Kapitel 18

Starke Arme reißen mich zu Boden. Tomas wirft sich wie ein menschlicher Schutzschild über mich, während die Schüsse nicht abreißen. Vom Asphaltboden aus sehe ich, wie der gesichtslose, blutüberströmte Körper des Mannes zusammenbricht. Dann höre ich Schreie hinter uns. Die einzelnen Wörter kann ich nicht verstehen, und doch höre ich: Empörung. Zorn. Rachedurst. Die Gruppe befindet sich nicht länger Dutzende Meter hinter uns. Sie drängt vorwärts. Schnell.

Tomas rappelt sich als Erster wieder auf und streckt mir seine Hand entgegen. Ich greife danach, als eine weitere Kugelsalve funkensprühend auf der Fahrbahn aufschlägt. Weitere unserer friedlichen Verfolger fallen auf die Knie. Die Kugeln reißen Glieder auseinander, zerfetzen Oberkörper, zerschmettern Köpfe – sie sorgen für ein unvorstellbares Blutbad. Die mutierten Menschen kreischen, als die Kugeln ihre Kameraden niederstrecken. Hoch oben auf dem dreistöckigen Gebäude sehe ich flüchtig einen blonden Haarschopf, eine große, muskulöse Gestalt und das dunkle Metall eines Maschinengewehrs. In diesem Moment drückt Tomas mir mein Fahrrad in die Hände und schreit, ich solle aufsteigen und zusehen, dass ich hier wegkomme.

Aber ich kann nicht. Ich weiß, wer der Junge ist, der die Waffe hält. Es ist Brick.

»Stell das Feuer ein!«, brülle ich und winke mit den Armen, um seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Die qualvollen Schreie aus den Fensterhöhlen und Eingängen entlang der Straße vermischen sich mit meinen eigenen Rufen. Immer mehr Menschen drängen heraus. Sie kommen jetzt dutzendweise. Und während ich mich vor ihrer Rache fürchten sollte, kann ich nichts anderes tun, als Brick zuzuschreien, er solle endlich zu schießen aufhören, und fassungslos auf die entsetzliche Szene zu starren, für die er verantwortlich ist. Es ist unvorstellbar, dass das blutige Fleisch und Muskelgewebe auf dem Asphalt vor wenigen Augenblicken noch lebendig gewesen ist. Mein Magen rebelliert beim Gestank des Blutes. Neben mir höre ich Tomas würgen und weiß, dass er in nicht viel besserer Verfassung ist. Ich krümme mich zusammen und sehe, dass das Regenwasser, das über die Straße rinnt, rot vor Blut ist. Rot. Genau wie unser Blut. Menschlich. Es waren alles Menschen. Und jetzt sind sie tot.

Zwischen den Donnerschlägen und dem kehligen Gebrüll dauert es mindestens eine Minute, ehe ich merke, dass Brick etwas zu uns herunterruft. »Ich gebe dir Deckung, Cia. Lauf! Verschwinde, bevor sie euch angreifen. Du musst verschwinden!«

»Aufhören!«, schreie ich. Tränen und Übelkeit drohen, meine Stimme zu ersticken. Alle diese Leute sind tot. Erschossen von dem Jungen, dem ich zu überleben geholfen habe. »Du tötest Menschen. Sie haben uns nichts getan. Es sind doch einfach nur Menschen.«

Aber Brick hört mir nicht zu. Er hat wieder das Feuer eröffnet und zielt weiter auf die Wehrlosen auf der Straße, die uns trotz dieser entsetzlichen Provokation noch immer nicht angreifen. Sie wollen nichts anderes, als sich um ihre Toten zu kümmern. Und schon gehören auch sie zu den Gefallenen.

Tomas packt mich am Arm. Mir rutscht das Fahrrad aus den Händen und fällt klappernd auf die Straße.

