Explosion gehört hat, kommt er uns hier vielleicht suchen. Bei Einbruch der Dunkelheit sollten wir nicht mehr hier sein.«

Bei all dem, was gerade geschehen ist, habe ich die anderen Kandidaten der Auslese völlig vergessen. Natürlich wird die Explosion für Aufmerksamkeit gesorgt haben. Wenn der Armbrustschütze den Knall gehört hat, dann wird er vermutlich davon ausgehen, dass jeder, der in der Nähe der Quelle war, jetzt tot ist. Es sei denn, er hat Tomas schreien hören, während ich seine Wunde ausbrannte. In beiden Fällen hat Tomas recht. Wir müssen von hier verschwinden.

Ich helfe ihm beim Aufstehen und lege mir seinen Arm um die Schultern, um ihn zu stützen. Er ist beinahe einen Kopf größer als ich, aber wir schaffen es. Der Weg den Hügel hoch ist allerdings mühsam, und wir beide keuchen vor Anstrengung, als wir schließlich oben angekommen sind.

Endlich schlagen die Schmerzmittel an, und Tomas kommt ein bisschen schneller voran, als wir auf der anderen Seite wieder hinabsteigen. Im Dämmerlicht erkenne ich ein paar schulterhohe Büsche mit dicken grauen Blättern und steuere darauf zu. Das Gestrüpp steht dicht, aber nachdem ich einige der niedrigeren Zweige abgebrochen habe, kann ich mich unter dem Busch, der in nächster Nähe zum Bach steht, hindurchschieben und entdecke einen kleinen, unbewachsenen Flecken, der wie geschaffen für unser Nachtlager ist. Ich bitte Tomas um sein bedrohlich aussehendes Messer und benutze es, um noch etwas mehr Platz für uns beide freizuschlagen. Dann breite ich Tomas’ Laken auf dem Boden aus und biege die Zweige weg, sodass er leichter in das Versteck steigen kann. Er schläft schon fast, als ich ihm sage, dass ich Wasser holen gehe, was gar nicht so leicht werden wird, da die Sonne jetzt rasch untergeht. Ich schnappe mir unsere drei Wasserbehälter und die Tasche mit meinen Reinigungschemikalien; dann kämpfe ich mich durchs Unterholz ans Ufer.

Es ist nicht schwer herauszufinden, ob Wasser trinkbar ist, aber es ist zeitaufwändig, und man braucht Licht dazu. Da unsere letzte Flasche beinahe leer ist und mir kaum noch Tageslicht bleibt, muss ich mich jedoch ranhalten. Ich muss es einfach versuchen. Wenn Tomas’ Wunde mitten in der Nacht anfängt, sich zu entzünden, ist Wasserknappheit das Letzte, was ich gebrauchen kann.

Die Tests, um mögliche Verseuchungen festzustellen, sind denkbar einfach. Man füllt einen Becher mit dem Wasser und fügt einige Tropfen verschiedener, flüssiger Chemikalien hinzu, die mit der Verunreinigung reagieren. Die kleine Wasserprobe wird dann rot, blau, gelb oder grün, um die verschiedenen Arten der Kontamination anzuzeigen. Manchmal ist die Verfärbung nur sehr schwach. Man muss auch geringe Farbveränderungen erkennen, um die richtige Dosis an chemischen Gegenmitteln einzurühren und das Wasser auf diese Weise trinkbar zu machen. Der Trick besteht darin, wirklich nur die Menge an Chemikalien hinzuzufügen, die nötig ist, um die Verunreinigung zu neutralisieren. Wenn man etwas Falsches hineinschüttet, läuft man Gefahr, das Wasser endgültig unbrauchbar zu machen. Vom Genuss stirbt man zwar nicht, kann aber richtig krank werden. So etwas will ich natürlich unbedingt vermeiden.

