Kapitel 17

Ich mache mir nicht die Mühe, meine Waffe hervorzuholen. Wenn dieser Mann mich hätte töten wollen, hätte er es bereits vor einigen Tagen getan. Seine grauen Haare lassen ihn alt aussehen, aber seine Augen und sein faltenloses Gesicht verraten mir, dass er um viele Jahre jünger ist, als ich zuerst angenommen habe. Er trägt ein graues, ärmelloses Hemd, das den Blick auf seine muskulösen Arme freigibt, und eine braune, locker sitzende Hose. In seiner Hand hält er wieder diese Art Beutel, die mir ja mittlerweile schon richtiggehend vertraut ist.

Ich schiebe mir die Haare aus dem Gesicht und sage: »Danke für das Essen.«

Der Mann lächelt und antwortet: »Sehr gern geschehen.« Ich warte darauf, dass er weiterspricht, aber zwischen uns herrscht Schweigen.

Schließlich stecke ich meine Hände in die Hosentaschen und frage: »Wer sind Sie?«

»Ich bin ein Freund, der will, dass du diese Reise überlebst. Mein Name spielt keine Rolle.«

Für ihn vielleicht nicht. Sein Unwille, mir zu verraten, wie er heißt, beunruhigt mich. »Nun, dann nochmals danke für die Nahrungsmittel.«

Ich wende mich ab, um zu gehen, da höre ich ihn sagen: »Wenn du wartest, dann werde ich dir erklären, warum ich dir meinen Namen nicht nennen kann und warum ich dir helfen will.«

Ich bleibe wie angewurzelt stehen, starre den Mann an und warte.

»Mein Name wird dir nichts sagen, aber diejenigen, die dich am Ende dieses Tests beurteilen, werden ihn kennen. Zwar vertraue ich darauf, dass du ihn nicht freiwillig den Offiziellen gegenüber preisgibst, aber es könnte sein, dass du gar nicht anders kannst.«

»Was soll das heißen?«

»Hat man dir schon von den Gesprächen nach Abschluss des vierten Tests erzählt?«

Er wartet mein Nicken ab. »Davor werden sie dir eine Droge verabreichen, die dich dazu bringt, alle Fragen ehrlich zu beantworten, ohne irgendwelche Geheimnisse für dich zu behalten.«

Obwohl ich in diesem Teil der Prüfung Dinge getan habe, über die ich lieber nicht sprechen würde, ist bislang nichts geschehen, was mir Schwierigkeiten bereiten könnte, wenn ich es gezwungenermaßen verraten würde. Dass ich in der Lage bin, mein Erkennungsarmband abzunehmen, könnte die Prüfer verärgern, aber vielleicht würden sie es auch als ein Zeichen für meine Findigkeit ansehen. Selbst dieser seltsame Mann und seine Geschenke sind nicht gefährlich für mich. Dr. Barnes hat gesagt, wir dürften den abgesteckten Testbereich nicht verlassen. Es war nie die Rede davon, dass wir keine Nahrungsmittel annehmen dürfen, die uns über den Zaun hinweg zugeworfen werden.

Also straffe ich die Schultern und sage: »Ich habe nichts zu verbergen.«

»Bist du dir da so sicher, Cia?«

Der Klang meines eigenen Namens von den Lippen dieses mir unbekannten Mannes ist wie ein Tritt in die Magengrube. Ich war der Meinung, dass mein Zusammentreffen mit dem Fremden reiner Zufall war. Die Tatsache, dass er meinen Namen kennt, spricht jedoch eindeutig dagegen. »Woher wissen Sie, wer ich bin? Gehören Sie zu den Offiziellen?«

Er lacht. »Weit gefehlt. Ich bin jemand, der den gesamten Prüfungsprozess ablehnt und dir helfen will zu überleben. Nicht nur diesen Test, sondern auch die Herausforderungen, die dich danach an der Universität erwarten.«

Bislang habe ich es als mein Ziel angesehen, die Auslese zu bestehen, um in den sicheren Schoß der Universität zu gelangen. Die Vorstellung, dass mich dort vielleicht weitere Tests erwarten könnten, lässt mir förmlich das Blut in den Adern gefrieren. Obwohl mir jede Menge Fragen zur Universität auf der Zunge liegen, weiß ich, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt ist. Ich werde warten müssen, bis die Zeit dafür reif ist.