»Heb es auf. Wir können ihnen nicht helfen, Cia. Wir müssen weg von hier.«

Ich bin kurz davor, das Gleichgewicht zu verlieren, als ich noch beim Aufsteigen hinter mich schaue und Brick dazu zu bringen versuche aufzuhören. Aber ich habe keinen Erfolg. Gewehrsalven hallen weiter durch die Straßenflucht. Wie viele Tote gibt es? Und alles meinetwegen. Weil ich Bricks Leben gerettet habe und er jetzt glaubt, sich bei mir dafür revanchieren zu können.

Mehr als einmal höre ich auf, in die Pedale zu treten, weil ich vom ganzen Ausmaß des Massakers, das ich gerade mit angesehen habe, überwältigt werde. Tomas’ geduldige Stimme treibt mich immer wieder vorwärts. Dabei will ich mich doch nur zusammenrollen und weinen.

Und bald schon kann ich genau das tun. Am Rand der Stadt entdeckt Tomas ein kleines Gebäude, das gut erhalten aussieht, und besteht darauf, dass wir uns hier für die Nacht einrichten. Der sintflutartige Regen hat endlich aufgehört, aber unsere Kleidung, Haare und Schuhe sind völlig durchweicht. Im Haus findet Tomas genug Holz, um auf dem Steinboden in der Nähe eines Fensters ein Feuer zu machen, und er überredet mich, aus meinen klatschnassen Sachen zu schlüpfen. Ich mache, was er sagt, auch wenn mein anderes Hemd voller Flecke von meinem ersten Zusammenstoß mit diesen Leuten ist – einem Zusammenstoß, bei dem auch ich zur Mörderin geworden bin.

Mir ist nicht nach Essen zumute, und so ziehe ich meine Beine fest an die Brust und starre ins Feuer, während ich mir vorzustellen versuche, wie meine Familie sicher und warm vor unserem Kamin sitzt. Tomas besteht darauf, meinen Arm zu versorgen. Er holt einige Schmerztabletten aus meiner Tasche und drängt mich, sie zu schlucken. Vielleicht können sie meinen Körper dazu bringen, nicht mehr so zu zittern. Noch immer dröhnen Donnerschläge durch die Straßen der Stadt, während Tomas mich in seinen Armen hält und mir immer wieder sagt, wie sehr er mich liebt, während ich mich in den Schlaf weine.

Meine Träume sind erfüllt von Gewehrfeuer und Blutströmen. Als ich aufwache, wird mir klar, dass diese Träume ihren unmittelbaren Ursprung in der Realität haben, und eine Welle von Übelkeit steigt in mir auf. Ich weiß, dass ich etwas zu mir nehmen muss, aber mein Magen zieht sich zusammen beim bloßen Gedanken an Fleisch. Ich zwinge mich, eine Birne zu essen, und trinke etwas Wasser. Unsere Stiefel sind noch immer feucht, aber wir schlüpfen hinein, packen unsere paar Habseligkeiten und treten nach draußen. Der Himmel ist strahlend blau, der Wind kühl und erfrischend. Wir entdecken sogar ein paar Blumen, die unter der gleißenden Sonne aufgeblüht sind. Ein vollkommener Tag, der die furchtbaren Ereignisse des Vorabends zu verhöhnen scheint.

Aus alter Gewohnheit werfen wir einen Blick auf die Karte, schieben unsere Fahrräder zur Straße, steigen auf und radeln los. Dem Transit-Kommunikator nach zu urteilen, liegen nicht einmal mehr zweihundert Meilen vor uns, ehe wir das Ende der Prüfung erreicht haben. Wir treten kräftig in die Pedale, zum einen um endlich Tosu-Stadt zu erreichen, aber auch um das Feld der Toten möglichst weit hinter uns zu lassen. Als wir eine Steigung hinauffahren, können wir sehen, dass die Grenzlinie von Norden her auf uns zuläuft. Nun trennt vielleicht nicht einmal mehr eine Meile die beiden Zäune. Unsere Prüfer wollen offensichtlich, dass die übrig gebliebenen Kandidaten aufeinandertreffen. Ich frage mich, ob die Offiziellen überhaupt noch eine Auswahl treffen müssen, wenn das hier alles vorbei ist. Nach dem, was ich unterwegs zu sehen bekommen habe, würde es mir wie ein Wunder vorkommen, wenn mehr als zwanzig von uns lebend die Ziellinie überqueren sollten.

