Kapitel 16
Bevor ich noch etwas sagen kann, hat mir der Mann schon einen kleinen Beutel über den Zaun zugeworfen und ist wieder in den Büschen verschwunden. Ich starre auf den Beutel und frage mich, ob das nur ein weiterer Test ist. Soll ich hineinschauen und riskieren, dass irgendetwas explodiert, oder soll ich das Ding einfach liegen lassen und davongehen?
Der Beutel ist klein und aus einem groben braunen Material genäht, das keinerlei Ähnlichkeit mit dem Stoff unserer Taschen hat, die wir vom Commonwealth für die Prüfung zugeteilt bekommen haben oder die ich in der Ausrüstungskammer für die Auslese gesehen habe. Ich denke über den Mann nach, der ihn mir zugeworfen hat. Seine Kleidung war ordentlich, wenn auch ausgeblichen. Die Haut des Fremden war tief gebräunt und wettergegerbt, und seine Muskeln schienen von harter Arbeit gestählt. Er erinnerte mich eher an meinen Vater als an irgendeinen der Offiziellen, mit denen ich bislang Kontakt hatte.
Wer also war dieser Mann? Einer der Renegaten, die Michal im Haus von Magistratin Owens erwähnt hat? Im Geschichtsunterricht haben wir gelernt, dass es nach Ende des Siebten Stadiums des Krieges verschiedene Meinungen darüber gab, wie man das Land wieder revitalisieren könnte. Diejenigen, die überlebt hatten, stritten sich um das beste Vorgehen: Sollten alle Überlebenden wieder unter einer zentralen Regierung zusammengefasst werden, oder sollte jede Gruppe die Freiheit haben, sich einen eigenen Weg zu suchen? Diejenigen, die mit der Entscheidung der Mehrheit nicht einverstanden waren, versuchten, ihr Glück selbst in die Hand zu nehmen. Ist es vielleicht denkbar, dass der Mann, den ich gerade gesehen habe, einer dieser Überlebenden ist, der sich für eine Existenz außerhalb des Machtbereiches des Vereinigten Commonwealth entschieden hat? Wenn das stimmen würde, warum sollte er mir dann etwas über den Zaun werfen, der das Territorium des Vereinigten Commonwealth begrenzt?
Nach einigen Minuten siegt meine Neugierde. Ich öffne den Beutel und hoffe, im Innern einen Hinweis auf die Identität des Mannes zu finden. Stattdessen sehe ich dort einen Laib Brot, ein kleines Stück weißen Käse, eine Tüte Rosinen und eine Flasche Wasser. Vorsichtig schraube ich den Deckel auf und schnuppere daran. Es riecht klar und rein. Einige Tropfen meiner Chemikalien bestätigen meinen Eindruck.
Grübelnd betrachte ich die Gegenstände in meinen Händen. Es kommt mir wie ein Segen vor, dass fast wie von Zauberhand Wasser aufgetaucht ist, nachdem all unsere Vorräte zur Neige gegangen sind. Aber ich kann die Nahrungsmittel nicht mit meinen Begleitern teilen. Jedenfalls nicht, ohne Fragen über die Herkunft von Essen und Wasser heraufzubeschwören. Wenn ich nur mit Tomas unterwegs wäre, würde ich einfach sein Erkennungsarmband abmachen. Will jedoch weiß nichts über die Lauschvorrichtung in unseren Bändern, und wir kennen uns noch nicht lange genug, dass ich seine Reaktion darauf abschätzen könnte. Vielleicht verplappert er sich vor unseren Überwachern und macht damit den einzigen Vorteil zunichte, den wir im Augenblick auf unserer Seite haben – ganz zu schweigen davon, dass die Prüfer auf diese Weise erfahren könnten, dass wir Hilfe von außerhalb des Zauns erhalten haben. Unwillkürlich frage ich mich, was die Strafe für diese Art von Hilfe wäre und ob auch andere Kandidaten sich mit diesen Überlegungen plagen, weil sie ebenfalls dem grauhaarigen Mann begegnet sind.
Da ich nicht weiß, was ich sonst tun soll, fülle ich einen Teil des frischen, klaren Wassers in eine meiner Flaschen um und verstaue beide Behälter und den Beutel in meiner Tasche. Ich werde mir später überlegen, wann ich meinen Freunden am besten etwas davon abgeben kann.
Zurück in unserem Lager fache ich das heruntergebrannte Feuer neu an und häute das Kaninchen, während ich weiterhin über meine Begegnung nachgrüble. Wer war der Mann bloß? Im bisherigen Verlauf der Prüfung habe ich erfahren, dass viele andere Kolonien weitaus schlechter mit Nahrung versorgt sind als wir in Five Lakes. Warum also teilt der grauhaarige Mann sein Essen und sein Wasser mit einem ihm unbekannten Mädchen? Weiß er, warum ich auf der anderen Seite des Zauns bin? Weiß er, dass es noch mehr von uns hier draußen in den verseuchten Ebenen gibt? Ahnt er, dass einige von uns diese Prüfung nicht überleben werden? Als das Kaninchen durchgebraten ist und ich meine Begleiter wecke, habe ich noch immer keine Antwort gefunden.
Will gerät beim Anblick des brutzelnden Fleisches ganz aus dem Häuschen und wippt auf seinen Fußballen auf und ab. Er erinnert mich an meinen Bruder Hamin am Weihnachtstag, und ich frage mich, ob es diese Ähnlichkeit ist, die mich dazu bringt, ihm so viel Vertrauen entgegenzubringen.
