Kapitel 15
Beim Anblick der Gebäude wird mir ganz flau im Magen. In den Straßen zwischen den Häusern kann alles auf uns warten – wilde Tiere, andere Kandidaten und noch Schlimmeres. Von hier aus hat es den Anschein, als erstrecke sich die Stadt noch meilenweit. Aber auch wenn nicht hinter jeder Ecke Gefahr lauern könnte, würde ich keinerlei Verlangen verspüren, mich dort hineinzuwagen. Tomas und ich haben den ganzen Tag über nach Pflanzen gesucht und das Wasser, das wir unterwegs aus Teichen und Bächen geschöpft haben, mit Chemikalien behandelt. Ich bezweifle, dass wir dazu noch die Gelegenheit haben werden, wenn wir uns erst mal in einer Welt befinden, die nur noch aus eingestürzten Steinmauern und verrotteten Stahlträgern besteht.
Die Stadt ragt in einiger Entfernung drohend vor uns auf, als wir uns zum Abendessen hinsetzen und ich zu Tomas sage: »Bestimmt ist die Stadt der perfekte Ort für das Prüfungskomitee, um möglicherweise zusätzliche Tests für uns einzubauen. Vermutlich werden die meisten Kandidaten nicht auf die Idee kommen, sich einen Weg um die Stadt herum zu suchen, sondern werden einfach mitten hindurchmarschieren, weil es die viel kürzere Route zu sein scheint.« Ich denke an meinen Vater und seine Albträume aufgrund der Auslese. Seine Freunde sind in einer Stadt ums Leben gekommen – einer Stadt, die wie jene aussah, die nun vor uns liegt.
Tomas sieht mir in die Augen und nickt. Er versteht, was ich denke und auf keinen Fall aussprechen kann, solange wir belauscht werden. »Oder die Prüfer haben die Straßen vermint, die rings um die Stadt herumführen, um dafür zu sorgen, dass die Kandidaten auf jeden Fall den direkten Weg nehmen. Vielleicht wollen sie ja testen, wie die Prüflinge reagieren, wenn sie auf andere Leute stoßen. Sieh mal.« Er deutet nach Süden, und ich spähe mit zusammengekniffenen Augen in die untergehende Sonne. »Der südliche Grenzzaun läuft direkt am Stadtrand entlang. Die Nordlinie kann ich zwar nicht sehen, aber ich wette, sie ist näher, als wir glauben.«
Wir schlafen ein mit den Waffen fest in unseren Händen. Im Morgengrauen stehen wir auf und bereiten uns darauf vor weiterzumarschieren. Nach einer Durchsicht unserer Vorräte beschließen wir, nach Wasser Ausschau zu halten, während wir uns immer weiter der Stadt nähern. Als wir noch vielleicht hundert Meter von den ersten Häusern entfernt sind, entdecken wir einen kleinen trüben Teich, auf dem eine schwarze, ölige Flüssigkeit schwimmt. Gleich drei verschiedene Reinigungssubstanzen brauchen wir, um das Wasser zu behandeln, und trotzdem habe ich Bedenken, was die Trinkbarkeit angeht. Ich verstaue die frisch aufgefüllten Flaschen zwar in meiner Tasche, hoffe jedoch inständig, dass wir noch eine andere Quelle ausfindig machen, ehe wir gezwungen sein werden, an diesen Vorrat zu gehen. Falls nicht, nun, dann müssen wir eben auf unser Glück hoffen. Natürlich will ich unseren Körpern keinen Schaden zufügen, aber die Aussicht zu verdursten gefällt mir noch viel weniger.
Tomas will unbedingt wieder aufs Fahrrad steigen, aber ich sehe, wie er mit zusammengebissenen Zähnen und schmerzverzerrtem Gesicht stöhnt, als er sich auf den Sattel setzt. Angesichts seines offenkundigen Leidens denke ich nochmals über die Alternative nach, die Stadt zu umfahren. Wenn sich Tomas’ Verletzung nicht bessert, dann werden wir ein geeigneteres Transportmittel benötigen. Eine Stadt mit all ihren verlassenen Geschäften und Gebäuden könnte der beste Platz sein, ein anderes Fahrzeug aufzutreiben.
Die Straße, auf der wir unterwegs sind, gabelt sich. Die Abzweigung nach rechts führt am Rand der Stadt entlang und ist in schlechtem Zustand. Ich bezweifle, dass unsere Fahrräder länger als ein paar Minuten durchhielten, wenn wir versuchen würden, über den löchrigen Asphalt zu radeln. Die andere Strecke Richtung Stadtzentrum ist völlig eben. Der deutliche Fingerzeig der Prüfer liegt mir schwer im Magen, aber uns bleibt keine große Wahl. Wir werden der gut ausgebauten Straße folgen und zusehen müssen, dass wir so schnell wie möglich ans entgegengesetzte Ende der Stadt gelangen.