Nun konzentriere ich mich lieber auf das, was genauso wichtig, wenn nicht sogar noch wichtiger ist: »Wenn Sie gegen die Prüfung sind, warum versorgen Sie mich dann mit Essen und Wasser? Warum helfen Sie mir nicht, alldem zu entkommen?«

»Ich gehe davon aus, der geschätzte Dr. Barnes hat euch erklärt, dass die Kandidaten das Testgebiet nicht verlassen dürfen. Die Grenzzäune sind völlig harmlos, solange kein Prüfling versucht, sie zu überwinden.«

Der Mann steckt eine Hand in seine Tasche und holt ein silbernes Erkennungsarmband heraus. Das Symbol darauf ist ein Dreieck mit etwas darin, das wie ein gezeichnetes menschliches Auge aussieht. Eine vage Erinnerung an die Zeit nach dem Ende der dritten Prüfung steigt in mir auf. Tomas hat mir damals die Mitstreiter seiner Gruppe gezeigt. Dazu gehörte ein Junge mit ungezähmtem braunem Haar und einem freundlichen Lächeln. »Der Bursche hat vor etwa hundert Meilen versucht, über den Zaun zu klettern. Er war tot, noch ehe er einen Fuß auf die andere Seite gesetzt hat. Das Einzige, was wir für ihn tun konnten, war, ihn ebenso zu bestatten, wie ihr beide, du und dein Freund, es mit dem Mädchen getan habt, das ihr gefunden hattet.«

Mein ganzer Körper wird steif. »Nur ein Prüfer kann wissen, was Tomas und ich getan haben.«

»Nicht alle Offiziellen sind mit dem momentanen Vorgehen des Komitees einverstanden. Einer von ihnen hat sogar ein paar Gleiter des Commonwealth sabotiert, um Abgesandte davon abzuhalten, rechtzeitig in die Kolonien zu gelangen und Kandidaten für die Auslese auszuwählen. Leider waren die Teile, die er blockiert hat, keineswegs so schwer zu reparieren, wie wir glaubten. Ansonsten wärst du jetzt immer noch in der Five-Lakes-Kolonie, und ich würde dieses Gespräch mit einem anderen Kandidaten führen.«

Spielt er auf Michal an? Ist Michal derjenige, der diesem grauhaarigen Mann von mir erzählt hat? Irgendetwas sagt mir, dass ich keine Antwort bekäme, wenn ich das fragen würde. Mein Wohltäter ist aus einem bestimmten Grund hier. Ich bin schon zu lange vom Lauschgerät der Offiziellen entfernt – noch länger, und sie werden sich darüber wundern, dass sie nichts mehr von mir hören. Es wird Zeit herauszufinden, welches Ziel der Mann verfolgt.

»Warum führen wir diese Diskussion?«

Zum ersten Mal lächelt er. »Weil wir beide wissen, dass es in deiner Familie Geheimnisse gibt, von denen du nicht willst, dass das Commonwealth sie erfährt, Cia.«

Der Beutel, den er in der Hand gehalten hat, kommt über den Zaun geflogen. »Da drin befindet sich ein kleines Fläschchen. Es enthält eine Flüssigkeit, von der wir glauben, dass sie die Wahrheitsdroge in der abschließenden Evaluation neutralisiert. Du musst sie am Morgen des Gesprächs trinken, wenn du für deine eigene Sicherheit und die deiner Familie sorgen willst.«

Die Bedrohung meiner Angehörigen, die in diesen Worten mitschwingt, jagt mir ungeheure Angst ein. Doch Furcht bringt mich jetzt nicht weiter. Ich schaue auf den Beutel in meiner Hand, dann sehe ich wieder den Mann an. »Woher soll ich wissen, dass das kein weiterer Test ist?«

Wenn doch, dann wird mich die Flüssigkeit in der Ampulle vermutlich töten – die Bestrafung für eine falsche Antwort sozusagen.

»Du kannst dir nicht sicher sein.« Traurigkeit liegt in seiner Stimme. »Du hast nur mein Wort darauf, dass ich nicht zum Vereinigten Commonwealth gehöre.« Er macht einen Schritt vom Zaun weg. »Versteck diese Flasche in deiner Ersatzkleidung, ehe du die Ziellinie überquerst. Einer meiner Freunde wird dafür sorgen, dass sie von den Offiziellen nicht entdeckt wird und rechtzeitig wieder zwischen deinen Sachen verborgen liegt, ehe das Gespräch beginnt. Viel Glück, Malencia. Ich hoffe, dass wir uns wiedersehen werden.«

Ohne ein weiteres Wort dreht er sich um und geht davon. Ich sehe ihm nach, wie er im hohen Gras verschwindet, ehe ich mein Erkennungsarmband und meine Tasche hole. Die Sonne geht bereits unter. Ich muss zu Tomas zurück, aber ich brauche einen Augenblick, um über alles, was ich gerade gehört habe, nachzudenken, während ich den braunen Beutel ausleere. Ja, ich finde tatsächlich ein kleines unbeschriftetes Fläschchen mit einem schwarzen Korken. Vorsichtig ziehe ich den Verschluss heraus und schnuppere am Gefäß. Die Flüssigkeit darin riecht schwach nach Rosen.

