Kapitel 14
Ein tiefes Gefühl der Befriedigung durchströmt mich, so wie früher, wenn ich in der Schule einen Test bestanden hatte. Doch ebenso schnell, wie die freudige Erregung gekommen ist, ist sie auch schon wieder verschwunden und wird durch das bittere Gefühl der blanken Angst ersetzt.
Haben die Prüfer jedes einzelne Wort aufgezeichnet, das wir gesprochen haben? Haben sie auch meine Gespräche belauscht, ehe ich nach Tosu-Stadt gekommen bin? Oder haben sie sich die Mühe gar nicht erst gemacht, weil praktisch jede meiner Bewegungen von ihren kleinen Kameras eingefangen wurde? Ich kann nichts anderes tun, als um Letzteres zu beten. Ansonsten würden die Offiziellen jetzt alles wissen. Sie würden die Wahrheit über meinen Vater kennen. Sie hätten von seinen Albträumen erfahren. Er hat mir immer eingeschärft, ich solle niemandem trauen, aber ich habe nicht auf ihn hören wollen. Ich habe geglaubt, ich wüsste es besser. Ich habe Tomas vertraut und ihm alles erzählt, und dadurch habe ich vielleicht das Leben meines Vaters aufs Spiel gesetzt. Diese Regierung hat tatenlos zugesehen, wie sich eine Kandidatin bei der Auslese selbst tötete und ein anderer Prüfling giftige Pflanzen zu sich nahm, weil er sich bei ihrer Bestimmung geirrt hatte. Sie wird ganz sicher nicht davor zurückschrecken, einen Mann umzubringen, den sie für eine Bedrohung hält. Und dann sind da noch Magistratin Owens, Dr. Flint, unsere alte Lehrerin. Alle, die so viel darangesetzt haben, die Schüler der Abschlussklassen von Five Lakes vor der Auslese zu bewahren, sind nun in Gefahr. Und ich trage die Schuld daran.
»Cia, ist alles in Ordnung mit dir?«
Schnell drehe ich mich um und sehe, dass Tomas mich anstarrt. Wie schlimm muss ich aussehen, wenn das zu einer so tiefen Besorgnis in seinem Blick führt! Ich zwinge mich zu einem aufgesetzten Lächeln und erkläre: »Ja, es ist schon okay, ich mache mir nur Sorgen um Tracelyn und die anderen. Hoffentlich haben sie eine Unterkunft für heute Nacht gefunden. Es sieht so aus, als ob ein mächtiger Sturm heraufzieht.« Dann lege ich einen Finger auf die Lippen, deute auf das Armband in meiner Hand und zeige Tomas die kaum zu erkennenden Löcher in der Rückseite. Vorsichtig stochere ich an meinem eigenen Armband herum, löse den Verschluss und lege es auf meine Tasche. Dann nehme ich Tomas’ Hand und entferne sein Band, ehe ich ihn hinter mir her hinaus in den tosenden Wind ziehe.
»Sie spionieren uns nach«, sagt Tomas ungläubig. »Ich schätze, nachdem der Teich explodiert ist, sollte mich eigentlich gar nichts mehr wundern. Im Vergleich dazu ist es ja fast eine Bagatelle, anderer Leute private Unterhaltungen zu belauschen.«
»Was glaubst du, wie lange sie uns schon so überwachen? Erst seit Beginn dieser Testphase oder bereits von Anfang an?«
Ich beobachte ihn, während er über die Frage nachdenkt, und registriere genau den Moment, als ihm unser Gespräch unter den Bäumen einfällt – weit weg von den Kameras. »Vielleicht hatten sie sich zu dem Zeitpunkt noch nicht eingeklinkt. Schließlich waren wir da noch hundertundacht Kandidaten. Viel wahrscheinlicher ist, dass sie sich auf die Kameras verlassen haben, um uns alle gleichzeitig im Blick zu behalten. Über hundert verschiedene Mikrofone abzuhören wäre ganz schön zeitaufwendig, und man bräuchte ja auch einiges an Personal dafür.«
Ich kann nur hoffen, dass er recht hat. Ich wüsste nicht, wie ich mit der Alternative leben sollte.