Die Straße wird schmaler, und wir erreichen die ersten, noch vereinzelt stehenden Gebäude. Die meisten von ihnen sind nur ein oder zwei Stockwerke hoch. Keines davon ist repariert worden. Wenn man die zahllosen Löcher in den Dächern und Mauern sieht, wundert man sich, dass nicht alles längst völlig in sich zusammengefallen ist. Wir halten uns bewusst in der Mitte der Straße für den Fall, die Prüfer haben die baufälligen Häuser so präpariert, dass sie genau in dem Moment einstürzen, in dem wir an ihnen vorbeikommen. Was für eine abenteueliche Auslese aber auch!
Die Gebäude werden jetzt höher und stehen näher beieinander, und nun sehen wir auch die ersten Ruinen. Jedes Mal blockieren die Trümmer ausgerechnet eine Straße, die von jener abzweigt, auf der wir gerade fahren. Zuerst denke ich noch, dass ich mir das nur einbilde, doch als wir das fünfte Mal an einer Schuttruine unmittelbar an einer Straßengabelung vorbeikommen, weiß ich, dass meine Beobachtung stimmt. Die Prüfer zwingen uns unmittelbar in die Stadt hinein, geradewegs auf das zu, was sie sich für uns ausgedacht haben.
Ich rufe Tomas und halte mitten auf der Straße an. Er bremst ebenfalls, stellt die Füße auf den Boden und fragt: »Was ist denn los?«
Ich erzähle ihm, dass mir die eingestürzten Gebäude merkwürdig vorkommen und dass ich mir Sorgen darüber mache, was vor uns liegen könnte.
»Willst du, dass wir umkehren und doch einen Bogen um die Stadt machen?«
Tomas’ angestrengter Gesichtsausdruck verrät mir, dass er nicht sonderlich erpicht darauf ist. Und um ehrlich zu sein, weiß ich selbst nicht genau, ob ich das eigentlich will. Einen Umweg zu machen kann sich nämlich ebenfalls als höchst gefährlich erweisen. Außerdem haben wir den ganzen Morgen gebraucht, um bis hierher zu kommen. Würden wir jetzt umdrehen und zu unserem heutigen Ausgangspunkt zurückkehren, hätten wir einen ganzen Tag verschenkt.
»Nein. Eigentlich will ich nicht zurück. Aber wir müssen uns vorsehen.«
Er gibt mir einen schnellen Kuss, grinst und sagt: »Ich verspreche dir, keine Steine in irgendwelche Teiche zu werfen, ehe ich es nicht mit dir abgesprochen habe, in Ordnung?«
Bei seinem Lächeln wird mir ganz warm ums Herz, und obwohl meine Sorgen nicht verschwinden, lächele ich unwillkürlich zurück. »Ich verlasse mich darauf.«
Wir schlagen jetzt ein langsameres Tempo an und suchen die Gebäude und den Asphalt vor uns auf Anzeichen von Gefahr ab. Bisweilen ragen die Häuser am Straßenrand zehn oder zwölf Stockwerke hoch. Was ließe sich nicht alles darin verstecken! Kameras, Fallen, alles Mögliche. Ungefähr vier Meilen später erreichen wir eine Kreuzung. Dieses Mal werden wir nicht von Schutt-und Metallbergen aufgehalten. Stattdessen eröffnen sich uns drei mögliche Wege: Einer führt uns weiter geradeaus, die beiden anderen zweigen rechts und links ab.
»Was meinst du?« Tomas bleibt im Sattel sitzen, stellt aber die Füße auf den Asphalt.
»Ich denke, jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, mit dem Steinewerfen anzufangen.«
Tomas lacht erst, steigt dann jedoch von seinem Rad, nimmt einen größeren Brocken und wirft ihn auf die mittlere Straße. Dort schlägt er auf und hüpft noch drei Meter weiter über das Pflaster. Das Gleiche macht Tomas bei den anderen beiden Straßen. Die Steine landen und rutschen weiter, ohne dass etwas passiert.
»Und was nun?«
Ich weiß es auch nicht. Wir schauen nacheinander alle drei Straßen hinunter und versuchen, uns vorzustellen, was uns in der jeweiligen Richtung erwarten könnte. Der linke Abzweig und die Straße, die geradeaus führt, sind von Gebäuden gesäumt, die von der Bauweise her denen ähneln, die wir schon passiert haben. Rechts von uns, ein ganzes Stück die Straße hinunter, befindet sich ein Bauwerk, das unsere Aufmerksamkeit erregt. Der graue Block ist lang gestreckt. Die Mitte des Gebäudes ist mehrere Etagen höher als der Rest und wird von einer großen Kuppel überdacht. Da wir nicht wissen, wie wir uns sonst entscheiden sollen, lassen wir uns von unserer Neugier leiten und biegen nach rechts ein, um es uns näher anzusehen.