Ich hole die Chemikalien heraus, nehme einen der Wasserbehälter aus durchsichtigem Plastik, die sich im Korb im Startcontainer befunden haben, und schöpfe ein wenig Wasser aus dem Bach. Dann füge ich einen Tropfen der ersten Chemikalie hinzu und schwenke die Mischung. Wenn das Wasser Zyanidverbindungen enthält, die mithilfe biotechnischer Verfahren gewonnen wurden und in vielen Bomben in Stadium Vier des Krieges enthalten waren, dann wird sich die Flüssigkeit rot färben. Nachdem ich das Wasser einige Minuten lang im Behälter habe kreisen lassen, bin ich mir sicher, dass ich diese Art der Verunreinigung ausschließen kann, und so mache ich mich an die nächste Prüfung. Die ersten drei Tests über sind keinerlei Verfärbungen zu beobachten, beim vierten tut sich jedoch etwas. Dabei suche ich nach einer Chemikalie, die damals von der Asiatischen Allianz zusammengemixt wurde und die zu einem Zusammenbruch des Herz-Kreislauf-Systems führt. Das Wasser nimmt sofort einen leuchtenden Lilastich an, der selbst im schwachen Schein der letzten Sonnenstrahlen unverkennbar ist. Ich schütte die Probe aus und fülle nun alle drei Flaschen mit Wasser, das ich mit dem entsprechenden Gegenmittel versetze. Es wird mindestens eine Stunde lang dauern, ehe die Chemikalie ihre Gegenwirkung entfaltet. Morgen früh werde ich einen Löffel voll nehmen und noch einmal testen, um ganz sicherzugehen, ehe wir davon trinken. Jetzt klemme ich mir erst mal die drei Flaschen unter den Arm und schiebe mich durch das dichte Buschwerk zurück zu unserem Lager. Dort knabbere ich einige getrocknete Apfelstücke und rolle mich dann neben Tomas auf dem Laken zusammen. Zwar versuche ich angestrengt wach zu bleiben, aber ich komme einfach nicht gegen die Erschöpfung des langen Tages an.

Genug Auslese für heute.

Der Schlaf ist stärker.

Am nächsten Morgen begrüßt mich das Zwitschern eines Vogels. Wie ich da, so warm ins Laken eingekuschelt, liege, glaube ich für einen kurzen Moment, wieder zu Hause vor dem Kamin zu sein, nachdem mich das Schnarchen meiner Brüder aus dem Zimmer gejagt hat. Dann merke ich, wie sich etwas hinter mir regt, und erinnere mich daran, wo ich mich tatsächlich befinde. Ich reiße mit einem Schlag die Lider auf und sehe, dass Tomas’ klare graue Augen mich anblicken.

»Guten Morgen«, sagt er mit einem liebevollen Lächeln. »Ich wollte dich nicht aufwecken.«

»Und ich wollte nicht einschlafen.« Ich ärgere mich über mich selbst. So viel zum Thema Wache halten, falls der Armbrustschütze zurückkehrt. Wenn er uns in der Nacht aufgespürt hätte, wären wir beide jetzt tot. Das war dumm und leichtsinnig von mir. Wir können von Glück sagen, dass wir noch am Leben sind.

Tomas scheint sich deswegen nicht zu grämen, aber er dämpft seine Stimme, als er sagt: »Wir sind hier recht gut versteckt. Ich bin schon vor einer ganzen Weile aufgewacht und habe mich umgesehen. Falls irgendeiner der anderen Kandidaten hier vorbeigekommen sein sollte, habe ich jedenfalls nichts davon mitbekommen.«

»Findest du es nicht merkwürdig, dass wir bislang keinem anderen Prüfling begegnet sind?«, frage ich.