»Cia. Ich weiß, dass das schwer ist, aber du darfst dir jetzt keine Sorgen darum machen, wie es jedem Einzelnen zu Hause geht.« Er streichelt mir sanft über die Wange. Ich klammere mich an diese zärtliche Berührung wie an einen Rettungsring. »Wir können unseren Familien daheim nur helfen, indem wir diesen Prüfungsteil lebend überstehen.«
Meine Kehle ist wie zugeschnürt, als mich die Verzweiflung überwältigt. »Wenn wir bestehen, dann werden sie uns alle Erinnerungen an die Auslese nehmen. Wir werden nicht wissen, dass wir uns gegen irgendetwas wehren müssen.«
»Das wird nicht geschehen, wenn wir herausfinden, wie genau sie das anstellen wollen.« Er drückt meine Hand und wischt mir die Tränen ab, die mir jetzt ungehindert über die Wangen laufen. »Darüber habe ich bereits nachgedacht, und ich habe da einige Ideen. Jetzt wissen wir ja von den Wanzen und können dafür sorgen, dass die Prüfer nicht ständig über das informiert sind, was wir vorhaben. Cia, du hast uns einen Vorteil verschafft. Wir müssen ihn nun nur noch klug nutzen.«
Auch das wage ich inzwischen zu bezweifeln. Sind wir wirklich klug genug? Können wir ein System austricksen, das schon seit Jahrzehnten funktioniert und das seit dem Wiederaufbau nach dem Krieg das Leben von Hunderten der gescheitesten Köpfe des Landes kontrolliert hat – ein System, das im Augenblick auch uns fest im Griff hat?
Ich straffe meine Schultern und antworte: »Tja, dann müssen wir uns wohl wirklich sehr clever anstellen, stimmt’s?«
»Stimmt.« Tomas lächelt. »Aber was kann schon schiefgehen, wenn wir beide zusammenhalten? Und weißt du was? Ich bin aus einem anderen Grund ganz froh darüber, dass du herausgefunden hast, wie wir belauscht werden.«
»Und was ist das für ein Grund?«
»Ganz sicher will ich es nicht mit Dr. Barnes und seinen Kumpanen teilen, wenn ich dir zum ersten Mal sage, dass ich dich liebe.«
Die Worte und die Art, wie seine Lippen die meinen berühren, lassen mein Herz verrücktspielen. Ich weiß, dass dies der falsche Moment ist, um über Liebe nachzudenken. Die Strapazen des Tests, das Wissen, dass unsere Leben in Gefahr sind, all das hat zur Folge, dass ich meinen Gefühlen nicht völlig trauen kann. Aber das warme Gefühl in mir und die Tatsache, dass ich mich in Tomas’ Nähe so stark fühle, sind echt. Als sich seine Lippen wieder von meinem Mund lösen, schaffe ich es, ihm zu antworten: »Ich denke, ich liebe dich auch.«
»Das denkst du nur?« Er lacht und drückt mich an seine Brust. »Nun, dann ist es vielleicht ganz gut, dass noch einige hundert Meilen Wegstrecke vor uns liegen, auf denen ich dich dazu bringen kann, dir sicher zu sein.« Er drückt mir einen Kuss auf den Kopf und seufzt: »Wahrscheinlich ist es besser, wenn wir jetzt zurückgehen und unsere Zuhörerschaft ein bisschen unterhalten, ehe sie sich fragt, ob wir von zu viel Hühnchen essen ohnmächtig geworden sind.« Er nimmt meine Hand, und gemeinsam kehren wir zum Schuppen zurück. »Dir ist schon klar, dass ich mein Liebesgeständnis noch einmal fürs Publikum wiederholen muss? Ansonsten werden die Leute sich wundern, warum ich dir plötzlich dauernd sage, wie hübsch du bist.«