Kurz darauf endet die Straße.
Das Kuppelgebäude muss früher mal grandios ausgesehen haben, bröckelt nun jedoch an allen Ecken und Enden. Zusammen mit den eingestürzten Häusern rechts und links davon blockiert es unseren Weg. Gehört es vielleicht zum Test herauszufinden, wie man an diesen Hindernissen vorbeikommt? Während ich noch darüber nachdenke, welche Konsequenzen das für uns hätte, hebt Tomas einen Stein auf und schleudert ihn auf die Stufen einer zerfallenen Treppe.
Nichts passiert.
Wir beide lächeln uns an, doch bevor Tomas losläuft, bitte ich ihn: »Versuch’s noch mal, nur um ganz sicherzugehen.«
Tomas hebt einen weiteren Stein auf und wirft ihn in den Schutthaufen zu unserer Linken. Einen Moment lang ist alles still, dann erfüllt ein schwaches tickendes Geräusch die Luft. Kurz darauf gibt es eine Explosion an der Stelle, an der der Stein gelandet war. Wir können uns also keinen Weg um die Ruine herum oder quer darüber suchen. Die Straße zu verlassen ist sozusagen wie eine falsche Antwort. Eine Entscheidung, die bestraft wird.
Wortlos kehren wir zur Abzweigung zurück und versuchen unser Glück mit der Straße, die geradeaus weiterführt. Wieder eine Sackgasse. Wir machen uns gar nicht erst die Mühe, hier noch nach Sprengfallen zu suchen. Wir wissen, dass welche da sind.
Die linke Straße führt uns an verschiedenen Gebäuden vorbei, die früher mal Geschäfte beherbergt haben. Ein verblasstes, aber teilweise noch lesbares Schild macht Werbung für Eisenwaren. Es reizt mich, anzuhalten und mich umzusehen, ob es in dem Laden noch irgendetwas Brauchbares gibt, aber ich entscheide mich dagegen. Die Straße, die mir zuerst solche Angst gemacht hat, gibt mir nun eine gewisse Sicherheit. Sie führt im Zickzack um die eingestürzten grauen Gebäude herum und endet schließlich an einer weiteren Gabelung. Und auch diesmal bleiben uns drei Möglichkeiten. Wir entscheiden uns für den Mittelweg und kommen, wie schon zuvor, wieder an baufälligen Häusern vorbei, bis wir feststellen, dass wir erneut in eine Sackgasse geraten sind. Vor uns liegen Trümmer, die von einer erst kürzlich erfolgten Explosion stammen könnten. Also kehren wir wieder um.
Und mit einem Mal begreife ich, woran mich diese Stadt erinnert.
An einen Irrgarten. Wir stecken in einem Irrgarten fest.
Als ich noch kleiner war, hat mein Vater häufig für mich und meine Brüder komplizierte Labyrinthe aufgemalt und uns einen Weg hindurch suchen lassen. Es war immer ein Wettkampf zwischen uns Geschwistern. Wir alle hatten eine Zeichnung des gleichen Irrgartens, und Dad wartete, bis wir alle startklar waren, erst dann ließ er uns anfangen. Sobald die Spitze unseres Bleistiftes das Papier berührt hatte, durften wir sie nicht wieder hochheben. Wenn wir in eine Sackgasse eingebogen waren, waren wir aus dem Rennen. Auf diese Weise wollte Dad uns beibringen, die Dinge im Vorfeld zu durchdenken und sorgfältig zu planen, anstatt eine schnelle Entscheidung zu treffen, bei der wir nicht wussten, wohin sie uns führen würde.
Vielleicht schlummerte irgendwo tief in seinem Gedächtnis noch die bruchstückhafte Erinnerung an diesen Teil der Auslese. Vielleicht wollte er uns aber mit diesem Zeitvertreib auch nur die kalten, verschneiten Nächte verkürzen. Was auch immer seine Gründe gewesen sein mögen – jetzt muss ich mir die Lektion, die ich dabei gelernt habe, zunutze machen und vorausschauend handeln. Der Tag ist schon weit fortgeschritten. Wenn wir nicht aufpassen, dann könnten wir länger in diesem Labyrinth herumirren, als es unsere Essens-und Wasservorräte erlauben.