»Eigentlich nicht. Auf der Karte, die sie uns im Prüfungszentrum gezeigt haben, sah es so aus, als würden die Grenzlinien hier in dieser Gegend mindestens zwanzig Meilen auseinanderliegen. Das bedeutet, dass wir uns alle ganz gut verteilen können. Zunächst jedenfalls.« Er greift in seine Tasche, holt seinen Atlas heraus und schlägt ihn auf der Seite von Kansas auf. »Wenn ich mich richtig entsinne, dann nähern sich die Zäune am Ende einander an, und zwar ungefähr hier.« Er deutet mit dem Finger auf einen Punkt ein gutes Stück von der Stadt entfernt, die früher einmal Wichita hieß. »Ich schätze, dass die Prüfer uns an diesem Punkt aufeinander zutreiben wollen, um zu sehen, wie wir darauf reagieren.«

»Also ein weiterer Test im Test. Wie gestern.«

»Stimmt, und das, wo der Teil gestern schon so toll gelaufen ist.« In Tomas’ Augen blitzt Zorn auf: eine Gefühlsregung, die ich bei ihm bislang noch nie gesehen habe. Normalerweise ist er immer so ruhig und ausgeglichen. Jetzt jedoch klingt seine Stimme laut und angespannt, als er fortfährt: »Ich bin beinahe in Stücke gerissen worden, weil ich einfach nicht glauben wollte, dass du recht haben könntest. Dass das einzige Zeichen der Hoffnung, welches wir seit Beginn des Auslesetests zu sehen bekommen haben, angelegt wurde, um uns zu töten. Ich habe mir die ganze Zeit über gesagt, dass du dich irrst und ich recht habe. Ich meine: Warum zur Hölle sollten uns die Prüfer hier zusammenpferchen, wenn sie uns ohnehin alle umbringen wollen? Für mich ergibt das alles keinen Sinn.«

Er hat die Fäuste geballt, und ich sehe Unverständnis und Wut in seinen Augen, als er auf eine Antwort wartet, die ich ihm nicht geben kann. Also nehme ich Tomas’ schmutzstarrende Hand und drücke sie schweigend, denn ich fühle mich genauso verloren wie er.

Einige Minuten bleiben wir Hand in Hand sitzen, ehe Tomas mir ein Lächeln zuwirft, das das vertraute Grübchen in seine Wange zaubert. »Nun, in einem Punkt lagst du allerdings falsch. Ich war ganz sicher nicht der schlaueste Kerl in unserer Klasse, Cia. Auch wenn es ziemlich klug von mir war, mich mit dir zusammenzutun. Welches andere Mädchen hätte mir schon den Arsch zusammengeflickt, nachdem ich es gerade geschafft habe, mich in die Luft jagen zu lassen?«

»Machst du Witze?« Ich drehe mich weg, nestle an meiner Tasche herum und ziehe eine Tüte mit getrockneten Früchten heraus, nur damit Tomas nicht sehen kann, wie rot meine Wangen geworden sind. »Praktisch jedes unverheiratete Mädchen in der Five-Lakes-Kolonie hätte sich darum gerissen, dich zu verarzten. Vor allem, wenn du dich dann mit einem Kuss bedankst.«

»Cia.« Als ich mich zurückdrehe, versucht Tomas, meinen Blick aufzufangen. Der Schalk ist völlig aus seinen Augen verschwunden und hat einem beschwörenden Ausdruck Platz gemacht.

»Wenn mir ein anderes Mädchen geholfen hätte, hätte ich es nicht geküsst.« Seine Worte hängen zwischen uns in der Luft. Tief in meinem Innern bewegt sich etwas und wird nun endlich gerade gerückt. Dann ist der magische Moment auch schon wieder vorbei, und Tomas sagt: »Komm, wir sollten aufbrechen. Es ist noch ein langer Weg bis nach Tosu-Stadt.«

Ehe wir weiterziehen, teste ich noch einmal das Wasser, das ich gestern behandelt habe, und bin dankbar dafür, dass ich etwas Sinnvolles zu tun habe, was mich davon ablenkt, unablässig über Tomas’ Worte nachzugrübeln. Hat er mir sagen wollen, dass ich etwas Besonderes für ihn bin, oder wollte er mir nur schmeicheln? Wenn ich daran denke, dass ihm zu Hause in Five Lakes so ziemlich jedes Mädchen zu Füßen gelegen hat, finde ich es schwer vorstellbar, dass er jemals auf diese begehrliche Weise an mich gedacht hat. Doch dann erinnere ich mich an den Tanz und all die vielen Male im letzten Jahr, bei denen ich ihn im Klassenzimmer dabei ertappt habe, wie er mich beobachtete. Vielleicht ist die ganze Zeit schon etwas zwischen uns gewesen.