Ich lächele, als wir das Gebäude betreten und ich die Armbänder wieder um unsere Handgelenke befestige. Allerdings fällt mir nun, wo ich weiß, dass wir belauscht werden, absolut nichts ein, was ich sagen könnte. Glücklicherweise scheint Tomas damit kein Problem zu haben. »Ich dachte, ich hätte draußen ein Geräusch gehört, aber ich habe mich wohl geirrt. Da war niemand. Es braut sich ein Sturm zusammen. Wahrscheinlich treibt der Wind Geröll vor sich her.«
Eine Sekunde lang bin ich verwirrt. Dann dämmert mir, dass er unseren Zuhörern die Stille der letzten Zeit erklären will. »Gut«, sage ich. »Nach letzter Nacht können wir beide ein bisschen Ruhe gebrauchen. Ich bereue es zwar nicht, dass wir den anderen angeboten haben, die Nacht bei uns zu verbringen, aber ich habe kaum ein Auge zugetan, während sie in unserer Nähe waren.«
»Ich weiß.« Tomas setzt sich und klopft auf den Boden neben sich, damit ich ebenfalls Platz nehme. »Ich habe auch nicht viel Schlaf bekommen.«
»Und wie erklärst du dir dann dein Schnarchen?«, ziehe ich ihn auf, obwohl Tomas keineswegs geschnarcht hat. Bestimmt wird unsere Zuhörerschaft das amüsant finden. Wir unterhalten uns noch eine Weile über die anderen Kandidaten und spekulieren, wie es unseren Freunden bislang wohl ergangen ist und ob sie sich mit anderen zusammengetan haben oder ob sie sich allein durchschlagen. Inzwischen beginnt draußen der Sturm zu heulen, und die ersten Regentropfen prasseln auf das Dach.
Als es vollkommen dunkel in der Scheune geworden ist, legen wir uns schlafen. Wir haben uns in die hinterste Ecke zurückgezogen, wo wir glauben, am besten vor dem Unwetter geschützt zu sein. Dort liegen wir nun und lauschen auf den Regen, der in Sturzbächen vom Himmel kommt. Das Wasser tropft durch die Löcher im Dach, aber die Stelle, die wir uns ausgesucht haben, bleibt zu unserem Glück trocken.
Tomas legt mir den Arm um die Schultern und sagt: »Weißt du, ich habe letzte Nacht wirklich die meiste Zeit über wach gelegen. Keine Ahnung, ob das jetzt der richtige Zeitpunkt ist, es dir zu gestehen, aber: Tracelyn hatte recht. Ich bin wirklich in dich verliebt.«
Auch wenn ich diese Worte nun schon zum zweiten Mal höre und weiß, dass sie für Dr. Barnes gedacht sind, bleibt mir trotzdem die Luft weg. Wie beim letzten Mal küsst mich Tomas, doch jetzt dauert der Kuss länger, ist inniger und erregt mich. Als Tomas mich wieder freigibt, brauche ich eine ganze Weile, um wieder zu mir zu kommen. Ich lächele im Dunkeln, kuschele mich an ihn und flüstere: »Ich denke, ich liebe dich auch.«
Seine einzige Antwort darauf ist ein leises Kichern, das mich in den Schlaf begleitet.
Irgendetwas stimmt nicht.
Tomas’ Arm ist noch immer um mich gelegt, und er selbst atmet ruhig und gleichmäßig. Ein hellgrauer Lichtstrahl fällt quer durch die Scheune. Der Regen hat nachgelassen.
Ich lege meinen Kopf wieder auf den Boden, schließe die Augen und versuche, noch ein paar Minuten länger zu schlafen. Plötzlich höre ich es.
Ein schnaufendes Atmen. Da ist jemand.