Ich schiebe den Flakon tief in meine Hosentasche und schaue mir die anderen Gaben an. Noch mehr Wasser. Statt Brot und Käse entdecke ich einen kleinen Behälter mit Himbeeren, ein dickes Bündel wilder Karotten und mehrere kleine gelbliche Früchte, die ich für Birnen halte. Wildwachsende Rüben und Himbeeren könnten möglicherweise in dieser Gegend zu finden sein. Ich frage mich, ob es sich auch lohnt, nach Birnen zu suchen. In einiger Entfernung vom Zaun entdecke ich nach gut fünfzehn Minuten tatsächlich nicht nur einen Birnbaum, sondern auch einen ausladenden Busch mit reifen Himbeeren und daneben wilde Karotten im Überfluss. Diese Tasche hat also nicht nur Essen für mich gebracht, sondern auch dafür gesorgt, dass Tomas etwas davon hat. Der Fremde hinter dem Zaun muss gewusst haben, dass ich ihm nichts von Brot und Käse erzählt habe.

Dieser Mann weiß verdammt viel.

Er hat auch angedeutet, dass er über meine Familiengeheimnisse informiert ist. Hat er auf die Albträume meines Vaters angespielt? Auf die Tatsache, dass Zeen viel schlauer als jeder Einzelne von uns ist, was vor Dr. Barnes und den Prüfern geheim gehalten wurde? Dass die Anführer der Five-Lakes-Kolonie sich zusammengetan haben, um die Schüler ihrer Abschlussklassen vor der Auslese zu bewahren? Mir bricht kalter Angstschweiß aus, wenn ich daran denke, dass ich im Abschlussgespräch danach befragt werden könnte. Vielleicht ist das Ganze aber auch nur ein weiterer Test. Es könnte sein, dass dieser Mann versucht, mir solche Angst einzujagen, dass ich am Ende die Flüssigkeit aus der Flasche trinke und ihr zum Opfer falle.

Aber darum muss ich mich später kümmern, nicht jetzt.

Mit den Armen voller Vorräte mache ich mich auf den Weg zurück in unser Lager und freue mich schon auf Tomas’ Reaktion beim Anblick dieser Ausbeute. Ich werde nicht enttäuscht. Er hilft mir, die Lebensmittel auf den Boden zu legen, dann hebt er mich hoch und wirbelt mich herum. Die Schatten der vergangenen zwei Tage sind verflogen, und es fühlt sich an, als seien wir heil und gesund wieder in Five Lakes.

Wir lassen uns den letzten Rest des gebratenen Fleisches schmecken und schlagen uns den Magen mit saftigen Himbeeren und Birnen voll. Dann nehmen wir uns vor, noch mehr zu sammeln, bevor wir uns in die Stadt hineinwagen. Schließlich sehe ich mir Tomas’ alte Wunde an, die zufriedenstellend heilt, und meinen eigenen Arm, der gar nicht so gut aussieht und wie verrückt schmerzt. Ich wasche die Wunde am Teich aus, schlucke einige Schmerztabletten, um das schlimmste Stechen zu lindern, und schmiere noch mehr Salbe drauf, obwohl ich tief in meinem Herzen weiß, dass das nicht viel helfen wird. Aber ich muss es doch wenigstens versuchen, oder? Tomas hilft mir dabei, einen neuen Verband um meinen Oberarm zu wickeln, neckt mich mit angeblichen Himbeerflecken auf meinen Lippen und küsst sie weg. Er ist wieder so sehr der Alte, dass ich mich danach sehne, ihm meine Geheimnisse anzuvertrauen. Aber das kann ich nicht. Noch nicht. Erst mal muss ich etwas von ihm erfahren: »Was ist zwischen dir und Will vorgefallen, nachdem ich weg war?«

»Das hat dir Will doch schon erzählt.«

»Es ist viel mehr geschehen als das, was ich aus euch beiden herausbekommen habe.«

Ich merke, wie Tomas ganz steif wird. »Nennst du mich einen Lügner?«

»Nein«, versichere ich ihm. »Aber ich weiß, dass du nicht besonders gut auf Will zu sprechen warst und er auch nicht auf dich, als ich aufgebrochen bin.« Tomas nimmt seinen Arm von meinen Schultern, erhebt sich und lässt den Blick in die Ferne schweifen, als sei ich gar nicht mehr da. Das tut weh. Ich rappele mich auf und lege ihm meine Hand auf die Schulter. »Sieh mal, es ist schwer, jemandem unter diesen Umständen Glauben zu schenken, aber ich vertraue Will.«

»Das solltest du nicht tun.« Tomas sieht mich mit einem fiebrigen, leidenschaftlichen Blick an. »Hat dein Vater dich denn nicht gewarnt, dass du niemandem vertrauen sollst?«

Bei Tomas’ Worten bleibt mir fast das Herz stehen. Er weiß doch, dass uns jemand belauscht und dass wir vielleicht nur Glück hatten, wenn sich niemand um jenes Gespräch gekümmert hat, das wir geführt haben, ehe wir damals Tosu-Stadt erreichten. Wenn er jetzt nicht auf seine Worte achtet, könnte er meinen Vater und damit meine ganz Familie in Gefahr bringen.