Auch nach der erneuten Überprüfung bleibt das Wasser klar. Tomas und ich nutzen die Chance, stillen ausgiebig unseren Durst und waschen uns sogar den Schmutz der Reise von den Händen und aus den Gesichtern, ehe wir die Flaschen am Bach nachfüllen und die entsprechenden Chemikalien hinzufügen. Zum Frühstück essen wir Cracker, Äpfel und etwas Wiesen-Klee, den wir ganz in der Nähe unseres Lagers in den Büschen entdecken. Ich sehe nach Tomas’ Wunde, trage noch einmal Salbe auf, und dann ziehen wir Richtung Südwesten los.

Der heutige Tag ist kühler. Ich glaube, dass nun Stürme drohen, aber allein die Tatsache, dass es nicht mehr so extrem heiß ist, macht die Reise viel leichter. Unser Vorankommen wird uns vom Transit-Kommunikator angezeigt, auf dem sich unsere Koordinaten ständig anpassen, aber wir merken es auch an der Umgebung, die sich rings um uns herum verändert. Der flache, rissige Boden, der nur ab und an von kleinen Grünflächen und kränklich aussehenden Bäumen durchbrochen wurde, weicht einer Hügellandschaft mit Bäumen, die zwar auch noch nicht richtig gesund scheinen, aber doch nicht mehr so schwarz und verkrüppelt sind. Überhaupt gedeihen hier weitaus mehr Pflanzenarten. Öfter als nur einmal halten Tomas und ich an, weil ich wilde Karotten, Malven und Schwalbenwurz entdeckt habe. Ich weiß zwar nicht, ob wir irgendwann Zeit haben werden, ein Feuer anzuzünden, um Letztere zu kochen, aber sicherheitshalber pflücke ich sie trotzdem. Unsere augenblicklichen Vorräte werden nur noch zwei oder drei Tage reichen. Also brauchen wir alles an Nahrung, was wir finden können.

Wir sehen nun auch immer mehr Vögel wie den, der mich an diesem Morgen mit seinem Gesang geweckt hat, und Spuren anderer Wildtiere. Tomas entdeckt die Abdrücke von Rehen, Füchsen und Hasen und auch tiefe Fährten, die wir keinem Tier zuordnen können. Wir werden auf die Jagd gehen müssen, wenn wir so weit bei Kräften bleiben wollen, dass wir bis zum Ende der Auslese durchhalten. Aber im Augenblick wollen wir erst mal vorankommen. Während wir Meile um Meile zurücklegen, sprechen wir über die vereinzelten Gebäude, an denen wir vorbeikommen. Viele sind es nicht. Bei manchen von ihnen stehen nur noch ein paar Wände. Andere sehen besser erhalten aus. Als die Nacht näher rückt, beschließen wir, uns eine Gruppe von einstöckigen Häusern genauer anzusehen, die von Weitem in gutem Zustand zu sein scheinen. Vielleicht haben die Menschen, die früher hier gelebt haben, etwas zurückgelassen, was wir nutzen können, um schneller voranzukommen. Oder wir finden andere nützliche Dinge wie Draht für Tierfallen, die uns beim Überleben helfen sollen.