Niemand wundert sich über die Menge des Wassers in der Flasche, während wir frühstücken, zusammenpacken und uns auf den Weg zurück zur Straße machen. Da wir alle satt geworden sind, fühle ich mich nicht mehr ganz so schlecht wegen der versteckten Nahrungsmittel in meiner Tasche. Aber ich merke, dass ich mich immer wieder zurückfallen lasse und beim Laufen mit den Augen den Grenzzaun absuche, ob ich irgendwo eine Spur des Mannes entdecke, der mir die Vorräte zugeworfen hat.
Nach zehn Meilen versuchen wir immer noch, Wasser aufzutreiben, haben aber immerhin einen Baum entdeckt, der kleine, harte Äpfel trägt. Wir stopfen unsere Taschen damit voll und schieben auch noch einige wilde Karotten dazu, die ich in der Nähe finde. Dann ziehen wir weiter. Nach fünf Meilen fange ich an zu vermuten, dass jede Wasserquelle in der Gegend nicht nahe genug an der Straße liegt, um von dort aus entdeckt zu werden. So leicht wollen es die Prüfer uns offenbar nicht machen.
Der Boden beiderseits der Fahrbahn ist fest und eben, was mich auf die Idee bringt vorzuschlagen: »Ich denke, einer von uns sollte ein Fahrrad nehmen und weiter entfernt von der Straße nach Wasser suchen. Wer immer diese Aufgabe übernimmt, kann ein viel weitläufigeres Gebiet absuchen und wieder zurückkommen, ehe es Zeit wird, unser Lager aufzuschlagen.«
»Das mache ich«, bietet Will an.
Tomas lehnt das Angebot sofort ab. »Sei nicht böse, Will, aber wer sagt, dass du uns nicht im Stich lässt und versuchst, auf schnellstem Weg die Ziellinie zu überqueren, sobald du erst mal auf einem unserer Fahrräder sitzt?«
»Du hast recht, das könnte ich tatsächlich tun.« Will lächelt. Sein Ton ist freundlich, aber in seinen Augen flackert etwas Dunkles, Zorniges auf. »Ich würde so etwas zwar niemals machen, aber ich verstehe, dass du unter den gegebenen Umständen meinem Wort nicht vertraust. Anders als deine Freundin übrigens. Ich vermute jedoch, dass du mich auch nicht mit ihr allein lassen willst, während du dich umsiehst.«
»Da liegst du ganz richtig.« Tomas’ Mund verzieht sich zu einem Lächeln, aber mir entgehen seine geballten Fäuste rechts und links von seinem Körper nicht. »Auf keinen Fall werde ich Cia mit irgendjemandem allein lassen. Nicht einmal mit dir.«
Will bleibt stehen. Seine Augen sind kalt. Auch er ballt die Hände zu Fäusten. »Tja, Tomas, und was jetzt?«
Ehe Tomas etwas erwidern kann, mische ich mich ein: »Jetzt könnt ihr beiden Idioten gerne hierbleiben und die letzten Tropfen Wasser aus eurem Körper schwitzen, während ich mich nach etwas Trinkbarem umsehe.« Auch wenn ich mich schärfer geäußert habe, als ich es eigentlich beabsichtigt hatte, bereue ich meine Worte nicht. Will und Tomas scheinen drauf und dran zu sein, sich zu prügeln, und obwohl ich dankbar bin, dass Tomas auf mich aufpassen will, ist seine Macho-Nummer in Anbetracht der Umstände völlig unpassend. Selbst mit der versteckten Flasche Wasser in meiner Tasche schwinden unsere Überlebenschancen mit jeder Meile, die wir zurücklegen, ohne dabei auf eine Wasserquelle zu stoßen.
Ich nehme die fast zur Neige gegangene Flasche heraus, werfe sie Tomas zu und sage: »Ich werde etwa zehn Meilen vorausradeln, ein paar Fallen aufstellen und dann schauen, ob ich abseits der Straße Trinkwasser entdecke. Ich werde an der Straße in der Nähe der Fallen eine Markierung hinterlassen, falls ihr vor mir dort ankommt. Versucht mal, euch wie Erwachsene zu benehmen, während ich damit beschäftigt bin, uns alle am Leben zu erhalten. Wenn ihr das nicht schafft, dann verdient ihr einer wie der andere, bei diesem Test durchzufallen, und wir wissen ja wohl alle, was die Strafe dafür sein wird.«
Ich schwinge mein Bein über den Rahmen des Fahrrads und trete in die Pedale. Tomas ruft mir hinterher, ich solle warten, aber ich kehre nicht um. Die beiden sollen ihre Differenzen unter sich ausmachen. Einen kurzen Moment lang macht mir die Tatsache, dass sie beide Waffen haben, Sorgen, aber ich verdränge meine Befürchtungen und radele einfach weiter. Mein Ärger verblasst nach und nach, während ich mich immer mehr von meinen Freunden entferne. Dieser Teil der Prüfung ist dafür gedacht, dass wir etwas über das Land erfahren, das wieder nutzbar gemacht werden muss, aber er ermöglicht den Offiziellen auch einen tiefen Einblick in unsere Psyche. Ja, die Jungs sind gerade übers Ziel hinausgeschossen, aber ich habe ebenfalls überreagiert. Ich bin alles andere als stolz darauf, aber immerhin habe ich eben erfahren, dass ich nicht nur aufbrausend sein kann, sondern mich auch Hals über Kopf in Gefahr begebe, nur um zu beweisen, dass ich recht habe. Vielleicht muss auch ich noch ein bisschen erwachsener werden.