Ich sage Tomas, dass ich gerne eine Rast einlegen und früh zu Abend essen würde. Er ist verschwitzt und so entmutigt, dass er einverstanden ist. Also setzen wir uns mitten auf die Straße und kramen das Hühnerfleisch hervor. Bei dieser Hitze würde es als Erstes verderben. Während wir essen, bitte ich Tomas, mir seinen Atlas zu geben. Gemeinsam brüten wir über einzelnen Seiten. Den Karten nach zu urteilen befindet sich die Straße, die wir finden wollen, um die Stadt wieder zu verlassen, auf der südwestlichen Seite. Das bedeutet, dass wir solche Wege einschlagen sollten, die uns in die richtige Richtung und am Ende auf die gesuchte Straße führen könnten. Je weiter geradeaus oder nach Süden uns ein Weg führt, desto besser.
Tja, das sind nun wirklich keine großen Neuigkeiten, aber immerhin mehr Informationen, als wir vor unserer Mahlzeit hatten. Wir steigen wieder auf unsere Fahrräder und radeln los. Die nächste Gabelung. Wir entscheiden uns für die linke Abzweigung. Gebäude, die sich kaum voneinander unterscheiden lassen, säumen die Fahrbahn. Eine Sackgasse. Also wieder zurück und dann geradeaus. Unsere Hemden sind schweißgetränkt, während wir weiter nach den richtigen Straßen suchen. Selbst als wir den Kompass zu Hilfe nehmen, verliere ich bei den Biegungen und Abzweigungen jeglichen Orientierungssinn. Schließlich bricht die Nacht herein, und uns bleibt nichts anderes übrig, als unser Lager aufzuschlagen. Ohne Licht weiterzulaufen würde das Risiko bedeuten, von der Straße abzukommen und eine Explosion auszulösen. Nach einigem Suchen beschließen wir, uns kurz vor dem Ende einer Sackgasse mitten auf der Fahrbahn hinzulegen. Immerhin begrenzen die drei mit Sprengfallen versehenen Seiten die Richtungen, aus denen uns neue Gefahren drohen könnten.
Wir essen den Rest Hühnchen und heben uns die Pflanzen und die letzte Tüte mit Dörrobst für den nächsten Morgen auf. Uns sollte lieber schnell etwas einfallen, wie wir diesen Irrgarten verlassen können, ehe wir vom Hunger überwältigt werden. Trotz der Hitze des Tages haben wir bislang versucht, unsere Wasservorräte nicht anzutasten, aber jetzt sind unsere Lippen von der brennenden Sonne und der fehlenden Flüssigkeit aufgesprungen. Uns bleibt keine andere Wahl, als die Flaschen aufzumachen, deren Inhalt vielleicht noch immer kontaminiert ist. Der Geschmack ist zwar etwas eigenartig, aber weder Tomas noch ich bemerken ein metallisches oder bitteres Aroma, das den sicheren Tod bedeuten könnte.
Als ich die Verbände um Tomas’ Verletzung wechsele und eine neue Schicht Salbe auftrage, sehe ich, dass die ehemals brennend rote Wunde jetzt schon besser aussieht – ein echter Lichtblick.
»Das liegt daran, dass ich die allerbeste Pflege habe«, sagt er und gibt mir einen Kuss. Der Heilungsfortschritt der Wunde und die Wärme von Tomas’ Lippen trösten mich und helfen mir dabei, schnell einzuschlafen.
Mit Tagesanbruch kehrt auch unsere niedergeschlagene Stimmung zurück. Oft denken wir, wir hätten nun endlich den richtigen Weg gefunden, nur um einige Abbiegungen später festzustellen, dass wir wieder umkehren müssen. Weitaus beängstigender sind allerdings die Stimmen, die sich zunehmend irgendwo in der Ferne vernehmen lassen. Manchmal klingt es auch so, als kämen sie von unmittelbar hinter einem Hindernis oder Gebäude. Es lässt sich unmöglich genau bestimmen. Eines ist jedoch gewiss: Wir sind nicht allein in diesem Labyrinth. Andere suchen in diesem Gewirr von Straßen ebenfalls nach einem Ausweg, der sich jedoch einfach nicht finden lassen will.
Eine Explosion erschüttert die Gebäude neben uns. Ein Schrei zerreißt die Luft. Dann noch einer. Und schließlich: Stille. Wir radeln schneller. Nur weg von der Detonation, immer weiter die Straße hinunter. Eine Sackgasse. Wieder zurück. Nächster Versuch.
Zunächst bemühen wir uns noch, die Sache mit Humor zu nehmen, wenn wir vor der anscheinend unvermeidlichen nächsten Barriere stehen, die uns zum Umkehren zwingt. Aber nach stundenlangem Suchen wollen uns die lustig gemeinten Bemerkungen nicht mehr so recht über die Lippen kommen. Unser Lachen wird gezwungener, bis es uns schließlich ganz vergeht. Meine Kopfhaut juckt vom Schmutz und vom Schweiß, und mein ganzer Körper tut mir weh von der ständigen Anstrengung, die uns doch nirgends hinzuführen scheint. Wir essen den allerletzten Rest des getrockneten Obstes. Tomas entdeckt ganz unten in seiner Tasche ein steinhartes Brötchen, das wir uns teilen, um damit den nagenden Hunger zu stillen. Die einzig gute Nachricht ist, dass wir keinerlei Auswirkungen des verdächtigen Wassers verspüren. Doch selbst die kurze Erleichterung darüber wird getrübt, als wir der Tatsache ins Auge sehen, dass der Vorrat nicht mehr lange reichen wird. Keine einzige Wolke ist am Himmel zu entdecken, die uns Hoffnung auf Regen machen könnte.