Im ersten Haus hat sich eine Tierfamilie eingenistet. Es gibt unverkennbare Spuren von Klauen und Losung, die so frisch aussieht, dass wir es uns anders überlegen und weiterziehen. Das nächste Haus macht den Eindruck, jeden Augenblick einzustürzen, aber ein kleiner Geräteschuppen dahinter scheint stabil zu sein, und so wagen wir uns hinein. Durch ein Fenster, das seine Scheibe schon vor langer Zeit eingebüßt hat, fallen die letzten Strahlen der Sonne herein, sodass wir im Innern alles gut erkennen können. Der Staub und der modrige Geruch bringen mich zum Niesen. An einer Seite des kleinen rechteckigen Raums steht eine verrottete Bank. Auf der anderen Seite sehe ich ein Fahrzeug, das vielleicht einmal ein Traktor war. Aber so genau lässt sich das nicht mehr sagen, denn es ist vollkommen verrostet; alle vier Räder und der Motor fehlen. Dann schiebe ich ein großes verfaultes Brett, das an der Hinterwand lehnt, zur Seite und lächele breit, denn es kommt ein alter Karren zum Vorschein. Die hölzerne Ladefläche ist ebenfalls vermodert, und an einer Seite fehlt ein großes Stück. Unten aber sind zwei große Räder angebracht, die beide so aussehen, als seien sie noch zu retten. Tomas holt sein Werkzeug aus der Tasche und hilft mir dabei, die Räder abzunehmen. Sie sind schwer und von Dreck und dicken Schichten Spinnweben überzogen, aber sie machen mir Hoffnung. Wenn ich noch anderes Material finde, kann ich vielleicht etwas bauen, womit wir schneller vorankommen.

In den nächsten Häusern finden wir einen kleinen Topf, eine Pfanne und einige Schrauben und Nägel, die wir aus verrottenden Regalbrettern ziehen. Nicht gerade viel, aber mehr, als wir am Anfang hatten. Nachdem wir unser Lager für die Nacht aufgeschlagen und zwei unserer Äpfel und den letzten Rest vom Brot verzehrt haben, schlafen wir in der Hoffnung ein, morgen noch weitere Schätze zu entdecken.

Am nächsten Tag, einige Meilen entfernt, stoßen wir auf eine Ansammlung von mehreren Dutzend Gebäuden, die zum großen Teil aus Backsteinen und mithilfe von Zement errichtet worden sind und deshalb Wind und Wetter und dem Zahn der Zeit getrotzt haben. So wie sie angeordnet sind, liegt die Vermutung nahe, dass sie einmal das Zentrum einer Kleinstadt gebildet haben, ähnlich dem Marktplatz in Five Lakes. Wir durchsuchen ein Haus nach dem anderen. Einzelne Drähte wandern in unsere Taschen und ebenfalls ein Schraubenschlüssel. Viel mehr finden wir nicht.

Gerade als wir das letzte Gebäude betreten wollen, zeigt Tomas auf den Boden vor uns. Der halbe Abdruck einer Stiefelsohle. Mein Herz setzt einen Schlag lang aus. Stammt der Abdruck von einem anderen Prüfling? Davon müssen wir wohl ausgehen. Mein erster Instinkt ist: fliehen. So weit und so schnell wegzurennen, wie wir nur können.

Aber Tomas will hineingehen. »Wenn es hier wirklich einen anderen Kandidaten gibt, dann ist es am besten herauszufinden, wer es ist und was er vorhat. Wir wollen doch nicht von ihm überrascht werden, oder?«

Damit hat er zweifellos recht. Bei der Vorstellung, dass ein Unbekannter in unserer Nähe herumlungert und auf einen Moment wartet, in dem er uns wehrlos vorfindet, läuft es mir eiskalt über den Rücken. Ich schlucke mühsam, hole die Pistole aus meiner Tasche und folge Tomas hinein.

Drinnen herrscht völliges Chaos. Mehrere kleine pelzige Tiere hüpfen von einem wackeligen Tisch und rasen quer durch den Raum auf ein Loch in der Wand zu. Weil meine Nerven blank liegen und Angst in meinen Adern pulsiert, denke ich nicht nach, sondern reagiere einfach. Peng. Peng. Peng. Zwei der Tiere mit hellem Fell fallen tot um, noch bevor der Rest es ins rettende Loch geschafft hat.