Ich schlucke mühsam und antworte: »Ich vertraue dir. Und mein Vater hat mich durchaus gewarnt, dass die Konkurrenzsituation einige Leute völlig verblenden könnte. Aber das bedeutet ja nicht, dass Will einer von ihnen ist.«

»Wie kannst du dir da so sicher sein? Nur deshalb, weil er Scherze macht und sein Bruder die erste Runde nicht überstanden hat? Na und? Du weißt doch gar nicht, wozu er fähig ist. Als wir, während du weg warst, deine Fallen gefunden haben, hat er sein Messer gesucht und dazu seine Tasche ausgepackt. Er besitzt ebenfalls ein Wasserreinigungsset, eine Medizintasche, ein Fernglas und einen Atlas, wie ich ihn auch habe.«

»Und weiter?«

»Die Anzahl der Gegenstände passt nicht. Wir durften doch nur drei Dinge mitnehmen. Drei, die zu unseren persönlichen Habseligkeiten hinzukommen. Das Messer. Die Pistole. Rechne die noch dazu.«

Ich zähle alles zusammen und sage: »Vielleicht hat er das Messer oder das Fernglas irgendwo unterwegs gefunden.«

»Auf beiden war das Logo des Commonwealth eingeritzt, genau wie bei deiner Pistole oder bei meinem Messer. Das bedeutet, dass er mindestens einem anderen Prüfling über den Weg gelaufen sein muss.«

Das Bild des toten Mädchens, das wir begraben haben, steigt vor meinem inneren Auge auf, doch ich versuche, diese Vorstellung zu verdrängen. »Vielleicht hat ein Kandidat seine Tasche verloren, oder er hat jemanden im Schlaf überrascht und ihm seine Sachen weggenommen.« Einen Schlafenden zu berauben wäre zwar auch alles andere als eine Heldentat, aber ein Vergehen, das ich vielleicht noch verzeihen könnte. »Die Leute verhalten sich merkwürdig, wenn sie unter Druck sind. Nur weil Will einige zusätzliche Gegenstände in seinem Besitz hat, heißt das noch lange nicht, dass er andere dafür verletzt hat. Ihr zwei habt schließlich auch einen Kandidaten getroffen, während ich nach Wasser gesucht habe, und dem ist doch nichts geschehen, oder?«

»Nein«, sagt Tomas und senkt den Blick.

Ich möchte ihm so gerne glauben, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich das kann. Seit meiner allerfrühesten Erinnerung ist Tomas immer ruhig und besonnen gewesen. Jetzt steht er vor mir, angespannt, zornig und verzweifelt.

Ich versuche, optimistisch zu klingen, und füge hinzu: »Ich weiß, dass du Will nicht vertraust, aber ich finde wirklich, du solltest in Betracht ziehen, dass es noch eine andere Möglichkeit gibt. Das Vereinigte Commonwealth sucht nach einer neuen Generation von Anführern. Selbst Anführer müssen manchmal vertrauen.« Wenn schon meine Worte Tomas nicht beruhigen können, dann wenigstens mein Tonfall. Wir legen uns auf den Boden und versuchen einzuschlafen. Tomas schlingt seinen Arm um mich; mein Kopf ruht auf seiner Brust. Eine Frage muss ich jedoch noch loswerden, ehe ich meine Augen schließe. Ich muss Tomas auf die Probe stellen. »Wie hieß denn der andere Kandidat?«

Ich spüre, wie Tomas’ Herz unter meiner Wange schneller schlägt. Seine Muskeln sind angespannt. Einen Moment darauf flüstert er: »Ich glaube nicht, dass er uns seinen Namen gesagt hat. Und falls doch, erinnere ich mich nicht mehr daran.«

Er lügt. Auf jeden Fall hätte er nach dem Namen gefragt, und er hätte im Gegenzug seinen eigenen genannt. Aus Gewohnheit. Weil es sich so gehört. So machen wir es in Five Lakes. Mein Magen krampft sich vor Enttäuschung zusammen, und ich kämpfe gegen den Drang an, mich aus Tomas’ Umarmung zu lösen.

Es ist keine große Überraschung, dass wir beide in dieser Nacht nur so tun, als schliefen wir.

In meinen Fallen haben sich zwei Kaninchen und eine Beutelratte verfangen. Während Tomas sie häutet und über einem Feuer brät, sammle ich weitere Früchte und Grünpflanzen für den Weg durch die Stadt. Es gibt keine Guten-Morgen-Küsse und auch keine liebevollen Blicke. Tomas ist in sich gekehrt, als wir unsere Sachen zusammensuchen und auf unsere Fahrräder steigen, und das gibt mir viel Zeit, meinen eigenen Gedanken nachzuhängen.