Meine müden Beinmuskeln protestieren, als wir einen Weg mit einer Steigung einschlagen. Ich muss mich zwingen, weiter in die Pedale zu treten. Langsam bekommen wir einen besseren Überblick über die Stadt, obwohl wir uns gar nicht so hoch befinden. Aber hier und dort, wo die Gebäude im Laufe der Zeit in sich zusammengefallen sind, können wir mehr sehen als nur die unmittelbar hinter uns liegende Strecke. Wenn ich die Augen zusammenkneife, meine ich, in der Ferne das lang gestreckte Gebäude mit dem Kuppeldach zu erkennen, an dem wir am Anfang des Labyrinths vorbeikamen. Wie weit wir davon schon weg sind!
Ich weise Tomas darauf hin, und zum ersten Mal an diesem Tag wirft er mir ein von Herzen kommendes Lächeln zu. »Nun, somit kann das Ende ja nicht mehr weit sein, oder? Dann wollen wir es mal finden.«
Die Aussicht darauf, die Stadt auf der anderen Seite wieder verlassen zu können, ist so verlockend, dass wir neue Kräfte mobilisieren. Als wir wieder mal nicht weiterkommen, meint Tomas: »Tja, eine Sackgasse weniger auf dem Weg zum Ausgang.«
Dann kehren wir um.
In diesem Augenblick hören wir es: den Klang von Stiefeln auf Asphalt. Jemand ist ganz in der Nähe von uns. Wir legen einen Zahn zu, biegen um eine Ecke, treten in die Pedale.
Eine Sackgasse.
Die Laufschritte kommen näher. Ich werfe Tomas einen Blick zu. Angst und wilde Entschlossenheit liegen in seinen Augen, als er mir zunickt. Wir steigen von unseren Fahrrädern ab, legen sie auf den Boden und holen unsere Waffen heraus. Jetzt kann man hören, dass es Ledersohlen sind, die aufs Pflaster trommeln, und zwar unmittelbar hinter der Straßenbiegung. Ich hebe meine Pistole, halte den Atem an und versuche, nicht zu zittern.
Als Erstes sehe ich den Schatten: die Silhouette einer Person. Auch die Umrisse einer Waffe in deren Hand sind deutlich zu erkennen. Meine Armmuskeln sind angespannt. Mein Finger spannt sich über dem Abzug, während der Schatten immer größer wird. Ich kenne die Reichweite meiner Pistole. Derjenige, der da angerannt kommt, könnte im gleichen Augenblick abdrücken, in dem er uns sieht, was bedeutet, dass ich ihm zuvorkommen muss. Ohne mir im Klaren zu sein, wer da kommt. Ohne zu wissen, ob er oder sie uns überhaupt etwas Böses will.
Ich will mich zwingen abzudrücken, als der Schatten noch größer wird und schließlich eine Gestalt um die Ecke biegt. Ich will schießen, aber ich kann es nicht tun. Ich kann niemandem das Leben nehmen. Dass die Person männlich ist, registriere ich kaum. Ich kann nur daran denken, dass es meine Schuld sein wird, wenn Tomas und ich jetzt sterben.
Doch statt eines Pistolenschusses höre ich: »Cia! Tomas? Seid ihr das wirklich?« Ehe ich noch begriffen habe, dass unser Leben doch nicht zu Ende ist, werde ich von zwei völlig verdreckten Armen in die Luft gehoben. Will wirbelt mich lachend herum. Sein freudiges Lachen ist ansteckend, und ich klammere mich an ihm fest. Bei seinem Geruch rümpfe ich unwillkürlich die Nase: Er stinkt nach einer Mischung aus Schmutz, Schweiß, Blut und was sich noch alles an ihm festgesetzt hat, seitdem die Prüfung begonnen hat. Aber das ist mir egal. Auch ich dürfte zurzeit nicht gerade nach Rosen duften, und während ich ihn so in meinen Armen halte, steigt plötzlich die Hoffnung in mir auf, dass auch Zandri und Nicolette noch am Leben sein könnten.