Erst jetzt schaltet sich mein Gehirn wieder ein und sagt mir, dass ich soeben im nahen Umkreis alle auf uns aufmerksam gemacht habe. Ich fange an, mich zu entschuldigen, aber Tomas lacht nur. »Da gibt es nichts zu entschuldigen. Wenn hier jemand war, dann hat er vermutlich die Beine in die Hand genommen, um so weit wie möglich wegzukommen von jemandem, der eine Knarre hat. Und wenn er wüsste, dass du so gut schießen kannst, dann würde er sogar noch schneller rennen.«

Er bittet mich, die Vordertür im Auge zu behalten, während er den Rest des Gebäudes untersucht. Nach einigen Minuten höre ich ihn einen lauten Schrei ausstoßen. Zuerst denke ich, er hat denjenigen gefunden, der für den Fußabdruck vor der Tür verantwortlich ist. Aber dann höre ich die Freude in seiner Stimme, als er mir zuruft, ich solle schnell kommen, er habe eine Überraschung für mich.

Und was für eine Überraschung! In einem Raum, in dem anscheinend früher der Fuhrpark abgestellt war, liegen zwei Fahrräder. Tomas sagt, er habe sie unter einer Plastikplane in einer der hinteren Ecken gefunden. Es ist dunkel hier, aber ich sehe, dass das eine Rad keinen Hinterreifen hat. Bei dem anderen haben die Kette und die Pedale schon weitaus bessere Tage gesehen. Beide Gestelle sind ziemlich verrostet und voller Dreck. Aber ich strahle trotzdem von einem Ohr bis zum anderen. Sie mögen alt, kaputt und klapprig sein, aber diese Räder kommen mir wie das Schönste vor, das ich je gesehen habe.

Gemeinsam tragen wir sie hinaus, und ich muss lächeln, als ich mich wieder an die Tiere erinnere, die ich geschossen habe. Beutelratten. Das Fell ist zwar etwas dunkler und ähnelt mehr dem von echten Ratten als bei den Exemplaren in der Five-Lakes-Kolonie, aber das zapfenförmige Gesicht, die beiden Reihen winziger, messerscharfer Zähne und der unbehaarte, schuppige Schwanz sind unverkennbar. Und ich weiß aus Erfahrung, dass ihr Fleisch essbar ist. Die Fahrräder und das frische Fleisch machen mich unglaublich glücklich. In dieser Stimmung schlagen wir unser Lager unter einer Baumgruppe mitten zwischen den Gebäuden auf.

Tomas übernimmt freiwillig die Zubereitung des Abendessens und will sich nach einer Wasserquelle umsehen, während ich die Fahrräder auf ihre Tauglichkeit überprüfe. Ich reiße einen Streifen von meinem Laken und befreie die Gestelle von Schmutz, Rost und Schmiere. An einer Kette hat sich ein Glied verdreht, aber mit ein bisschen Fummelei gelingt es mir, es zu entfernen und den Rest der Kette wieder funktionstüchtig zu machen. Die verbliebenen Reifen der Räder sind platt, doch das macht nichts. Ich kratze das Gummi von den Felgen des ersten Fahrrads und bin die nächsten drei Stunden damit beschäftigt, den Zahnkranz zu richten, die Kette wieder einzuhängen und die Bremsen gängig zu machen. Der Sattel ist von Mäusen oder anderen Nagern angeknabbert worden, aber ich stopfe trockenes Gras in einige der Löcher und nähe aus weiteren Resten des Lakens einen neuen Bezug. Als die Sonne am Horizont allmählich untergeht, bin ich voller Schmutz und Schmiere, aber zumindest ein Fahrrad ist wieder einsatzbereit. Vielleicht wird es nicht sehr lange benutzbar sein, doch ich bin mir ziemlich sicher, dass die Reifen auch ohne Schläuche einige Meilen durchhalten werden.

Während der Reparatur des ersten Rades habe ich mir das Problem des fehlenden Reifens beim zweiten durch den Kopf gehen lassen. Auf keinen Fall können Tomas und ich gemeinsam auf einem Rad fahren, wie Daileen und ich es manchmal zu Hause getan haben. Nicht bei der Strecke, die wir noch zu bewältigen haben. Wir brauchen schon zwei Räder, was bedeutet, dass ich auch das andere wieder instand setzen muss. Ich glaube, eine Lösung gefunden zu haben, als Tomas mich ruft, weil das Abendessen fertig ist. So gut es geht, wische ich mir den Dreck von den Händen.