Wir radeln den ganzen Tag und legen nur minimale Pausen ein. Mein Arm ist schlimmer geworden. Ich schwitze beim Fahren, und die Finger meiner linken Hand verlieren ihren sicheren Griff. Nur mit größter Willenskraft zwinge ich meine Beine dazu, stetig weiterzustrampeln. Ich will unsere Räder dazu bringen, sich auf dieser Zielgeraden immer schneller und schneller zu drehen. Tagsüber treffen wir keine anderen Kandidaten. Als wir haltmachen, liegen noch hundertfünfzig Meilen vor uns. Tomas hält mich in dieser Nacht ganz fest, küsst mich zärtlich und flüstert mir ins Ohr, dass wir es bei diesem Tempo in drei Tagen nach Tosu-Stadt schaffen müssten. Nur noch drei Tage. Ich sage mir, dass ich so lange noch durchhalten kann, und hoffe inständig, dass ich damit recht habe.

Der Himmel ist grau, als wir ein weiteres Mal aufbrechen. Meine Beine sind schwächer, die Entzündung in meinem Arm hat sich verstärkt. Ich schlucke wieder Schmerzmittel, trage noch mehr Salbe auf, aber ich weiß, dass beides nichts gegen das Gift ausrichten kann, das in mir wütet. Ob man in Tosu-Stadt nach unserer Ankunft wissen wird, wie solche Verletzungen zu behandeln sind? Tomas ist davon überzeugt, aber er würde so ziemlich alles behaupten, nur damit ich nicht aufgebe. Merkwürdig, aber aufzugeben ist das Letzte, was ich tun würde. Nicht nach all dem, was wir gesehen haben und was wir zu tun gezwungen waren. Aufzugeben würde mir vorkommen, als wenn ich dem Zurückliegenden keine Bedeutung beimessen würde. Aber es muss relevant sein. Jemand muss sich daran erinnern. Jetzt, da wir dem Ende der Ausleseprüfung so nahe sind, mache ich mir Sorgen über die Löschung der Erinnerung, die mein Vater angekündigt hat. Während wir unseren Weg fortsetzen, versuche ich, mich an alles zu erinnern, was wir von unseren Lehrern in Five Lakes und von Dr. Flint über den Aufbau des menschlichen Gehirns gelernt haben. Als wir einen Stopp einlegen, um etwas zu essen, verkünde ich, ich bräuchte einen kurzen Mittagsschlaf. Statt mich hinzulegen, streife ich jedoch mein Armband ab und entferne mich etwa fünfzig Meter. Ein paar Minuten später macht Tomas das Gleiche.

»Was ist los? Ist dein Arm noch schlimmer geworden? Wir können ein bisschen langsamer fahren, wenn du mehr Ruhe brauchst.«

Ich ignoriere den Schmerz, der nun nicht mehr nur in meinem Arm tobt, sondern über meine Schulter bis hinunter in den ganzen Oberkörper ausstrahlt, und sage: »Wir sind fast am Ziel.«

Auf Tomas’ Gesicht erscheint ein breites Grinsen. Das vertraute Grübchen bringt mich beinahe zum Weinen. »Ich weiß. Nur noch ein Tag, vielleicht zwei, dann sollten wir ankommen.« Er legt mir eine Hand auf die Stirn, und seine Miene wird plötzlich so besorgt, dass ich bestätigt finde, was ich ohnehin schon wusste. Ich glühe. »Sie werden deinen Arm wieder hinkriegen, wenn wir da sind, Cia. Im Handumdrehen wirst du wieder vollkommen hergestellt sein.«