Ein Blick auf den Transit-Kommunikator verrät mir, dass ich schon zehn Meilen zurückgelegt habe. Ich steige ab, binde ein kleines Stück Laken an einen Busch am Straßenrand, entferne mich gute fünfzehn Meter davon und stelle mehrere Fallen. Als ich diese Aufgabe erledigt habe, radele ich durch Staub, Gras und Geröll Richtung Nordwesten, um nach Wasser zu suchen.
Die Sonne brennt heiß auf mich herab, während ich mich umsehe. Die Luft ist feucht und drückend. Wenn wir Glück haben, wird es bald regnen. Ich bin dankbar für die versteckte Flasche in meiner Tasche, als ich kreuz und quer über den aufgesprungenen Boden holpere. Noch immer ärgere ich mich so sehr über die beiden Jungen, dass ich ein Stückchen Käse und etwas Brot esse, ohne ein schlechtes Gewissen dabei zu haben.
Irgendwann steige ich vom Fahrrad ab und laufe zu Fuß weiter, um den Boden besser nach Tierspuren absuchen zu können. Die anderen Kandidaten der Auslese und ich sind hier schließlich nur auf der Durchreise, aber die Tiere halten sich das ganze Jahr über in diesem kargen Landstrich auf. Um zu überleben, müssten sie eigentlich verborgene Wasserquellen aufgespürt haben. Ich entdecke etwas, das wie die Fährte eines Waschbären aussieht, und folge der Spur nach Westen. Nach ungefähr drei Meilen will ich schon aufgeben, als ich etwa zweihundert Meter nördlich eine kleine Senke entdecke. Das Gras rings um diese Mulde sieht einen Hauch gesünder aus als das braune, knisternde Gestrüpp, durch das ich mich die ganze Zeit gekämpft habe, und meine Hoffnung wächst, als ich wieder auf mein Rad steige und hinabfahre, um mich ein wenig genauer umzusehen. Ich bin sehr froh über meinen Entschluss. Die Vertiefung, die mir aufgefallen ist, entpuppt sich als Ufer eines seichten Bachs. Nach einigen Tests und der Zugabe der richtigen Chemikalien kann ich meine Wasserflaschen auffüllen. Ich bin müde, aber in Hochstimmung, als ich zu meinem Rad zurückstapfe, einen Blick auf den Kompass werfe und mich auf den Rückweg mache.
Ich bin so zufrieden mit meiner Ausbeute, dass ich gar nicht mitbekomme, wie sich hinter mir etwas bewegt, und als ich es schließlich doch bemerke, bleibt mir gerade noch genug Zeit, meine Pistole aus dem Seitenfach meiner Tasche zu ziehen, ehe mein Fahrrad auch schon von der Seite gerammt wird, sodass ich zu Boden stürze.
Ich krieche unter meinem Rad hervor und sehe ein Tier, das gerade erneut zum Sprung ansetzt, und rolle mich nach rechts. Was auch immer das für ein Vieh ist, es stößt ein lautes Fauchen aus, als es nach dem Satz auf dem Boden gelandet ist. Nur einen Wimpernschlag später ist es wieder aufgesprungen und setzt zu einem abermaligen Angriff an. Dieses Mal reagiere ich nicht schnell genug. Ich schreie auf, als sich die Klauen der Kreatur tief in meinen linken Arm graben. Ich weiß nicht, was für ein Tier mich da angreift, aber mir ist klar, dass ich es diesmal nicht so einfach abhängen kann. Selbst wenn ich es schaffen würde, wieder auf mein Rad zu steigen, wäre es mehr als zweifelhaft, dass ich etwas so Schnellem davonfahren könnte. Das Tier faucht, als ich mich aus seinem Griff befreie, aufrappele und losrenne, um etwas Distanz zwischen uns zu bringen. Dann drehe ich mich wieder um und strecke meinen Arm mit der Pistole in der Hand aus, als das Biest erneut einen Sprung auf mich zu macht. Während ich ziele, kann ich es mir auch endlich genauer ansehen. Es hat lange Hinterläufe, die mit bräunlichem Zottelfell bedeckt sind. Die armähnlichen Vorderbeine, die sich nach mir ausstrecken, enden in Klauen mit mehr als fünf Zentimeter langen Krallen, die, wie ich bereits schmerzlich erfahren habe, rasiermesserscharf sind. Sein Rücken ist bucklig. Die Lippen sind hochgezogen und geben den Blick frei auf schwärzliche Zahnstummel. Oberkörper und Rücken des Viehs sind ebenfalls braun behaart. Und die Augen …
Mein Finger betätigt den Abzug, und durch den Rückschlag der Waffe verliere ich fast den sicheren Stand. Die Augen meines Angreifers weiten sich. Zorn und zugleich Furcht sind in ihnen zu lesen, während rotes Blut aus der kreisrunden Wunde in der Brust quillt. Mein Gegenüber stürzt zu Boden und stößt mit seinem letzten Atemzug einen Schrei aus, der wie ein Hilferuf klingt.
Vielleicht war es auch genau das. Denn jetzt, da ich in die dunkelblauen Augen meines Angreifers blicke, sehe ich, dass es gar kein Tier ist. Die Augen sind viel zu intelligent. Sie ähneln viel zu sehr denen, die mir aus einem Spiegel entgegenblicken. Der Körper mag verkrüppelt und deformiert sein, aber es gibt gar keinen Zweifel.