»Das ist ja fantastisch, dass ausgerechnet ihr beide euch hier draußen gefunden habt. Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals auf dich oder Tomas treffen würde.«
Mit hochgezogenen Augenbrauen wartet Will darauf, dass ich ihm die Geschichte erzähle, wie Tomas und ich einander zufällig über den Weg gelaufen sind. Also trete ich einen Schritt zurück und berichte: »Ich hatte einige Schwierigkeiten, die Stadt, in der wir ausgesetzt wurden, zu verlassen. Tomas ist in letzter Minute aufgetaucht und hat mich davor bewahrt, in den Fluss dort zu fallen oder noch Schlimmeres.« Es ist besser, ihm nicht zu sagen, dass Tomas und ich einen Treffpunkt vereinbart hatten. Das würde ihn nur mit der Nase darauf stoßen, dass wir unsere anderen Freunde nicht in unseren Plan eingeweiht hatten, und es ist schon so schwer genug, in dieser Umgebung überhaupt noch jemandem zu vertrauen. Nun, da ich den anfänglichen Schock überwunden habe, bemerke ich einen Verband an Wills Schulter, der vom getrockneten Blut ganz hart geworden zu sein scheint. »Was ist denn dir da passiert? Ist alles in Ordnung?«, frage ich.
Will wirft mir ein verschmitztes Lächeln zu. »Mit geht’s gut. Ich hatte nur ein kleines Missverständnis mit einem Ast. Keine große Sache.«
»Eine Infektion ist sehr wohl eine große Sache«, sage ich und greife in meine Tasche. »Warum lässt du mich nicht mal einen Blick darauf werfen?«
Will schüttelt den Kopf. »Mir geht’s gut. Ganz im Ernst. Wir sollten unsere Zeit lieber darauf verwenden, aus diesem blöden Labyrinth rauszukommen. Hoffentlich nähern wir uns langsam dem Ende. Ich weiß ja nicht, wie das bei euch ist, aber mir gehen inzwischen die Lebensmittel und die Wasservorräte aus.«
Gerade will ich darauf bestehen, dass wir uns die Zeit nehmen, Wills Schulter vernünftig zu versorgen, als Tomas drängt: »Will hat recht. Wir müssen hier raus. Um den Rest können wir uns kümmern, wenn wir den Ausgang gefunden haben. Lasst uns aufbrechen.«
Tomas und ich heben unsere Fahrräder wieder auf und radeln langsam neben Will her, der uns neugierig fragt, wo wir die Räder herhaben. Tomas überlässt mir das Reden, und ich gebe Will eine Kurzversion davon, wie wir die Karrenräder und die Fahrradrahmen entdeckt und repariert haben. Es stellt sich heraus, dass Will seinerseits einen Scooter ohne Motor in einer Garage gefunden hatte. Eines der Räder ließ sich nicht bewegen, aber er schaffte es, die Blockade zu beseitigen und damit auf derselben Straße zu fahren, die wir ebenfalls benutzt haben und die unmittelbar in dieses Labyrinth hineingeführt hat.
»Ich bin immer wieder in Sackgassen geraten, und irgendwann war ich so frustriert, dass ich nicht mehr richtig aufgepasst habe. An einer abschüssigen Straße habe ich zu viel Tempo bekommen, habe die Kontrolle verloren und bin umgekippt. Das Nächste, was ich noch weiß, ist, dass der Scooter gegen eine Barriere am Ende der Straße geprallt ist und es eine riesige Explosion gegeben hat. Ich schätze, ich muss mich um einen anderen fahrbaren Untersatz kümmern, wenn wir hier erst mal raus sind. Vor allem wenn ich euch begleiten will.«
Während wir den Weg suchen, der uns aus der Stadt hinausbringt, erzählt uns Will von seiner bisherigen Reise, die im Vergleich zu unserer ziemlich ereignislos klingt. Nachdem er das erste Mal Wasser aus einer Quelle getrunken hatte, ist ihm zwar ein bisschen flau geworden, aber bislang hat er unterwegs immer irgendwo nützliche Dinge und Nahrungsmittel gefunden. Er zeigt mir eine Drahtspule, und ich hätte ihn dafür küssen können. Das Metall ist dünn und biegsam und dadurch perfekt geeignet für Schlingen. Falls wir überhaupt jemals wieder aus dieser Stadt hinausfinden, wird es einfacher werden, an Nahrung zu kommen. Ich freue mich so über den Draht, dass Will mir anbietet, ich solle ihn in meiner eigenen Tasche verstauen.