Vielleicht. Aber darüber kann ich mir im Augenblick keine Gedanken machen. »Dad hat gesagt, sie würden unser Gedächtnis so verändern, dass wir uns an die gesamte Auslese nicht mehr erinnern können.«

»Möglicherweise ist das gar nicht so schlimm, wie wir jetzt glauben. Vielleicht versuchen sie ja tatsächlich, uns zu helfen, indem sie uns die Erinnerungen nehmen. Willst du wirklich damit leben müssen, dass du Malachi hast sterben sehen? Oder mit dem Anblick von Brick mit seinem Maschinengewehr?«

»Nein«, antworte ich wahrheitsgemäß. Ein Leben lang unter Albträumen zu leiden, das ist nicht meine Vorstellung von einer guten Zeit. Aber genauso wenig will ich, dass mein Gehirn neu programmiert wird. Ich will einfach nicht vergessen, was ich durchlitten habe, wofür Malachi sein Leben lassen musste und was Brick für mich getan hat. »Ich muss mich erinnern können. Es ändert überhaupt nichts, wenn wir vergessen, was passiert ist. Nichts kann die Vergangenheit ungeschehen machen. Die Albträume meines Vaters beweisen, dass das Gedächtnis nicht vollständig gelöscht werden kann. Anstatt von dem geplagt zu werden, was Dad getan oder nicht rechtzeitig bemerkt oder unterlassen hat, kann er nur Vermutungen anstellen und sich mit Fragen quälen. Ist das nicht viel schlimmer?«

Tomas tritt immer wieder mit dem Fuß auf den Boden vor sich, als würde er unsichtbare Steine wegkicken. Ich sehe, dass meine Worte in ihm arbeiten, und ich kann ihn verstehen. Die Vorstellung eines gnädigen Vergessens ist einfach zu verlockend.

Dann blickt er mit einem Ruck hoch und sagt: »Die Albträume deines Vaters und die von Dr. Flint haben mich auf die Idee gebracht, dass die Prüfer unsere Erinnerungen nicht mithilfe einer Operation löschen werden.«

Ich pflichte ihm bei. Dr. Flint hat uns erklärt, dass die Regionen im Gehirn, die für das Langzeit-und für das Kurzzeitgedächtnis verantwortlich sind, leicht zu finden seien, dass aber jedes Gehirn etwas anders aufgebaut sei. Der Versuch, eine bestimmte Verbindung im Gehirn zu kappen, die allein für die Erinnerungen von drei oder vier Wochen zuständig ist, dürfte schon bei einem einzigen Patienten eine riesige Herausforderung bedeuten – ganz zu schweigen von den Hunderten, die ihren Abschluss an der Universität gemacht haben.

»Drogen? Ein akustischer Impuls? Hypnose?« Im Augenblick kommt es mir vollkommen unmöglich vor, mich gegen all diese verschiedenen Möglichkeiten zu wappnen, noch dazu hier draußen.

»Ich wette, sie versuchen es mit Drogen.«

Davon gehe ich ebenfalls aus, vor allem nach meiner Unterhaltung mit dem Mann auf der anderen Seite des Zauns. Kurz gerate ich in Versuchung, Tomas von meinem Gespräch zu erzählen, von dem Fläschchen, das der Mann am Zaun mir gegeben hat, und auch von dem Wahrheitsserum, das die Tester uns angeblich unbemerkt verabreichen werden. Diese Informationen zurückzuhalten kommt mir fast wie ein Verrat vor. Allerdings weiß ich nicht, wie ich es Tomas erklären soll, warum ich das alles bislang vor ihm geheim gehalten habe. Zwar hatte ich gute Gründe dafür, aber ich bin mir nicht sicher, ob Tomas sie auch verstehen würde. Das Letzte, was wir jetzt gebrauchen können, sind verletzte Gefühle oder gegenseitige Beschuldigungen. Ich werde einen anderen Zeitpunkt abpassen müssen, um ihm davon zu erzählen.