Ich habe gerade ein menschliches Wesen getötet.
Doch mir bleibt keine Zeit, mich den Gefühlen zu stellen, die mich zu überrollen drohen, denn ich höre irgendwo rechts von mir Rufe, die wie eine Antwort klingen. Sie kommen von der Wasserstelle, was auch naheliegt. Wenn ich mir in diesem Ödland eine Stelle als Zuhause aussuchen müsste, dann würde sich dieser Ort genau hier befinden. Mein Arm brennt wie Feuer. Das Blut läuft an ihm herunter, aber mir bleibt keine Zeit, mich um meine Verletzung zu kümmern. Nicht jetzt, da die kehligen Laute anderer mutierter Menschen näher kommen.
Ich sprinte zu meinem Fahrrad, reiße es vom Boden hoch und schwinge mich in den Sattel, als drei weitere Mutierte mit langen Klauen an der Böschung auftauchen. Meine Beine strampeln, um an Tempo zu gewinnen, und ich weiß genau, in welchem Augenblick die anderen ihren Kameraden finden, den ich getötet habe. Ein Schrei ertönt, der so voller Schmerz über den Verlust ist, dass ich blinzeln muss, um die Tränen zurückzuhalten. Dann geht der Schrei in ein Knurren über, und mir ist klar, dass die Neuankömmlinge mich entdeckt und die Verfolgung aufgenommen haben.
Sie sind viel schneller als ich. Welche Chemikalien es auch gewesen sein mögen, die ihre Körper verkrüppelt und ihre Finger zu Krallen haben wachsen lassen, sie haben ihnen auch zu unglaublicher Schnelligkeit verholfen. Beim Rennen beugen sie ihren Oberkörper vor. Ihre langen Arme hängen fast bis auf den Boden. Ihre viel zu intelligenten Augen sind starr auf mich gerichtet. Der Anblick der drei Verfolger, die immer weiter aufholen, ist erschreckend. Schweiß strömt meinen Körper hinunter und brennt in der Wunde an meinem Arm, während ich wie besessen den Hang hinaufstrampele. All die Jahre, in denen ich mit meinen älteren und schnelleren Brüdern gespielt habe, machen sich jetzt bezahlt; denn sie haben mich gelehrt, dass ich von der Spitze eines Hanges aus die besten Möglichkeiten habe, mich zu verteidigen.
Je näher meine Verfolger kommen, desto lauter wird ihr Knurren. Und da ist noch etwas. Etwas, das menschlicher klingt – Worte. Keine, die ich verstehe, aber die einzelnen Laute sind zu klar zu unterscheiden, und sie klingen zu bedeutungsvoll, als dass sie etwas anderes sein könnten. Die drei verständigen sich mithilfe von Sprache und kommunizieren, um ihren Angriff zu koordinieren. Auch ich überlege mir eine Strategie.
Von der Hitze, dem Blutverlust und der Anstrengung, die es bedeutet, diesen Hang hinaufzugelangen, wird mir schwindlig. Die Welt verschwimmt vor meinen Augen, und mein Herz hämmert laut und heftig in meiner Brust. Ich weiß, dass ich sterben werde, wenn ich auch nur einen einzigen Moment lang das Tempo drossele. Das allein treibt mich dazu an, immer weiter in die Pedale zu treten. Das letzte Stückchen bergauf erhebe ich mich aus dem Sattel, beuge mich etwas nach vorn und setze meine gesamte Körperkraft ein, um höher, höher und noch höher zu gelangen. In derselben Sekunde, in der ich oben angekommen bin, springe ich ab, lasse das Fahrrad scheppernd zu Boden fallen, wirbele herum und ziele.
Einen Moment lang zögert mein Finger am Abzug, während ich meine drei Verfolger den Hügel herauf auf mich zukommen sehe. Meine Kehle wird eng, als ich höre, wie sie sich gegenseitig ihre gutturalen Laute zurufen. Ich straffe meine Schultern und richte meine Pistole auf den linken der drei. Das Trio ist schon ganz nah, uns trennen kaum mehr als zwanzig Meter. Trotzdem schieße ich nicht, denn ich will sie nicht töten. Sie sind menschlich. Vielleicht sind sie nicht die gleiche Art Mensch wie ich, aber wir stammen von denselben Vorfahren ab. Alles, was ich von Kindheit an gelernt habe, verlangt danach, einen Weg zu finden, wie ich mit ihnen Kontakt aufnehmen und ihnen helfen kann.
Stattdessen betätige ich den Abzug.
Der eine Verfolger ganz rechts umklammert sein Bein und fällt mit einem Aufschrei zu Boden. Der mittlere dreht sich um und will sich um seinen gestürzten Kameraden kümmern. Da schieße ich noch einmal. Dieses Mal treffe ich einen Körper, und der zweite Angreifer sackt zusammen. Der letzte stößt einen ohrenbetäubenden Laut aus und galoppiert mit gefletschten Zähnen den Hang herauf. Ich sehe, dass ihm Tränen übers Gesicht laufen, dann durchschlägt meine Kugel seinen Schädel.