Bei Tomas angekommen, erwartet mich die nächste Überraschung. Auch er ist nicht untätig gewesen, während ich mit den Fahrrädern beschäftigt war. Er hat nicht nur ein Feuer angezündet, sondern auch die beiden Beutelratten gehäutet und gebraten und die Grünpflanzen, die wir gesammelt haben, zusammen mit den wilden Karotten und ein wenig Fichtenrinde aufgekocht. Die größte Freude macht er mir jedoch mit einigen kleinen, frischen, süßen Erdbeeren, die er wild wachsend an einer Seite der Gebäude entdeckt hat. Die warme, sättigende Mahlzeit trägt zu der aufkeimenden Hoffnung bei, die ich schon den ganzen Tag über verspüre.

Während des Essens erzähle ich Tomas von meinen Fortschritten bei der Reparatur und meiner Idee, das zweite Fahrrad tauglich zu machen, indem ich die beiden Räder des Karrens einbaue, den wir gestern gefunden haben. Wir besprechen, wie wir das Fahrrad am besten umrüsten können, und beschließen, den nächsten Tag über hierzubleiben, anstatt weiterzuziehen, denn wir glauben beide, dass sich die Verzögerung am Ende bezahlt machen könnte.

Am nächsten Morgen essen wir kalte Beutelratte und Erdbeeren zum Frühstück und machen uns an die Arbeit. Wir wollen die Schaltung des zweiten Fahrrads so anpassen, dass die beiden mittelgroßen Räder des Karrens eingebaut werden können. Es dauert beinahe den ganzen Tag, und wir brechen mehrmals auf, um die Gebäude der kleinen Stadt nach dringend benötigten Ersatzteilen zu durchkämmen. Als die Sonne unterzugehen beginnt, fahre ich mit dem zweiten Rad eine Runde um den Platz. Wieder gibt es Beutelratte und Erdbeeren für uns. Dazu trinken wir Wasser, das Tomas von einem Bach, nur eine Meile entfernt, geholt hat. Dann befestigen wir Metallstücke hinter den Sätteln unserer Fahrräder, sodass wir Gepäckträger für unsere Taschen haben.

Die Nacht bricht herein. Wir machen es uns auf dem Boden bequem und sehen zu, wie die ersten Sterne am Himmel erscheinen. Tomas hat die Arme um meine Schultern gelegt, und ich kann mir beinahe vorstellen, dass wir daheim hinter unserem Haus sitzen und in den Himmel schauen, während meine Familie ganz in der Nähe ist. Gerade will ich Tomas von diesem schönen Bild berichten, als er seine Lippen für einen sanften Kuss auf meinen Mund drückt. Mein Herz schlägt schneller. Es ist schon zu dunkel, um etwas zu sehen, doch ich spüre, dass Tomas mir die Möglichkeit gibt, mich zurückzuziehen. Aber das will ich überhaupt nicht. Ich beuge mich näher zu ihm und merke, wie sich ein Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitet, ehe sein Kuss leidenschaftlicher wird.

Ich lege ihm eine Hand in den Nacken und halte mich ganz fest, während mein Körper wohlig bebt. Obwohl wir in so einer schlimmen Lage stecken, hat sich noch nie in meinem Leben etwas so vollkommen angefühlt.

Da zerreißt ein Schrei in der Ferne die Nacht. Es ist eine menschliche, eine weibliche Stimme. Der Laut lässt uns auseinanderfahren und bringt uns dazu, sofort zu handeln. Ich höre, wie Tomas sein Messer aus der ledernen Scheide zieht, und taste selbst nach meiner Pistole. Seite an Seite warten wir in der Dunkelheit darauf, dass sich der Schrei wiederholt.

Aber alles bleibt still.

Trotzdem finden wir keinen Schlaf.