Anstatt ihn also in meine Geheimnisse einzuweihen, frage ich: »Wie können wir gegen eine Droge ankämpfen, die wir nicht kennen und deren Wirkungsweise wir nicht verstehen?«

»Ich weiß nicht, ob das überhaupt möglich ist. Ich schätze, wir werden abwarten müssen, bis wir wieder im Prüfungszentrum sind, um dann herauszufinden, wie das Komitee es anstellen will. Vielleicht verrät uns irgendein Offizieller etwas, sobald wir die richtigen Fragen stellen. Wenn sie die Droge ins Wasser mischen, dann werden wir einfach so tun müssen, als ob wir davon getrunken haben. Und dann spielen wir ihnen vor, dass wir uns an nichts mehr erinnern können, was seit Beginn der Auslese passiert ist.« Er kommt einen Schritt näher und streichelt meine Wange. »Ich habe hier draußen Dinge gesehen und getan, die ich nicht mein Leben lang mit mir herumtragen will. Aber ich kann mir nicht vorstellen, wie es wäre, wenn ich mich nicht mehr an unseren ersten Kuss erinnern könnte.«

Er presst seine Lippen mit einer Leidenschaft auf meine, die mir den Atem raubt. Vielleicht ist es auch nur das Fieber, das mich schaudern lässt, als er meine Wange, meinen Nacken und meine Lippen liebkost, aber das glaube ich kaum. Ich schlinge ihm meine Arme um den Hals und erwidere seine Küsse, und meine Berührungen sind heiß, drängend und hungrig. Eine tiefe Sehnsucht erfüllt mich, als ich versuche, ihm noch näher zu kommen, auch wenn wir schon so eng wie nur möglich aneinandergeschmiegt sind. Doch das reicht mir nicht. Als Tomas sich von mir löst, sind wir beide außer Atem und wollen mehr.

Aber das muss warten. Wir haben uns schon lange genug von unseren Mikrofonen entfernt. Die Prüfer werden misstrauisch werden, wenn für sie das Schweigen noch länger andauert. Tomas drückt mir einen letzten, unglaublich zärtlichen Kuss auf den Mund, dann nimmt er meine Hand, und wir gehen zurück zu unserem Lagerplatz.

Als wir ankommen, tue ich so, als sei ich gerade erst aufgewacht, und erkundige mich nach dem, was geschehen ist, während ich schlief. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht höre ich mir an, wie Tomas ein Märchen über ein Eichhörnchen spinnt, das er zu fangen versucht hat. Ich weiß nicht, ob auch diejenigen, die uns belauschen, diese Geschichte amüsant finden, aber ich habe meinen Spaß dabei.

Wir essen etwas zu Mittag, besteigen unsere Fahrräder und hoffen, noch weitere dreißig Meilen bewältigen zu können, bevor es dunkel wird. Allerdings bin ich mir nicht sicher, dass ich so lange durchhalten werde. Die Wirkung der Tabletten lässt nach, und der sengende Schmerz kehrt in meinen Arm zurück. Falls das Schmerzmittel allerdings doch noch wirkt, muss mein Arm viel schlimmer geworden sein, als ich erwartet hätte. Nach zehn Meilen merke ich, wie mein Körper nicht mehr mitmacht. Tomas versucht, mich zu ermutigen, doch weiter in die Pedale zu treten, und ich gebe mein Bestes. Aber ich werde einfach nicht schneller. Ich schaffe es mühsam, nicht das Gleichgewicht zu verlieren und überhaupt vorwärtszukommen.

Weitere zehn Meilen später ist es Tomas, der anhält und mich auf eine Silhouette hinweist, die er am nördlichen Grenzzaun entdeckt hat. Ich blinzele gegen das Sonnenlicht an und versuche, Einzelheiten zu erkennen, um so herauszufinden, wer das sein könnte. Auf jeden Fall ein anderer Kandidat der Auslese, dem Gang nach zu urteilen ein männlicher Prüfling. Dann deutet Tomas hinter sich. Weit in der Ferne schleppt sich ebenfalls eine Gestalt die Straße entlang. Freund oder Feind? Wir radeln einfach immer weiter und hoffen, dass wir auf diese Frage keine Antwort finden müssen.