So verlockend ich das Angebot auch finde, schüttele ich doch den Kopf. »Du hast den Draht gefunden, dann solltest du auch jederzeit über ihn verfügen können.«
»Sieh es doch einfach als ein Dankeschön. Wenn du mich nicht davon abgehalten hättest, mich nach der zweiten Testrunde bei der Auslese medizinisch versorgen zu lassen, dann wäre ich jetzt gar nicht hier. Keiner der Kandidaten, die Hilfe in Anspruch genommen haben, ist zurückgekommen.« Dann beugt sich Will zu mir und flüstert: »Außerdem bin ich mir nicht so sicher, ob wir überhaupt weiterhin zusammen unterwegs sein werden, wenn wir die Stadt erst mal verlassen haben. Tomas scheint ziemlich fest entschlossen zu sein, dich für sich allein zu beanspruchen.«
Aus einem ersten Impuls heraus will ich das vehement abstreiten, aber es stimmt, dass Tomas recht einsilbig geworden ist, seitdem Will zu uns gestoßen ist. Wenn er überhaupt etwas sagt, dann ist sein Ton so wachsam, dass ich mich schon gefragt habe, was los ist. Im Augenblick läuft Tomas vor uns her: nahe genug, um unser Gespräch mit anzuhören, aber weit genug weg, um sich nicht beteiligen zu müssen. Vielleicht hat Will ja recht. Nicht dass Tomas mich für sich allein haben will, denn schließlich weiß er ganz genau, dass dies weder die richtige Zeit noch der richtige Ort für ein Eifersuchtsdrama ist. Im Augenblick zählt nur, die Auslese zu überleben. Aber vielleicht hat Tomas Schwierigkeiten damit, dass Will zu Fuß unterwegs ist. Wenn wir uns mit ihm zusammentun, bedeutet das, dass wir weitaus langsamer als bisher vorwärtskommen werden. Allerdings bin ich mir gar nicht sicher, wie gut Tomas angesichts seiner Verletzung überhaupt mit dem Rad fahren kann. Im Laufe des Tages ist sein Humpeln immer schlimmer geworden. Es wird Zeit, dass wir dem Labyrinth entkommen und uns einen kühlen Fluss suchen, in dem Tomas sein geschwollenes Hinterteil kühlen kann.
Aber es hat keinen Sinn, jetzt über Will und Tomas nachzugrübeln – nicht wo wir schon wieder in eine Sackgasse eingebogen sind. Wir kehren um und versuchen es auf einem anderen Weg. An der nächsten Gabelung gibt es zwei Möglichkeiten. Sollen wir uns nach rechts halten oder doch lieber nach links gehen? Der Kompass verrät uns, dass die Straße, die aus der Stadt hinausführt, irgendwo rechts liegen muss. Also schlagen wir diese Richtung ein.
Wir folgen der Anzeige des Kompasses und laufen immer weiter. Irgendwann weist uns Tomas darauf hin, dass die Häuser, an denen wir vorbeikommen, allmählich kleiner werden und mehr und mehr jenen ähneln, die wir passiert haben, als wir in die Stadt hineinfuhren. Das Ende des Labyrinths muss ganz nah sein. Ich würde zu gerne auf mein Fahrrad springen und die Straße hinuntersausen, um zu sehen, ob die Vermutung stimmt. Stattdessen marschieren wir zu Fuß weiter. Eine Meile lang teilt sich die Straße nicht mehr, was bedeutet, dass wir auch keine Entscheidungen treffen müssen. Zwei Meilen. Das Lächeln auf unseren Gesichtern wird zuversichtlicher. Es gibt immer weniger Häuser links und rechts an der Straße. Und endlich sehen wir vor uns nur noch harten und zusammengebackenen Erdboden und die wenigen Pflanzen, die in dieser Gegend überlebt haben. Die Straße scheint sich bis in endlose Ferne zu erstrecken.
Als die Stadt einige Meilen hinter uns liegt, fragt Will: »Würde es euch etwas ausmachen, wenn ich heute noch bei euch übernachte? Ab morgen will ich euch nicht mehr unnötig aufhalten, aber es wäre schön, noch ein bisschen länger in Gesellschaft zu sein.«
»Natürlich kannst du heute Nacht bei uns bleiben.« Tomas’ Zustimmung kommt, noch bevor ich etwas sagen kann. Aber mir entgeht nicht, dass er Will lediglich für diese eine Nacht eine Zusage gegeben hat.
Auch wenn ich weiß, dass Tomas darüber nicht erfreut sein wird, füge ich hinzu: »Unsere Nahrungsvorräte gehen zur Neige. Morgen werden wir also ohnehin zu Fuß unterwegs sein und nach Essen und Wasser suchen. Vielleicht entdecken wir dabei ja auch irgendein Gefährt für dich. Dann können wir bis zum Ende zusammenbleiben.«
»Das klingt toll.« Will lächelt. »Aber wenn wir morgen nichts Fahrbares finden, dann müssen wir uns trennen. Ich will nicht, dass ihr beide meinetwegen zurückfallt. Je schneller ihr wieder in Tosu-Stadt seid, desto besser. Okay?«
Nach diesen Worten entspannt sich Tomas ein bisschen. Wir setzen unseren Weg fort, bis die Sonne schon tief am Horizont steht. Von der Straße aus ist der südliche Grenzzaun, der das Prüfungsgebiet markiert, sichtbar. Dahinter entdecke ich ein glitzerndes, klares Gewässer. Unwillkürlich frage ich mich, ob die Prüfer uns ganz bewusst diesem verlockenden Anblick aussetzen. Vermutlich wollen sie herausfinden, ob wir uns an die Anweisung, das abgesteckte Testgebiet auf keinen Fall zu verlassen, erinnern und ob wir sie befolgen.