Mit einem Schlag sind meine Augen offen; ich hebe den Kopf und schaue mich im Dämmerlicht der Scheune um. Nichts. Jedenfalls kann ich nichts entdecken. Das Atmen klingt ganz nah. Rasch schließe ich meine Augen wieder, konzentriere mich auf mein Gehör und versuche herauszufinden, aus welcher Richtung das Geräusch kommt. Die Quelle scheint sich unmittelbar hinter mir zu befinden.
Mit pochendem Herzen schlüpfe ich vorsichtig unter Tomas’ Arm hervor, richte mich langsam auf und drehe den Kopf, um zur Mauer hinter uns zu schauen. Da ist nichts, und doch kann ich noch immer rasches Ein-und Ausatmen hören. In einer Ecke der Wand klafft ein breiter Riss, durch den das Sonnenlicht hereinströmt. Behutsam, um Tomas nicht aufzuwecken, stehe ich auf, husche zu dem Spalt, spähe hindurch und kann gerade noch vermeiden, laut loszuschreien.
Das Tier, das dort steht, erscheint mir riesig. Aufgerichtet auf die Hinterläufe, ist es genauso groß wie ich; schwarzgraues Fell bedeckt den größten Teil seines Körpers. Hier und da schimmert ledrige rosafarbene Haut durch. Am meisten schockieren mich jedoch die wie Eisenhaken gebogenen Klauen und die Zähne, die ihm gleich in mehreren Reihen gewachsen sind. Gelb und spitz gähnen sie in seinem breiten, hervorstehenden Maul.
Ist das eine Art Bär oder ein Wolf? Egal, um welche Spezies es sich handelt, sie ähnelt keinem Tier, das ich jemals gesehen habe. Mein Vater hat mir mal Bilder gezeigt, die er in den Randgebieten einer der Kolonien gemacht hat, in denen er tätig gewesen ist. Es waren Aufnahmen von Tieren, bei denen die gleichen Chemikalien und Strahlen, die auch den Erdboden verseucht haben, zu schweren Mutationen geführt haben. Einige der Tiere hatten zusätzliche Gliedmaßen entwickelt oder ihre Schwänze eingebüßt. Anderen war das Fell ausgefallen, oder ihre Haut war so dick geworden, dass Waffen sie kaum noch durchdringen konnten. Unabhängig von den einzelnen Besonderheiten, waren all diese genveränderten Tiere bösartig geworden. Selbst die kleinsten Nagetiere mit ihren haarlosen Körpern und übergroßen Ohren können unabhängig von ihrer geringen Größe jederzeit auf die Idee verfallen, Menschen anzugreifen. Dieses Tier hier draußen vor der Scheune, ganz gleich was das ist, ist allerdings keineswegs klein. Im Gegenteil: Es ist gigantisch. Wenn es uns angreift, werden wir in ernsthaften Schwierigkeiten stecken.
Und es wartet da draußen nicht allein. Als der große schwarze Kopf nach rechts schwenkt, sehe ich dahinter noch ein weiteres Tier stehen, das zwar grauer, aber ebenso furchteinflößend aussieht. Es schnüffelt in der Luft. Hat es unsere Witterung aufgenommen? Ich vermute es. Und das bedeutet, dass wir schleunigst von hier verschwinden müssen.