Zwei Meilen darauf kann ich nicht mehr. Mein Kopf dreht sich, und meine Kehle ist staubtrocken. Die Wunden in meinem Arm schmerzen so heftig, dass ich mich kaum mehr auf etwas anderes konzentrieren kann. Ich sage Tomas, dass wir haltmachen müssen.

Als ich den Verband abwickle, mache ich mich auf das Schlimmste gefasst, und genau das bekomme ich auch zu sehen. Die Haut um die Wunden ist dick angeschwollen und fühlt sich heiß an. Als ich noch ein Kind war, bin ich einmal hingefallen und habe mir dabei einen tiefen Riss im Bein zugezogen. Dr. Flint war gerade nicht in der Kolonie, weshalb meine Mutter die Wunde versorgt und mich ins Bett gesteckt hat. Etliche Tage später befand sich mein Bein in ziemlich ähnlichem Zustand wie mein Arm im Augenblick. Zum Glück war Dr. Flint inzwischen zurückgekehrt und wusste, was zu tun war. Er verabreichte mir eine kleine Dosis von irgendeinem Schmerzmittel, öffnete die Verschorfung und drückte den gelben und weißen Eiter aus der Wunde. Mit heraus kam auch ein kleines Stückchen kontaminierten Metalls, das die Ursache für all die Probleme gewesen war.

Ich bin mir sicher, dass der Schorf auf meinem Arm das Gift, das für die Infektion verantwortlich ist, in der Wunde einschließt. Aber hier gibt es keinen Dr. Flint. Nur Tomas, mich und meinen Überlebenswillen.

Tomas entzündet ein Feuer. Er erhitzt Wasser und kocht darin Streifen des Handtuchs aus, das ich aus dem Prüfungszentrum mitgenommen habe. Wir wollen sie als Verbände verwenden, da ich alle Wundauflagen aus meinem Erste-Hilfe-Set bereits aufgebraucht habe. In der Zwischenzeit setze ich mich hin, schlucke weitere Schmerztabletten und bitte Tomas, mir die Lederscheide seines Messers zu geben. Er wirft mir einen fragenden Blick zu, zieht jedoch das Messer heraus, bindet die Hülle vom Gürtel und reicht sie mir. Ehe ich es mir noch einmal anders überlegen kann, beiße ich auf den dicken Lederstreifen, umklammere meinen linken Arm und drücke zu.

Wenn ich nicht schon sitzen würde, dann wäre ich bei diesem Schmerz auf die Knie gesunken. Stattdessen wird mir übel, meine Augen tränen, und meine Lungen ringen keuchend nach Luft, während sich meine eigenen Finger in mein Fleisch graben. Stück für Stück platzt der Schorf auf, und gelber und grüner Eiter und milchig verfärbtes Blut strömen heraus. Ich würge beim Gestank nach Fleisch, das zu lange in der Sonne gelegen hat, und als ich begreife, dass der widerwärtige Geruch aus meinem Arm aufsteigt, beginne ich zu weinen. Aber ich höre nicht auf zu pressen. Der Eiter läuft mir den Arm hinunter. Tomas nimmt den Verband, den ich zuvor entfernt habe, taucht ihn ins Wasser und beginnt, das infizierte Wundwasser, das herausquillt, abzutupfen. Aber wie sehr er sich auch beeilt, der Strom versiegt einfach nicht.

Die Welt um mich herum verschwimmt. Ich winde mich vor Schmerzen. Aber ich verringere nicht den Druck. Meine Finger rutschen weiter bis zur Mitte der Wunden hinunter und verkrallen sich dort. Dann noch ein bisschen tiefer.