Der Himmel ist diesig. Mehr als einmal wandern meine Blicke zum Grenzzaun, wo ich nach meinem rätselhaften Wohltäter suche, aber ich bin nicht erstaunt darüber, dass ich ihn nicht entdecken kann. Dennoch bin ich fest davon überzeugt, dass er – oder jemand, den er kennt – uns beobachtet. Gehört er zu den Renegaten? Er hat gesagt, er sei kein Mitglied des Vereinigten Commonwealth und sei mit den Prüfungsmethoden während der Auslese nicht einverstanden. Und doch hat er sich lediglich dafür entschieden, mir Nahrungsmittel und ein Fläschchen mit einer unbekannten Droge zu überlassen. Im Gegensatz zu seinem Freund, der die Droge später verstecken wird, hat er mir keine weitere Hilfe und keine Unterstützung bei einer Flucht angeboten. Wenn er und seinesgleichen einen Gleiter des Vereinigten Commonwealth sabotieren können, dann sollten sie doch wohl auch einen Weg finden, wie wir die Strafe umgehen können, die uns bei einer Flucht von der Auslese erwarten dürfte. Andererseits: Der Mann hat behauptet, meine Anwesenheit hier sei der Beweis für das Unvermögen der Renegaten, den Prüfern einen Strich durch die Rechnung zu machen. Doch auch wenn die Aussichten auf Erfolg so gering sind, gibt es bestimmt Kandidaten, die verängstigt, hungrig und krank genug sind, um jede Chance auf ein Entkommen zu nutzen.

Aber würden sie tatsächlich wagen zu fliehen? Alle haben Familien zu Hause – Familien, die den Gesetzen des Vereinigten Commonwealth unterworfen sind. Die Regierung entschädigt unsere Familien, wenn wir zur Auslese weggeschickt werden. Ich frage mich, ob das Gesetz auch festgelegt hat, was mit einer Familie geschieht, deren Kinder sich für die Flucht entscheiden.

Ein Brückenbogen aus Metall überspannt die Hauptstraße, die um die Vororte der Stadt herumführt. Die Gebäude sind hier höher als in der Stadt, die wir vor Tagen durchquert haben, aber ihr Zustand ist deutlich schlechter. Die ausgebrannten Ruinen verraten uns, was geschehen ist: Diese Stadt wurde bombardiert.

In Tomas’ Atlas finden wir den Namen des Ortes: St. Louis. Wir erinnern uns beide nicht daran, ob in unserem Geschichtsbuch in der Schule irgendetwas darüber zu lesen war, welche Art von Bomben hier eingesetzt wurde. Es gab welche, durch die alles im weiten Umkreis zerstört wurde. Andere verseuchten das Wasser und den Boden. Die schlimmsten von ihnen enthielten giftige Substanzen, die nicht mit der Zeit von selbst abgebaut werden, sondern die nur mithilfe entsprechender Gegenmaßnahmen neutralisiert werden können. Es ist die letzte Möglichkeit, die uns dazu bringt, dass wir unsere Fahrräder nach Westen lenken und unsere Augen fest auf die Straße heften, die einen Bogen um die Stadt herum macht. Unsere Wasser-und Essensvorräte sind so weit aufgestockt, dass wir uns den Risiken der Stadt nicht aussetzen müssen.

Während der nächsten Tage verfallen wir in eine feste Routine: Wir sammeln Nahrung, legen eine gewisse Wegstrecke zurück und schlagen dann unser Lager auf. Wir finden auch mehrere kleine Flüsse, in denen wir den Staub der Reise abwaschen. Obwohl wir keinen Hunger leiden, beginnen unsere Kleider, lose um unsere Körper zu schlackern. Ich binde mir ein langes Stück von meinem Laken um den Bund meiner Hose, damit sie mir nicht über die Hüften rutscht. Tomas bleibt ebenfalls nichts anderes übrig. Wir unterhalten uns nur noch über die oberflächlichsten Themen. Hin und wieder ertappe ich Tomas dabei, wie er mich anstarrt, als ob er mir gerne etwas erzählen würde. Aber das tut er nicht. Und ich gebe ebenfalls nichts preis.

Bei jedem Geräusch zucke ich zusammen, obwohl wir weder von Tieren noch von seltsamen Menschen angegriffen werden. Zweimal allerdings entdecken wir am nördlichen Horizont Silhouetten, die von weiteren Testkandidaten stammen könnten. Wir treten schneller in die Pedale, um jedes Zusammentreffen zu vermeiden. Der Mann auf der anderen Seite des Zauns lässt sich nicht noch einmal blicken.

Ein Tag nach dem anderen verrinnt.

Die Schatten unter Tomas’ Augen werden immer dunkler. Zwar lacht er manchmal oder macht Scherze, aber ich kann sehen, wie sehr die Situation an ihm zehrt.

Meine Albträume werden schlimmer. Freunde, meine Familie und Feinde finden einen Weg in meine Träume, doch ich lerne, die Schreie beim Aufwachen zu unterdrücken. Immer wieder taste ich unwillkürlich nach dem Fläschchen in meiner Tasche, um mich zu beruhigen. Die Wunden an meinem Arm machen mir jedoch große Sorgen. Während der ersten paar Tage habe ich mir eingeredet, ich würde mir die Veränderung nur einbilden, aber nach einer Woche kann alles Hoffen nicht mehr darüber hinwegtäuschen, dass die Schmerzen schlimmer werden. Der Schorf, der sich gebildet hat, wird grün und sondert ein gelbliches Sekret ab. Was für Chemikalien es auch immer gewesen sind, die die Menschen in dieser Gegend haben mutieren lassen, sie sind nun auch in meinen Körper gelangt. Wieder nehme ich Schmerzmittel, trinke viel Wasser und bete, dass ich bis zum Ende dieses Prüfungsteils durchhalte, ohne dass die Infektion eine dauerhafte Schädigung zur Folge hat.