Ich bin dankbar, dass wir unsere Habseligkeiten schon eingepackt haben, denn wir müssen uns beeilen. Sorgsam darauf bedacht, keinen unnötigen Lärm zu machen, knie ich mich neben Tomas und wecke ihn sanft auf. Kaum hat er die Lider aufgeschlagen, lächelt er mich auch schon liebevoll an, aber die Wärme und Freude auf seinem Gesicht sind wie weggeblasen, als er meine Angst sieht. Seine grauen Augen werden ganz schmal, als ich mich vorbeuge und ihm ins Ohr flüstere: »Da draußen belauern uns mutierte Tiere. Wir müssen sofort weg.«
Er nickt, und nur Sekunden später steht er zum Aufbruch bereit mit seiner Tasche in der Hand neben mir. Gemeinsam schleichen wir zur anderen Seite der Scheune. Bei jedem Schlurfen unserer Schuhe und jedem Rascheln von trockenem Gras unter unseren Füßen setzt mein Herz einen Schlag aus. Als wir die Tür erreicht haben, flüstert Tomas: »Wir rennen lieber und schieben unsere Räder, bis wir die Straße erreicht haben. Dann fahren wir, okay?«
Die Scheune liegt vielleicht hundertfünfzig Meter von der Straße entfernt. Gestein, Bäume und Unterholz trennen uns vom ebenen Asphalt. Außerdem führt ein lang gezogener Abhang zur Fahrbahn hinauf. Ich habe keine Ahnung, wie sich die Wölfe oder was auch immer mit ihren Hakenklauen vorwärtsbewegen oder wie schnell sie sind. Vielleicht bemerken sie unsere Flucht auch gar nicht. Und falls doch, sind wir möglicherweise schon zu weit von ihnen entfernt, als dass sie noch die Verfolgung aufnehmen. Wenn aber doch … Nun, ich hoffe, dass die Biester wie Bären trotten. Dann könnten wir eine Chance haben. Wenn sie jedoch schneller sind …
Entschlossen ziehe ich meine Pistole heraus, hole tief Luft und sage: »In Ordnung. Lass es uns versuchen.«
Meine Füße trampeln über den harten Erdboden, und meine Hände umklammern die Pistole und die Lenkergriffe, während ich die Augen starr auf die Straße gerichtet halte. Die Reifen des Fahrrads klappern und hüpfen über das unwegsame Gelände, doch ich werfe keinen Blick zurück, um zu prüfen, ob die Tiere etwas bemerkt haben. Das würde mich nur aufhalten. Wenn die Ungeheuer mit den grauenhaften Zähnen die Verfolgung aufgenommen haben, kann ich mir keine Verzögerung leisten. Tomas hingegen sieht sich um. Das verrät mir sein scharf eingesogener Atem und die Art, wie er sich selbst zu noch mehr Tempo antreibt und mir mit gellender Stimme zuruft: »Lauf, Cia! Lauf!«
Und das tue ich. Ich renne so schnell, wie ich kann. Meine Waden-und Oberschenkelmuskeln brennen, während ich mitsamt dem Fahrrad den Hügel hinaufstürme, der zur Straße führt. Unsere einzige Hoffnung darauf zu entkommen liegt noch mindestens fünfzig Meter entfernt. Aber die Bestien müssen erst noch die Scheune umrunden und sind noch ein gutes Stück entfernt.
Tomas mit seinen längeren, kräftigeren Beinen zieht an mir vorbei. Er hört nicht auf zu schreien, dass ich weiterrennen soll, und ich will seine Worte beherzigen, kann aber nicht noch schneller laufen. Da höre ich es: Keuchen. Knackende Zweige. Jaulen und Heulen. Sie sind nah. Viel zu nah schon. Und der Abstand wird geringer.
Wilde, panische Angst bringt mich dazu, auf dem Weg den Abhang hinauf noch mehr aus mir herauszuholen. Zwei Mal verliere ich beinahe mein Fahrrad, als sich meine Füße im niedrigen Buschwerk verfangen, aber ich schaffe es irgendwie doch, das Rad festzuhalten und weiter den Abhang hochzuhetzen. Irgendwo hinter mir wird aus dem Jaulen ein Knurren. Der Abstand hat sich offenbar weiter verringert. Die Viecher holen auf, und vor mir liegen noch mindestens zehn Meter, bis ich die Straße erreicht habe. Eine Pedale bleibt in einem Busch hängen, und ich gerate ins Stolpern und falle fast auf die Knie. Als ich hochschaue, sehe ich Tomas oben auf dem Hang. Er sitzt bereits startklar im Sattel.