Wir suchen uns eine geeignete Stelle hinter einem großen Steinhaufen für unser Lager aus. Während sich Tomas und Will damit beschäftigen, ein Feuer anzuzünden, ziehe ich los, um nach etwas Essbarem zu suchen. Der Boden hier ist härter und ausgetrockneter als auf der anderen Seite der Stadt. Doch in der Nähe des Zauns gibt es Anzeichen für eine gesündere Vegetation. Jenseits der Grenzmarkierung befindet sich ein See, der ohne Zweifel der Grund für die sprießende Pflanzenwelt zu meinen Füßen ist. Zwar frustriert es mich, nicht an das Wasser heranzukommen, aber immerhin finde ich mehrere Handvoll Löwenzahnblätter, Lauch und jede Menge weißen Klee. Auch Wills Draht kann ich gut gebrauchen. Zweihundert Meter von unserem Lager entfernt stelle ich einige Fallen auf und versuche, mich an das zu erinnern, was mir meine Brüder diesbezüglich beigebracht haben. Wenn ich Glück habe, dann werden sich ein oder zwei vorbeikommende Tiere in der Schlinge verfangen. Darauf kann ich nur hoffen, denn mein Magen schmerzt bereits vom Hunger.
Wills Flasche ist leer. Während des Essens teilen Tomas und ich unseren Wasservorrat mit ihm. Als die Nacht hereinbricht, befinden sich nur noch ein paar Schlucke auf dem Boden des einen Gefäßes. Die Suche nach Wasser muss morgen ganz oben auf unserer Prioritätenliste stehen. Ansonsten können wir uns nämlich jede Diskussion sparen, ob wir zu zweit oder zu dritt weiterreisen.
Tomas beharrt darauf, Nachtwachen einzuteilen. »Wir sind zu dritt, also können wir alle ausreichend Schlaf bekommen und haben trotzdem jemanden, der aufpasst. Cia und ich sind vor Kurzem nur um ein Haar einer Horde wilder Tiere entkommen. Diese Erfahrung muss ich nicht noch einmal machen, wenn es sich irgendwie vermeiden lässt.«
Wir lassen das Feuer brennen, und Tomas gibt mir einen langen Kuss, ehe er auf einen Steinhaufen klettert, um von dort aus über uns zu wachen, während wir schlafen. Ich selbst werde die letzte Schicht übernehmen.
Nur allzu bald weckt mich Will und ist beinahe sofort eingeschlafen, während ich meinen Platz auf den Steinen einnehme. Das Feuer ist heruntergebrannt, wirft aber noch genug Licht auf meine Freunde, sodass ich sehen kann, wie sich Tomas’ Schultern entspannen, als Will zu schnarchen beginnt. Ist Tomas während Wills Schicht ebenfalls wach geblieben? Offenbar. Ich bin hin-und hergerissen zwischen Tomas’ mangelndem Vertrauen und meinem schlechten Gewissen, weil ich so gutgläubig bin. Nun, wo ich sehe, wie unwohl Tomas sich in Wills Gegenwart fühlt, muss ich meinen Plan, dass Will bei uns bleibt, wohl noch einmal überdenken.
Vogelgezwitscher kündigt den Anbruch eines neuen Tages an. Ich habe Tomas versprochen, ihn im Morgengrauen zu wecken, aber ich entschließe mich, erst unser Frühstück zusammenzusuchen, um ihm noch ein paar Minuten Extraschlaf zu gönnen.
Der Anblick eines mageren, aber durchaus essbaren Kaninchens in einer meiner Fallen bringt mich zum Strahlen. Ich laufe am Grenzzaun entlang zum Lager zurück und halte dabei die Augen nach weiterer Nahrung offen. Eine Handvoll Klee und einige wilde Karotten wandern in meine Tasche. Es wäre schön, wenn es noch mehr wäre, aber das muss eben erst mal reichen. Als ich mich vom Zaun abwende und mich auf den Weg zurück zu Tomas und Will mache, höre ich plötzlich einen Zweig knacken. Ich wirbele herum, ziehe meine Pistole und rechne mit einem Tier. Doch stattdessen steht auf der anderen Seite des Zauns ein grauhaariger Mann und lächelt mich an.