Nach mehr als einer Woche auf dem Fahrrad entdecken wir die nächste größere Ansammlung von Gebäuden am Horizont. Hier sind sowohl die nördliche als auch die südliche Grenzlinie zu sehen. Die Prüfer haben das Gebiet auf diesen letzten zweihundert Meilen eingeengt. Wenn noch andere Prüflinge in der Nähe sind, dann werden wir ihnen mit ziemlicher Sicherheit begegnen.

Fußspuren am Rande der Straße und etwas, das wie Reifenabdrücke aussieht, verraten uns, dass mindestens zwei, vielleicht auch drei Kandidaten hier gewesen sind. Wir waren ja schon schnell, aber sie sind offenbar noch besser als wir vorangekommen. Also wäre es möglich, dass sie irgendwo in den Straßen der vor uns liegenden Stadt auf uns lauern.

Wir warten ab, bis der Morgen graut, dann wagen wir uns in das Straßengewirr hinein. Die Stadt wirkt ausgestorben, aber einige der Gebäude sind in verhältnismäßig gutem Zustand. Dann biegen wir um eine Ecke, und die Häuserreihen brechen mit einem Schlag ab. Hinter dem letzten Gebäude gähnt ein riesiger, tiefer Krater, der sich über ein Gebiet erstreckt, so weit das Auge reicht. Gesäumt wird das Loch von Häusern wie jenen, an denen wir gerade vorbeigelaufen sind. Dieser Ring umfasst mehrere Straßen. Das ist alles, was von einem Ort noch übrig ist, an dem einst Menschen gewohnt und gearbeitet haben.

Unsere Finger umklammern die Lenker unserer Fahrräder, während wir ungläubig in die Leere starren. Viele Meilen von verbranntem Nichts. Während das Land hinter uns zwar verseucht ist, gibt es dort immerhin einige Pflanzen, die sich angepasst haben und die am Leben sind. Vor uns liegt eine Fläche, in der nicht einmal ein Hauch von Grün zu sehen ist. Hier gibt es nichts Lebendiges. Ich versuche mir vorzustellen, was früher mal hier gestanden hat. Oder wie irgendein Anführer ein Bombardement mit diesem Resultat befehlen konnte – mit dieser Zerstörung, die man nicht mit einem richtigen Gemisch an Chemikalien oder einer neuen Sorte Pflanzen wieder in Lebensraum zurückverwandeln kann. Die Erde ist widerstandsfähig, sicher, aber es ist schwer vorzustellen, dass dieser Ort jemals wieder etwas anderes sein wird als die entsetzliche Erinnerung an das, was wir Völker einander antun können.

Der Krater reicht meilenweit, und uns bleibt keine andere Wahl, als uns einen Weg zu suchen, der um ihn herumführt. Das bedeutet, dass wir uns durch das Labyrinth der Straßen wagen müssen, an deren Seiten die Gebäude dicht an dicht stehen. Ohne besonderen Grund wenden wir uns nach rechts und gehen zu Fuß weiter. Unsere Räder schieben wir. Ich bin froh darüber. Mein Arm tut mir immer stärker weh, ebenso der Rest meines Körpers. Die Medikamente halten die schlimmsten Schmerzen eine Weile lang im Zaum, aber sie kehren immer wieder. Vielleicht verschafft das Laufen meinem Körper ein wenig Ruhe, sodass er gegen die Infektion ankämpfen kann.

Einige Häuserblöcke haben wir bereits im Zickzackkurs passiert, als ich frage: »Glaubst du, die Menschen, die die Bomben auf diese Stadt abgeworfen haben, haben wirklich begriffen, welchen Schaden sie anrichten? Haben sie verstanden, dass ein Sieg bedeutet, alles und jeden zu vernichten – am Ende auch sich selbst?«