»Komm schon, Cia. Beeil dich.«
Er spricht es nicht aus, aber ich weiß, dass die Tiere unmittelbar hinter mir sind. Tomas kann mir nicht helfen, wenn ich es nicht hoch zur Straße schaffe. Also reiße ich mich zusammen, hebe mein Fahrrad hoch, damit es sich nicht noch einmal im Unterholz oder im Gras verhaken kann, und zwinge mich die letzten Meter hinauf. Als ich endlich Asphalt unter den Füßen spüre, will ich vor Erleichterung in Tränen ausbrechen, aber mir bleibt keine Zeit: Aus den Augenwinkeln sehe ich sie. Ein ganzes Rudel. Sechs oder mehr. Sie sind schnell. Große, massige Körper mit mattem Fell in verschiedenen Farben. Sie sind nicht einmal mehr fünfzehn Meter hinter mir. Ihre Mäuler sind weit aufgerissen, bereit zum Angriff. Ein Tier springt den anderen voraus. Seine großen gelben Augen fixieren mich, während sich die Spanne zwischen uns verringert. Ich ziele und feuere. Das Ding brüllt vor Zorn auf, als es von der Kugel mitten in die Brust getroffen wird. Aber mein gezielter Beschuss hält es keineswegs auf.
»Wir können sie nicht ausschalten. Nun komm schon. Wir müssen weiter.«
Tomas’ Stimme reißt mich aus der Erstarrung. Ich schwinge mein Bein über den Rahmen des Fahrrads. Meine Füße finden die Pedale und beginnen zu strampeln. Der Klang von Klauen auf dem Asphalt und das wütende Schnauben unserer Verfolger lassen mich immer schneller treten. Das rostige Metall unter mir protestiert, als ich an Fahrt gewinne. Ich bete, dass meine Konstruktion nicht gerade jetzt den Geist aufgibt. Tomas hat recht. Diese Kreaturen – was auch immer sie sein mögen – sind zu stark, als dass wir sie mit unserer Pistole oder dem Messer töten könnten. Wenigstens sind sie nicht die Schnellsten. Doch wenn wir sie nicht abhängen, dann …
Tomas feuert mich an, und dann, endlich, führt die Straße bergab. Meine Reifen drehen sich immer schneller. Noch immer höre ich das Geheul hinter mir, aber es klingt, als wenn unsere Verfolger zurückfallen. Ich trete unablässig in die Pedale und hoffe inständig, dass die Tiere aufgeben und sich ein anderes, schwerfälligeres Opfer als Morgenmahlzeit suchen.
Und das tun sie.
Das Heulen und Knurren wird schwächer. Als ich nichts mehr hören kann, traue ich mich endlich, mich umzudrehen, und da sehe ich, wie das Rudel in der Ferne die Straße wieder verlässt. Die Tiere bewegen sich in Richtung Norden. Weg von uns. Puh, Schwein gehabt.
Trotzdem radeln wir weiter, nur für den Fall, dass die widerlichen Kreaturen auf die Idee verfallen, uns in einem Bogen zu überholen und uns dann von vorn erneut anzugreifen. Für diese Überlegungen wären eine höhere Intelligenz und berechnende Entschlossenheit nötig. Mehr als es bei den meisten Tieren zu erwarten ist. Aber ich kenne genug Geschichten, die am Lagerfeuer erzählt werden, um den Kindern Angst einzujagen. Sie handeln von Menschen, die die Strahlung und die abgeworfenen Chemikalien überlebt haben, seitdem jedoch grauenhaft verändert sind. Niemals habe ich geglaubt, dass die Geschichten wahr sein könnten. Aber ich hätte es auch nicht für möglich gehalten, dass das Vereinigte Commonwealth fähig wäre, Testkandidaten sterben zu lassen, wenn es den Prüfern während des Auswahlverfahrens gerade in den Kram passt. Auch wenn die Tiere, denen wir soeben entkommen sind, keinerlei Anzeichen von menschlichen Eigenschaften aufgewiesen haben, fahren wir sicherheitshalber weitere fünfzehn Meilen, ehe wir anhalten und versuchen, wieder zu Atem zu kommen.