Der letzte ist tot. Die beiden anderen sind so verletzt, dass sie liegen bleiben, aber ich weiß nicht, wie lange. Ein Teil von mir will den Toten begraben, so wie ich es mit der Prüfungskandidatin getan habe, die wir gefunden hatten, aber dafür bleibt mir jetzt keine Zeit. Ich muss weg von hier, ehe die anderen beiden sich aufrappeln können oder noch weitere Mitglieder ihrer Sippe ihnen zu Hilfe kommen. Stolpernd steige ich wieder auf mein Rad und fahre davon. Die Tränen, die mir beinahe die Sicht nehmen, bemerke ich kaum.
Bergab zu fahren ist leichter, aber noch immer strömt Blut aus meiner Wunde. Ich schaue sie mir nicht genauer an, denn ich habe Angst vor dem, was ich da zu sehen bekommen werde. Ich strampele weiter und lasse mich zwischendurch rollen, bis ich die Straße entdecke. Dort angekommen, kann ich mich kaum noch auf den Beinen halten, geschweige denn in die Pedale treten. Ich setze mich auf den harten, heißen Asphalt, hole endlich mein Erste-Hilfe-Set heraus und reiße mein Oberteil so weit auf, dass ich leichter an die Wunden herankomme. Die fünf parallelen Schlitze in meinem Arm sind zwar nicht allzu tief, aber ausgefranst und mehr als zehn Zentimeter lang. Schlimm, ja, aber nicht so schlimm, wie ich befürchtet habe. Es schmerzt zwar, aber ich kann meinen Arm trotzdem noch bewegen. Weder die Muskeln noch irgendwelche Sehnen sind betroffen, und mir wird ganz flau vor Erleichterung.
Manchmal schwären die Kratzer von Tieren, wenn man sie nicht richtig behandelt. Obwohl mein Angreifer menschlich war, säubere ich sorgfältig jeden Zentimeter der aufgerissenen Haut und trage die Desinfektionssalbe dick auf. Ein entsetzliches Brennen strahlt von der Wunde in alle Richtungen aus. Meine Augen tränen, und meine Nase läuft. Ich kann mich weder um das eine noch um das andere kümmern, denn mit der Hand meines unverletzten Armes wickele ich einen Verband um die Wunde. Als ich damit fertig bin, kämpfe ich mich mühsam in mein zweites Oberteil. Der Stoff verfängt sich an meinem Erkennungsband, und ich frage mich kurz, ob die Leute, die zuhören, aufgeregt geworden sind, als sie die Pistolenschüsse hörten. Glauben sie, dass ich einen anderen Kandidaten ausgeschaltet habe? Steige ich jetzt in ihrem Ansehen und stärke meinen Ruf als potenzielle Anführerin? Haben sie mitbekommen, dass ich verletzt bin? Interessiert sie das alles überhaupt?
Mein Körper will nichts lieber, als einfach sitzen zu bleiben, aber ich stehe langsam auf, verstaue meine Tasche auf dem Gepäckträger meines Fahrrads und werfe einen Blick auf den Transit-Kommunikator. Ich habe heute mehr als fünfundvierzig Meilen zurückgelegt. Will und Tomas sind irgendwo auf der Straße weiter östlich. Und sie brauchen dringend das Wasser, das ich gefunden habe. Ihr Überleben, das weiß ich, hängt davon ab, dass ich in die Pedale trete. Und wenn ich ehrlich mit mir selbst bin, dann habe ich noch ganz andere, weniger noble Gründe dafür, so schnell wie möglich umzudrehen. Ich habe Angst vor dem Alleinsein. Angst davor, mich mit den Dingen auseinanderzusetzen, die mit der Dunkelheit kommen werden. Angst davor, mich meinem eigenen Gewissen zu stellen, nun da ich menschliches Leben ausgelöscht habe.
Vielleicht aber wird mir nichts anderes übrig bleiben. Als das Sonnenlicht schwächer wird, zittern meine Beine. Ich esse den Rest des Brots und ein paar Rosinen, trinke Wasser und überprüfe erneut die Koordinaten auf dem Kommunikator, um abzuschätzen, wie lange es wohl noch dauert, bis ich wieder bei Will und Tomas bin. Wenn sie ebenfalls haltgemacht haben, um nach Nahrung und Wasser zu suchen, dann könnten sie noch meilenweit entfernt sein. Viel zu weit also, um sie noch zu erreichen, ehe der Himmel schwarz wird.
Meine Muskeln sind schwer. Ich suche die Hänge rechts und links der Straße nach einem Platz zum Übernachten ab und halte Ausschau nach einem unauffälligen Platz, der mich verbirgt, von dem aus ich jedoch trotzdem einen guten Blick auf die Straße habe, falls Tomas und Will auch in der Dunkelheit noch weiterlaufen. Zwei Meilen später sehe ich einige Bäume, vielleicht Eichen oder Ulmen, die gute fünfzig Meter weg von der Straße in der Nähe des Grenzzaunes stehen. Ich befestige ein Stück vom weißen Laken an einem Zweig und stecke ihn als Markierung in den Boden. Wenn Tomas und Will das sehen, werden sie wissen, dass ich irgendwo ganz in der Nähe bin.
Die Blätter an den Bäumen sind zwar braungelb, aber die Äste und Zweige sehen ganz gesund aus. Vielleicht würde ich auf dem Boden bequemer schlafen, aber ich beschließe, auf einen der Bäume zu klettern und zu hoffen, dass ich dort in einer stabilen Astgabel einen Platz für die Nacht finden werde. Natürlich wird das nur gehen, wenn mein linker Arm kräftig genug ist, mich hochzuziehen. Ich verstecke mein Fahrrad inmitten von hohem braunem Gras und beschließe, es zu versuchen. Als ich hochspringe und einen niedriger hängenden Ast zu fassen bekomme, brennt mein linker Arm ganz entsetzlich. Ich beiße mir auf die Lippen, um nicht laut aufzuschreien, aber ich lasse nicht los. Stattdessen knirsche ich mit den Zähnen, ziehe mich hoch und klettere so hinauf, wie es mir meine Brüder beigebracht haben.