Tomas spricht mit mir, aber seine Stimme klingt meilenweit entfernt. Ich kann ihn nicht verstehen. Die Zeit verliert jegliche Bedeutung, als ich die faulig gelbe Entzündung Tropfen für Tropfen aus meinem Körper zwinge. Ich höre erst auf, als rotes Blut aus der Wunde kommt. Kein Gelb mehr. Kein Grün oder Weiß. Keine Infektion mehr – fürs Erste.

Ich löse meine Finger aus ihrer schraubstockartigen Umklammerung und lasse Tomas die brennenden, klaffenden Risse mit heißem Wasser ausspülen. Er braucht den letzten Rest unserer Salbe auf und umwickelt die Wunden mit sterilen, nassen Tüchern. Dann nimmt er mich in die Arme und wiegt mich sanft hin und her, während er mir ins Ohr flüstert, dass alles gut werden wird. Dass ich schlafen solle. Er werde aufpassen, dass mir nichts geschieht.

In meinen Träumen reihen sich entsetzliche Szenen an glückliche Momente. Ryme und Malachi helfen mir, das augenlose Mädchen zu begraben. Zeen verzeiht mir, dass ich ihm ungefragt den Transit-Kommunikator weggenommen habe, und erinnert mich daran, dass ich mich damit zu Hause melde, sobald sich mir die Chance dazu bietet. Roman grinst, als er durch eine Tür tritt und mich einer Gruppe von mutierten Menschen ausliefert, die mich von oben bis unten mit ihren schrecklichen Krallen zerkratzen und dann vor meinen Augen explodieren. Die Arme meines Vaters schaukeln mich stundenlang, so wie er es tat, als ich noch klein war. Irgendwann hält er mitten in der Bewegung inne, legt seinen Kopf schräg und sagt mir, ich solle aufwachen. Jemand sei dort.

Abrupt schlage ich die Lider auf.

Ich kann Tomas in der Dunkelheit neben mir atmen hören. Er macht gleichmäßige, langsame Züge, was für einen tiefen, erholsamen Schlaf spricht. Vorsichtig auf meinen Arm bedacht, richte ich mich langsam auf, bis ich sitze, und beuge und strecke die Finger der in Mitleidenschaft gezogenen Hand. Sie bewegen sich leichter als gestern. Auch der Rest des Armes und die Schulter fühlen sich nicht mehr so geschwollen an. Entweder haben endlich die Schmerzmittel ihre Wirkung voll entfaltet, oder das schlimmste Brennen ist überstanden. Ich blinzle die Tränen der Erleichterung weg. Aus den Augenwinkeln kann ich sehen, dass sich irgendetwas im Schatten bewegt. Mit angehaltenem Atem warte ich ab, ob sich noch einmal etwas regt. Im schwächer werdenden Mondlicht erhasche ich einen kurzen Blick auf eine große menschliche Silhouette in einiger Entfernung. Ist das einer der mutierten Bewohner dieser Gegend oder ein anderer Prüfling? Aus der Art und Weise, wie sich der Schatten bewegt, schließe ich, dass es ein Kandidat sein muss.

Unser Lagerfeuer ist heruntergebrannt, und wir kampieren in einer Mulde, abgeschirmt von einigen Büschen, was es vermutlich schwerer macht, uns zu entdecken. Aber es dauert nicht mehr lange, bis der Tag anbricht, und der Bursche sieht nicht so aus, als ob er es eilig hätte. In ungefähr fünfzig Metern Entfernung sucht er sich langsam seinen Weg, und er ist unmittelbar in unsere Richtung unterwegs.

Langsam strecke ich meinen Arm aus und taste nach meiner Tasche. Als ich merke, dass sie nicht in Reichweite ist, gerate ich in Panik. Tomas muss sie woanders hingelegt haben, nachdem ich eingeschlafen bin. Nicht nur sie ist nicht mehr greifbar, sondern auch meine Pistole nicht.