Ich steige ab, lege mein Fahrrad auf den Boden und werfe mich in Tomas’ ausgebreitete Arme. Als ich meinen Kopf an seine Brust schmiege, höre ich sein Herz hämmern und weiß, dass meines ebenso schnell schlägt. Wir sind am Leben. Seitdem man schon kurz nach Beginn dieses Prüfungsteils auf mich geschossen hat, habe ich mich die ganze Zeit über auf die Gefahr konzentriert, die meine Konkurrenten für mich bedeuten, und auf die Fallen, die die Prüfer der Auslese uns gestellt haben könnten. Die Tiere, die die verseuchten Weiten durchstreifen, hatte ich fast völlig vergessen. Allerdings: Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, frage ich mich, ob sie hier wirklich nur zufällig auf der Jagd waren oder ob da nicht vielleicht sogar ein bisschen nachgeholfen wurde. Die Prüfer haben doch Zäune errichtet. Wenn diese hoch genug sind, um uns im Innern des abgesteckten Gebietes zu halten, wäre es da nicht wahrscheinlich, dass sie auch die Tiere aussperren, die die Prüfer nicht dabeihaben wollen?
Ich löse mich aus Tomas’ tröstlicher Umarmung, hole eine Wasserflasche heraus und spüle den bitteren Geschmack von Angst und Müdigkeit hinunter. Dann reiche ich die Flasche an Tomas weiter und packe die Nahrungsmittel aus, die wir uns heute zum Frühstück hatten zubereiten wollen. Wie durch ein Wunder sind die Eier, die wir sorgfältig in meine Kleidung gewickelt hatten, unversehrt geblieben. Tomas schlägt vor, dass wir ein Feuer machen und sie kochen, da wir uns ohnehin eine Ruhepause gönnen müssen. Wir sind beide erschöpft von unserer Flucht.
Jedenfalls halte ich die wilde Verfolgungsjagd für den Grund unserer Müdigkeit. Während wir Zweige und Stöcke fürs Feuer sammeln und Tomas sich hinkniet, um ein Streichholz anzureißen, entdecke ich jedoch, dass Blut hinten durch seine Hose gesickert ist. Bei diesem Anblick läuft es mir eisig über den Rücken, und mir fällt auf, wie blutleer Tomas’ Gesicht geworden ist, nun wo die Anstrengung vorbei ist, welche ihm zuvor die Röte in die Wangen getrieben hatte. Seine Hand mit dem Streichholz zittert, als er die gestapelten Zweige entzündet und zu einem knisternden Feuer anbläst.
Ich hole mein Erste-Hilfe-Set aus der Tasche und sage Tomas, er solle sich hinlegen.
Er wirft mir ein schmerzverzerrtes Grinsen zu. »Sag einem Mädchen, dass du es liebst, und schon fängt es an, dich herumzukommandieren. Aber ich schätze, ich sollte mich nicht beklagen. Vermutlich bittest du mich als Nächstes, meine Hose runterzulassen.«
Ich lache, aber als ich sehe, dass die ausgebrannte Wunde frisch aufgerissen ist, vergeht mir der Spaß. Nachdem ich das Blut weggewaschen habe, sticht mir sofort die leichte Rötung rings um die Verletzung ins Auge, die für eine Infektion spricht. Die Entzündung ist nicht schlimm – noch nicht jedenfalls. Aber sie könnte es sehr schnell werden, wenn wir nicht aufpassen. Als ich über die möglichen Ansteckungsherde unterwegs nachdenke, wird mir sehr schnell klar, dass ich die Behandlungsmethoden ändern muss. Nicht dass es jetzt leichter für mich werden würde.