Der Baum, den ich mir ausgesucht habe, hat ein kräftiges Geäst. Ich finde eine Stelle, von der gleich mehrere dicke Äste abgehen, und lasse mich dort nieder, den Rücken gegen den Stamm gelehnt. Es ist nicht gerade das gemütlichste Bett aller Zeiten, aber ich bin mir immerhin ziemlich sicher, dass ich nicht hinunterfallen werde, falls ich es wirklich schaffen sollte, in dieser Nacht zu schlafen. Der Mond kommt heraus. Ich sehne mich nach der Hand meiner Mutter, damit sie mir heute Nacht übers Haar streicht, wie sie es immer getan hat, wenn ich krank war. In Gedanken bin ich zu Hause, aber die Augen halte ich fest auf die Straße gerichtet, für den Fall, dass Tomas und Will weitergelaufen sind.
Irgendwann während dieser Wache muss ich jedoch trotzdem eingeschlafen sein.
Hände greifen nach mir. Krallen graben tiefe Furchen in meinen Arm. Anstatt unverständliche Worte zu brabbeln, ruft die Person, die ich erschieße, meinen Namen. Tränen strömen aus ihren intelligenten Augen, während sie mich bittet, Mitleid zu haben. Doch das habe ich nicht. Ich schieße und töte wieder und wieder.
Als ich mit einem Ruck aus dem Schlaf fahre, ist mein Gesicht nass von Tränen. Mein Herz beruhigt sich ein bisschen, als ich begreife, dass ich nicht mehr auf dem Hang stehe. Da sind keine schmerzerfüllten Augen, die mich mit ihren ersterbenden Blicken anklagen. Ich bin ganz allein.
Der Mond scheint noch immer, aber der graue Schimmer am Horizont verrät mir, dass der Tag bald anbrechen wird. Ich spähe zur Straße und sehe meine behelfsmäßige Fahne am Rand stehen. Tomas und Will sind nicht in Sicht.
Mein verletzter Arm protestiert, sobald ich auf meinem Ast herumrutsche und mich an den Abstieg machen will. Als ich meine Füße auf den Boden aufsetze, sind die Schmerzen kaum mehr zu ertragen, und ich schlucke einige Tabletten, ehe ich die Risse in meiner Haut noch einmal säubere. Die Wunden sehen nicht schlimmer als am Vortag aus, woraufhin ich mich gleich besser fühle. Ich trage eine weitere Schicht Salbe auf und erneuere mühsam den Verband. Ein dumpfer Aufprall hinter mir jagt mir einen solchen Schreck ein, dass mir beinahe das Herz stehen bleibt, und ich springe auf, meine Pistole fest umklammert. Hektisch sehe ich mich nach der Quelle des Geräuschs um und entdecke sie: Auf dem Boden in der Nähe des Zauns liegt ein weiterer dunkelbrauner Beutel, der ganz genauso aussieht wie der, den ich gestern zugeworfen bekommen habe. Dieses Mal zögere ich nicht, sondern öffne ihn gleich: Wasser. Zwei Äpfel. Ein Brotlaib und Käse. Außerdem etwas, das wie ein Stück gebratenes Huhn aussieht. Kein Zettel. Kein Hinweis auf meinen Wohltäter, nur das Essen und das Wasser. Beides lässt wieder Hoffnung in mir aufkeimen.
Mein Frühstück besteht aus dem Stück Huhn und einem Apfel. Ich fühle mich gestärkt nach der Mahlzeit, schiebe die Überreste in meiner Tasche ganz nach unten und breche auf. Die Schmerzmittel machen meine Verletzung erträglich. Zwar tut mein Arm noch immer weh, aber ich kann es aushalten. Ich ziehe meine Markierungsflagge wieder aus dem Boden, steige auf mein Rad und fahre Richtung Osten, um meine Freunde zu suchen.
Zwei Meilen die Straße hinauf finde ich sie endlich. Sie sehen erschöpft aus, sind aber am Leben. Schon aus einiger Entfernung kann ich sehen, wie sich Tomas’ Miene aufhellt, als er mich kommen sieht. Mein Herz quillt über vor Liebe, als ich mit dem Rad die Straße entlangjage, anhalte, abspringe und mich in Tomas’ ausgebreitete Arme werfe. Sein Mund findet meinen, und eine Minute lang vergesse ich, dass Will noch neben uns steht. Ich gebe mich voll und ganz dem Gefühl hin, am Leben und verliebt zu sein. Als mir unser Freund wieder einfällt, löse ich mich aus der Umarmung, laufe zu Will, gebe ihm einen Kuss auf die Wange und reiche ihm eine Flasche mit frischem Wasser.
»Siehst du, Tomas. Ich habe dir doch gesagt, dass es ihr gut geht und dass sie Wasser finden wird.« Will nimmt mehrere Schlucke aus der Flasche und wirft mir ein Lächeln zu. »Deine Schlingen wirken Wunder. Zwei Eichhörnchen und so etwas wie ein mutierter Fuchs haben sich darin verfangen. Zu blöd, dass deine Fallen mich nicht mit Rädern versorgen können. Aber so ist das nun mal, oder?«
»Darüber habe ich nachgedacht«, sage ich, während Tomas den Verband bemerkt, von dem ein Stück unter meinem Hemd hervorlugt.