Tomas zuckt mit den Schultern. »Spielt die Antwort irgendeine Rolle?«

»Möglicherweise«, entgegne ich. In den letzten Wochen habe ich viel über diese Frage nachgedacht. Vielleicht, weil das Ende des Prüfungsteils näher rückt und deshalb auch die Chancen steigen, dass wir zu den zukünftigen Anführern unserer Generation gehören werden. Viele der anderen Kandidaten haben deutlich ihre Überzeugung zum Ausdruck gebracht, dass der Zweck die Mittel heiligt. Mir fällt das schwer zu glauben, aber eins ist gewiss: Die Vergangenheit lässt sich nicht mehr ändern. Das beweisen meine eigenen Albträume ganz eindringlich. Während ich in manchen Nächten keinen Schlaf mehr finden konnte, ist mir klar geworden, dass die Dauer dieser letzten Prüfung nicht willkürlich gewählt ist. Der dritte Testteil hat den Prüfern ermöglicht, alles zu erfahren, was sie über unsere Fähigkeiten, anderen zu vertrauen, strategisch zu denken und zu kooperieren, herausfinden wollen. Nach unserem Verhalten während jener Prüfung konnten die Offiziellen zweifellos vorhersagen, welche Kandidaten die zur Verfügung gestellten Waffen zum Überleben nutzen und welche sie im Laufe der nächsten Wochen gegen ihre Mitstreiter einsetzen würden, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Zwar testet dieser vierte Teil der Auslese viele ähnliche Aspekte ab wie die vorausgegangenen Tests, aber er ist auch dazu gedacht, nicht nur die Entscheidungen zu bewerten, die wir treffen, sondern auch, wie wir mit ihnen im Nachhinein umgehen. Lernen wir aus unseren Fehlern und benutzen neue Informationen, um heil bis ans Ende dieser Prüfung zu kommen, oder lassen wir uns davon erdrücken? Die Schatten unter Tomas’ Augen und die Art, wie er seine Schultern hängen lässt, zeigen mir, dass er erdrückt zu werden droht.

Das Bild von Rymes leblosem Körper steigt vor meinem geistigen Auge auf, und ich spüre einen angstvollen Stich. Ryme hat sich völlig auffressen lassen von den Zweifeln, die sie plagten. Ich bin mir zwar nicht sicher, welche Erinnerungen Tomas so quälen, aber ich sehe an der Verzweiflung in seinem Blick, dass ihm die unmittelbare Vergangenheit gefährlich werden könnte. Keine Ahnung, was er getan hat, aber was immer es auch war, er verdient es nicht, ein Opfer der Auslese zu werden.

Ich hole tief Luft und sage mit fester Stimme: »Der ganze Sinn und Zweck dieses Prüfungsteils besteht doch darin zu sehen, welche schrecklichen Dinge getan wurden, und aus diesen Fehlern zu lernen. Stimmt doch, oder?« Tomas legt den Kopf schräg, und ich fahre fort: »Die besten Anführer haben falsche Entscheidungen getroffen und ihre Lehren daraus gezogen. Die besten Anführer werden denselben Fehler nicht zweimal machen. Man kann nur lernen, wenn man die Fehler begreift, die begangen wurden.«

Tomas starrt lange Zeit eine Straße hinunter, die beim Krater endet, und denkt über meine Worte nach. Als er mir den Kopf schließlich wieder zuwendet, kann ich sehen, dass er schon etwas weniger gehetzt aussieht. »Ich denke, die Anführer wussten, dass sie die Gebäude zerstörten und die Menschen in der Stadt töteten. Was den Rest angeht …« Er seufzt. »Ich kann einfach nicht glauben, dass sie vorhatten, die Welt, in der sie selber auch weiterhin leben wollten, vollständig zu vernichten. Sie müssen irgendwann gemerkt haben, dass sie einen Fehler machen. Sie wussten nur einfach nicht, wie sie den Lauf der Dinge noch aufhalten sollten.«

Ich lasse den Blick über die Gebäude wandern und nicke. »Vielleicht ist es das, was einen echten Anführer ausmacht. Dass er zugeben kann, etwas falsch gemacht zu haben, und dann einen Weg findet, die Entwicklung zu stoppen, koste es, was es wolle.«

Mittlerweile haben wir die Stadt mehr als zur Hälfte durchquert. Plötzlich läuft mir ein Schauer über den Rücken. Ich suche die Fiebertabletten in meinem Erste-Hilfe-Set, aber dann durchfährt mich wieder ein Zittern. Dies ist kein Fieber, sondern etwas ganz anderes. Als ich noch klein war, haben meine Brüder mich immer wieder dazu angestiftet, Dinge zu tun, die meiner Mutter nicht gefielen – wie zum Beispiel Brot aus der Vorratskammer zu stibitzen oder heimlich ihr bestes Laken zu nehmen und in ein Piratenkostüm zu verwandeln. Ich wusste immer ganz genau, wann meine Mutter mich ertappt hatte, denn es überlief mich eiskalt, wenn sich ihre Blicke in meinen Rücken bohrten. Das gleiche Gefühl habe ich jetzt.

Irgendjemand beobachtet uns.

Überall um uns herum gibt es offene Fensterhöhlen, Eingänge und Risse in den Mauern. Zwar kann ich im Vorübergehen nichts Auffälliges bemerken, aber ich krame trotzdem meine Pistole aus der Tasche. Der Wind frischt auf, der Himmel wird grau. Ein Sturm zieht herauf. Vielleicht ist es das, was meine Haare im Nacken zu Berge stehen lässt.

Eine Bö reißt mir eine Strähne aus dem Haarknoten, den ich trage. Ich schiebe sie mir aus der Stirn, und da sehe ich es. Ein Gesicht, eingerahmt von einem Türsturz. Große, intelligente Augen, tief eingesunken in einem faltigen sonnengebräunten Schädel. Dicke braune Haarbüschel bedecken den Kopf, den Nacken und den Arm, den ich sehe. Mein Blut gerät ins Stocken, als ich die rasiermesserartigen Krallen am Ende der Hand entdecke. Sie sind viele Zentimeter lang. Scharf und giftig.