Angestrengt starre ich in die Dunkelheit und versuche, sie irgendwo zu erkennen, aber ihre dunkle Tarnfarbe verbirgt sie gut. Ohne zu wissen, was der Näherkommende im Schilde führt, traue ich mich nicht aufzustehen. Ich sinke wieder zurück auf den Boden, stoße Tomas an und flüstere ihm ins Ohr: »Da hinten irrt ein anderer Kandidat herum.« Sofort ist er hellwach und reißt erschrocken die Augen auf. Dann nickt er, um mich wissen zu lassen, dass er mich verstanden hat. Gemeinsam halten wir den Atem an und warten.

Das Knacken von Zweigen und Rascheln von Blättern verrät uns, dass unser Mitbewerber näher kommt. Die ersten grauen Schimmer der Morgendämmerung verjagen die Schwärze der Nacht, während ich unter den Büschen hindurchspähe. Es ist niemand zu sehen.

Tomas hebt eine Augenbraue und schüttelt den Kopf. Auch er kann niemanden entdecken. Der andere Kandidat muss bereits an uns vorbeigelaufen sein und seinen Weg nach Tosu-Stadt fortsetzen.

»Ich denke, wir sind in Sicherheit«, flüstert Tomas. Ein Zweig zerbricht unter ihm, als er sich aufrichtet.

Ich höre das Sausen des Messers, das durch die Luft geschleudert wird, bevor ich das Metall im Dämmerlicht blitzen sehe. Dieser Extramoment rettet mir das Leben, denn ich kann mich zur Seite werfen und zuschauen, wie die Klinge in den Büschen hinter mir verschwindet. Unser Angreifer stößt einen wütenden Schrei aus. Ich rappele mich auf und sehe mich hektisch nach meinen Sachen um. Tomas zückt sein Buschmesser und stürmt los, als ich endlich meine Tasche neben meinem Fahrrad – über zehn Meter weit weg! – entdecke. Das Geräusch von Metall auf Metall verrät mir, dass der andere Kandidat noch eine weitere Waffe besitzt und nun in einen Nahkampf mit Tomas verstrickt ist.

Dann höre ich Tomas aufschreien und sehe, wie sich eine lange, breite Klinge in seine Seite bohrt. In diesem Augenblick kann ich auch erkennen, um wen es sich bei seinem Kontrahenten handelt. Sein Gesicht ist schmaler geworden, und seine Wangen sind eingefallener, aber den boshaften Zug um den Mund würde ich überall wiedererkennen. Roman. Er zieht sein Messer aus Tomas’ Körper und holt aus, um erneut auf seinen Gegner einzustechen.

Meine Finger zerren hektisch am Verschluss meiner Tasche, während Klinge auf Klinge klirrt. Fieberhaft krame ich zwischen meinen Sachen herum, als ich wieder einen Schrei höre. Dieses Mal ist es Roman, der blutet, aber weder umklammert er seinen verletzten Arm, noch macht er Anstalten zu fliehen. Mit einem wütenden Knurren senkt er den Kopf, rammt Tomas damit und wirft ihn so zu Boden. Ein hysterisches Kreischen löst sich aus meiner Kehle, als sein Messer nur um Millimeter Tomas’ Hals verfehlt. Einen Moment lang bin ich wie paralysiert und sehe zu, wie die beiden darum ringen, die Oberhand zu gewinnen. Roman siegt. Er drückt Tomas zu Boden und hebt sein Messer, gerade als ich meine Pistole aus der Tasche ziehe und ziele.

Ein Schuss ertönt, und Blut quillt aus Romans rechter Schläfe. Sein Mund ist jetzt nicht mehr höhnisch verzogen. Stattdessen liegt ein überraschter Ausdruck auf seinem Gesicht und dann schließlich Leere, als ihm das Messer aus der Hand rutscht und er nach vorn umkippt. Er ist tot.

Tomas presst eine Hand auf seine Taille, kriecht unter dem toten Rivalen hervor und stöhnt erleichtert auf.

Doch wir sind keineswegs in Sicherheit. Tomas weiß nicht, was ich weiß. Ich bin nicht rechtzeitig genug bereit gewesen. Nicht ich habe den tödlichen Schuss abgegeben.