»Was ist denn passiert?« Sanft nimmt er meinen Arm und schiebt den Ärmel hoch, woraufhin die ganze Länge der verbundenen Stelle deutlich wird. »Ist alles in Ordnung mit dir?«
»Ja, mir geht es gut«, sage ich. »Es hat sich herausgestellt, dass ich mich nicht als Einzige für die Wasserquelle interessiert habe, auf die ich gestoßen bin.« Ohne ins Detail zu gehen, erzähle ich ihnen, was zu meinen Verletzungen geführt hat und wie ich gerade so eben von dem Bach entkommen bin. Tomas stellt einige Fragen, die ich so knapp wie möglich beantworte. Kein einziges Mal erwähne ich, dass ich von einer Art Mensch angegriffen wurde, und ich lasse auch das Trio aus, das mich verfolgt hat, nachdem ich einen ihrer Freunde getötet hatte. Damit würde ich nur Fragen provozieren, die ich nicht beantworten will, vor allem nicht, da wir von Offiziellen belauscht werden.
Als ich fertig bin, frage ich die beiden, wie es ihnen ergangen ist. Den Blicken nach zu urteilen, die Tomas und Will austauschen, ist irgendetwas gründlich schiefgelaufen.
»Was ist denn los? Seid ihr auch in Schwierigkeiten geraten? Ich hatte solche Angst, dass ihr nicht genug Wasser habt, um den Tag zu überstehen.«
Tomas blickt zur Seite, als Will berichtet: »Wir beide haben uns ziemlich angeschrien, nachdem du weg warst. Vielleicht haben wir uns auch ein bisschen herumgeschubst. Dann aber haben wir beschlossen, unsere Differenzen erst mal beiseitezuschieben und lieber wieder aufzubrechen. Gegen Mittag ist das Wasser endgültig zur Neige gegangen. Außerdem sind wir einem anderen Kandidaten über den Weg gelaufen.«
»Wem denn?«, frage ich aufgeregt und schaue die Straße hinunter. Mein Herz schlägt schneller. »Jemandem, den wir kennen?«
Will schüttelt den Kopf. »Einem Typen aus der Colorado-Springs-Kolonie. Er war nicht gerade begeistert, uns zu sehen, aber er war eigentlich ganz in Ordnung, oder, Tomas? Er hat uns sogar etwas von seinem Wasser abgegeben.«
Tomas zuckt schweigend mit den Schultern.
»Wo ist er denn jetzt?« Es überrascht mich nicht, dass Tomas nicht bereit war, die Reise gemeinsam mit einem anderen Prüfling fortzusetzen, aber jetzt ist uns jemand auf den Fersen, der genau weiß, wo wir gerade stecken. Unwillkürlich macht es mir Angst, dass ich mir kein eigenes Bild von dem Jungen und seiner Einstellung habe machen können.
Will trinkt noch einen Schluck Wasser und runzelt die Stirn. »Ich habe versucht, Tomas davon zu überzeugen, dass der Bursche sich uns anschließen kann, aber er war nicht bereit, irgendjemandem zu trauen. Wir haben uns vor ungefähr fünfzehn Meilen getrennt. Er sah ganz schön müde aus. Ich schätze, er wollte sich ein bisschen ausruhen. Vermutlich wird er uns nicht so bald einholen.«
Wills Lächeln ist bemüht. Tomas weicht meinen Blicken aus. Beide Verhaltensweisen bestätigen, was mir mein Bauchgefühl schon längst verraten hat. Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht. Auf meine nächsten Fragen bekomme ich nur kurze, ausweichende Antworten, und ich würde zu gerne wissen, welche Geheimnisse sich hinter Tomas’ und Wills Schweigen verbergen.
Ich reiche Tomas eine volle Wasserflasche und verstaue die leere, die Will mir zurückgibt, in meiner Tasche. Dann setzen wir uns wieder in Bewegung. Will sagt zu uns, dass er es verstehen würde, wenn wir lieber mit den Rädern fahren wollten, aber ich schlage vor, dass wir doch noch eine Weile zusammenbleiben. Nach meinem gestrigen Zusammenstoß mit den Einheimischen bin ich froh über den Schutz, den mir Tomas und Will bieten. Spät am Nachmittag entdecken wir rechts von uns in der Ferne ein paar Gebäude. Vermutlich die Überreste einer kleinen Stadt.
»Also, das ist meine Chance«, sagt Will, und ein flüchtiges Lächeln huscht über sein Gesicht. »Wenn ich hier irgendetwas mit Rädern darunter finde, werde ich euch bis morgen Nacht eingeholt haben. Wenn nicht, tja, dann sehen wir uns wohl erst hinter der Ziellinie wieder. In Ordnung?«
Tomas rät Will, er solle vorsichtig sein, und steigt auf sein Fahrrad. Sein Lächeln lässt keinen Zweifel an seinen Gefühlen. Er ist froh, dass er Will erst mal los ist. Will gibt mir die Hälfte des gebratenen Fleisches von gestern und umarmt mich zum Abschied. Er zieht mich nah an sich und flüstert mir zu: »Pass auf, was hinter deinem Rücken geschieht, Cia. Dein Freund ist nicht der tolle Kerl, der er zu sein vorgibt. Ich versuche, so schnell wie möglich wieder zu euch aufzuschließen. Bis dahin sei sehr, sehr vorsichtig.«
Ich will ihn fragen, was er damit sagen will und was er gesehen hat. Was er und Tomas getan haben, dass jetzt so ein Schatten auf ihren Gesichtern liegt. Aber dazu bleibt mir keine Zeit mehr, denn Will biegt von der Straße ab und steuert auf die in einiger Entfernung liegenden Gebäude zu. Nun, welches Geheimnis die beiden Jungs auch vor mir verbergen wollen, ich werde es lüften.