Ich bringe Tomas dazu, mehrere Schmerztabletten auf einmal zu schlucken und viel Wasser zu trinken, bevor ich eine Nadel sterilisiere, einen Faden einfädele und mich an die Arbeit mache. Tomas zuckt zusammen, als sich die Nadel in sein Fleisch bohrt. Vielleicht aber war auch ich diejenige, die zusammengezuckt ist. Mein Herz hämmert, mein Magen verkrampft sich, und ich beiße die Zähne aufeinander, während ich die Nadel durch das Gewebe schiebe, den Faden straff ziehe und die Prozedur wiederhole. Der frische Riss ist etwas mehr als einen Zentimeter lang, aber jeder Stich ist so klein, dass ich beinahe ein Dutzend davon brauche, um alles zu verschließen. Tomas gibt keinen Laut von sich, doch jedes Mal, wenn er das Gesicht verzieht, schmerzt mir das Herz. Dr. Flint hat mal zu mir gesagt, dass es schlimm für Ärzte sei, Menschen zu behandeln, die sie lieben, und dass er deshalb hoffe, niemals Dad oder eines von uns Kindern operieren zu müssen. Er befürchte, dass seine eigene Angst ihm den Blick für das verstellen würde, was er in seiner Ausbildung gelernt habe. Während ich Tomas’ Wunde nähe, verstehe ich Dr. Flints Worte. Meine Finger sind voller Blut, als ich nach dem letzten Stich den Faden verknote und ihn dann abtrenne.
Mir ist übel, und ich zittere am ganzen Leib, doch ich muss noch Desinfektionssalbe auftragen und die Verletzung sauber verbinden. Tomas ist in noch schlimmerem Zustand, als ich es bin. An eine Weiterreise ist jetzt überhaupt nicht zu denken. Ich wasche mir die Hände und sage Tomas, er solle ein bisschen schlafen, während ich mich ums Essen kümmere. Seine Augen sind schon zugefallen, noch ehe ich die Pfanne herausgeholt habe.
Ich beschließe, das Kochen auf später zu verschieben. Nach dem ganzen Blut ist die Aussicht darauf, mit Nahrungsmitteln zu hantieren und sie hinterher auch noch verspeisen zu müssen, nicht besonders verlockend. Mit der Pistole in der Hand durchkämme ich die nähere Umgebung nach irgendetwas, was wir zu den gekochten Eiern essen könnten, und entdecke ein wenig Lauch und sogar ein paar wilde Himbeeren.
Mehr als zwei Stunden lang lasse ich Tomas ruhen – so lange, wie ich es gerade noch wage. Als er die Augen aufschlägt, sehe ich, dass sie glänzend und klar sind, und es liegt sogar eine Spur Verärgerung darin, dass ich ihn den Tag habe verschlafen lassen. Als wir jedoch mit dem Essen fertig sind, wird offensichtlich, dass es keine gute Idee wäre, mit dem Fahrrad zu fahren, egal wie gerne Tomas das auch tun würde. Der hohe Blutverlust hat ihn geschwächt, und seine Wunde ist viel zu berührungsempfindlich. Also laufen wir einige Stunden weiter und schieben unsere Räder, und immer wieder legen wir kleinere Pausen ein, in denen sich Tomas ausruhen kann. Irgendwann kommen wir an einem Fluss vorbei, doch sein Wasser ist zu stark vergiftet, als dass man es noch trinkbar machen könnte. Jedenfalls nicht mit den Chemikalien aus meiner Tasche.
Wir kommen zwar nicht sehr schnell, aber stetig voran. Gegen Abend entdecken wir in der Ferne Häuser. Eine verlassene Stadt. Und die Straße, auf der wir unterwegs sind, führt mitten durch sie hindurch.