Das Heulen des Windes erfüllt die Luft. Doch nein. Das ist gar nicht nur der Wind. Das Wehen hat übertönt, was ich mich zu hören geweigert habe, als wir durch die Stadt liefen. Leises Gemurmel. Kehlige Laute, die die Böen zu uns treiben und die mir verraten, dass hier mehr als dieser eine Mensch lauert. Langsam drehe ich mich um, suche die Schatten ab und zähle die Gesichter, die ich sehe. Fünf. Zehn. Zwei weitere an einem Fenster im zweiten Stock. Es sind zu viele, als dass wir einen Angriff von ihnen überleben könnten. Aber noch gehen sie nicht auf uns los. Sie warten auf irgendetwas.

Tomas hat bislang nichts bemerkt. Seine Augen sind starr auf die Straße gerichtet, denn er hält angestrengt Ausschau nach vor uns liegenden Gefahren; den Fenstern drei Etagen weiter oben schenkt er keine Beachtung. Ich halte die Luft an, als ein leichter Regen einsetzt. Tomas flucht und schlägt vor, dass wir uns auf unsere Fahrräder setzen, damit wir schneller vorankommen. Aber ich reagiere nicht. Bislang haben diese Menschen in den Häusern nichts anderes getan, als uns zu beobachten. Vielleicht sehen sie uns nicht als Bedrohung an, weil wir zu Fuß unterwegs sind. Was geschieht wohl, wenn wir mit dem Fahrrad fahren? Schließlich saß ich auf einem, als ich angegriffen wurde. Wenn das Radeln der Auslöser für ihre Aggression ist, dann will ich diese Provokation nicht wiederholen.

»Cia, hast du mich gehört? Ich denke, wir sollten lieber fahren.«

Ich schüttele kaum merklich den Kopf, lege Tomas eine Hand auf den Arm und flüstere: »Sieh mal in die Fenster.« Er bleibt stehen, und als er rasch den Atem einsaugt, weiß ich, dass auch er Gesichter entdeckt hat. Ich beuge mich näher zu ihm und sage leise: »Es sind Dutzende von ihnen.«

»Sie sehen beinahe menschlich aus.« Tomas’ Hand tastet nach dem Griff seines Messers, und ich sehe, wie sich der Beobachter im Fenster bewegt.

»Es sind tatsächlich Menschen.«

»Wie kannst du dir da so sicher sein?«

Der Regen wird heftiger und macht es schwerer für uns, die Augen zu erkennen, die alles, was wir tun, verfolgen. Die Kleidung klebt nass an unseren Körpern. Einer der Beobachter verlässt seinen Posten im Hauseingang. Seine Bewegungen sind flink und geschmeidig. Wieder greift Tomas nach seinem Messer, aber ich lege ihm eine Hand auf den Arm und schüttele den Kopf. Der Mann kommt aus dem Haus und bleibt drei Meter hinter uns stehen. Seine Augen blinzeln nicht, während er darauf wartet, was wir jetzt machen. Meine Brust fühlt sich ganz eng an, und ich bekomme kaum noch Luft, als wir uns quälend langsam wieder in Bewegung setzen. Donner grollt. Die Wunden an meinem Arm brennen. Zwei weitere Beobachter gesellen sich zu dem ersten auf der Straße. In aller Ruhe laufen sie hinter uns her.

Immer stärker prasselt der Regen auf uns ein. Ein Blitz zuckt über den Himmel und spiegelt sich in den weit aufgerissenen Augen unserer Verfolger, die nicht ein einziges Mal mit den Wimpern zu schlagen scheinen. Noch jemand kommt hinzu. Dann der Nächste. Bald schon ist ein Dutzend von ihnen unmittelbar hinter uns. Sie bewegen sich nie rascher als wir, sondern bleiben mit ihrem seltsam gebückten, aber geschmeidigen Gang hinter uns. Auch halten sie mindestens drei Meter Abstand, aber ihre Klauen und ihre beinahe überwältigende Anzahl sind die ganze Zeit präsent.

Tomas fällt eher als mir auf, dass sich der Abstand zwischen ihnen und uns allmählich vergrößert. Sie verschwinden zwar nicht wieder in ihren Häusern, lassen sich aber immer weiter zurückfallen und bleiben schließlich stehen. Dutzende von ihnen drängen sich hinter uns, als wir unsere Schritte beschleunigen. Vielleicht war auch das ein Test. Vielleicht waren die Prüfer neugierig, ob wir diese Menschen ohne Grund angreifen, allein aus Angst vor dem Unbekannten, nicht aufgrund irgendeiner echten Bedrohung.

Sechs, sieben Meter vor uns entdecke ich noch jemanden in einem Eingang. Ein Donnerschlag lässt den Türrahmen erzittern, während uns der Mann anstarrt, ohne zu blinzeln. Ich registriere das Rattern von Gewehrsalven erst in dem Moment, als das Gesicht der Person in der Türöffnung zerschmettert wird.