Tomas ist nicht in Gesprächslaune, als wir in Richtung Südwesten losradeln. Die hohe Geschwindigkeit, die er vorlegt, verrät mir, dass er versucht, so weit wie möglich von Will wegzukommen, ehe die Nacht hereinbricht. Vielleicht versucht er aber auch, sich rasch von dem zu entfernen, was zwischen den beiden vorgefallen ist, während sie allein waren. Ich muss mich sehr anstrengen, mit ihm mitzuhalten, und hänge oft zurück. Mein Arm pocht, und mein ganzer Körper verlangt dringend nach einer Pause, aber ich halte nicht an, bis das Blau des Himmels langsam in Grau übergeht.
Ich hole gerade das gebratene Fleisch heraus, da sagt Tomas: »Der Mond scheint heute heller als in den letzten Nächten. Wahrscheinlich könnten wir sogar noch ein bisschen weiterfahren, wenn du das schaffst.«
»Warum denn? Ich meine: Ich will diesen Teil der Prüfung natürlich auch möglichst schnell hinter mich bringen, aber du benimmst dich, als würde uns irgendetwas verfolgen.« Verkrüppelte Klauen schieben sich vor mein geistiges Auge. Ich versuche, die Erinnerung abzuschütteln, und frage: »Was ist passiert, während ich weg war?«
»Nichts.« Tomas zuckt mit den Schultern. »Sieh mal, wir haben viel Zeit im Straßenlabyrinth verloren, und wer weiß, was sich unsere lieben Ausleseprüfer noch alles haben einfallen lassen, um uns unterwegs aufzuhalten. Ich denke, wir sollten versuchen, schnell voranzukommen, solange es geht.«
Inhaltlich hat er sicherlich recht, aber sein unbekümmerter Tonfall steht in deutlichem Widerspruch zu seinen fest zusammengepressten Kiefern und der Art und Weise, wie er die Hände neben seinem Körper zu Fäusten ballt und sie wieder öffnet. In diesem Augenblick sehe ich es. Einen braunen Streifen auf dem Griff seines Messers.
Getrocknetes Blut.
Mir dreht sich fast der Magen um, als ich an den anderen Kandidaten denke, mit dem Will und er zusammengestoßen sind. An die Fragen, die Tomas mir nicht beantworten wollte. Wills Warnung, dass Tomas nicht so sei, wie es den Anschein hat. Ich versuche, die aufsteigende Angst zu verdrängen, und sage mir, dass ich Tomas jetzt schon seit Jahren kenne. Er ist freundlich und fürsorglich. Vermutlich stammt das Blut von einem Tier, das er mit dem Messer gehäutet und ausgenommen hat. Und selbst wenn nicht, gibt es sicher einen anderen vernünftigen Grund für den Fleck. Das sollte ich schließlich am besten wissen. Ich sollte Tomas einfach darauf ansprechen und so meine Sorge ein für alle Male loswerden.
Aber ich tue es nicht. Ich esse mein Fleisch und ein bisschen Klee, trinke etwas Wasser und steige wieder auf mein Rad. Erst nach weiteren fünf Meilen machen wir endgültig halt für diesen Tag.
Wir schlagen unser Lager auf, und Tomas beharrt darauf, dass wir abwechselnd Wache halten. Nach meinen Erfahrungen am Bach habe ich keine Einwände. Er übernimmt die erste Schicht und stellt sich neben einen Baum. Im Mondlicht kann ich sehen, dass er sich Tränen wegwischt. Mein erster Instinkt ist, zu ihm zu gehen, doch ich weiß, dass er glaubt, ich würde schon schlafen. Seine Trauer gehört nur ihm. Mein Herz ist schwer, weil er seinen Schmerz und den Grund dafür nicht mit mir teilen will. Aber wie könnte ich etwas dagegen einwenden? Auch ich habe meine Geheimnisse. Geheimnisse, die mich gegen den Schlaf ankämpfen lassen. Und als ich die Schlacht schließlich verliere, suchen mich diese Geheimnisse in meinen Träumen heim.
Tomas weckt mich aus einem Traum voller Schüsse und blutiger Messer. Er küsst mich und fragt, ob mit mir alles in Ordnung sei. Das ist es nicht, aber ich lächele ihn an und sage, dass ich mich an meinen Traum nicht mehr erinnern könne. Noch mehr Geheimnisse. Da ich nun wach bin, schlage ich ihm vor, er solle sich ein bisschen ausruhen, während ich die nächste Schicht übernehme. Ich setze mich neben denselben Baum, den er sich auch ausgesucht hatte, doch statt die Straße zu beobachten, starre ich auf den Grenzzaun und warte, ob da jemand erscheint. Es kommt keiner.
Als der Morgen beginnt, steigen wir auf unsere Fahrräder und machen uns auf den Weg.
Obwohl Tomas einige Stunden geschlafen hat, sind seine Augen rot und müde. Meine Versuche, ein Gespräch mit ihm zu beginnen, ignoriert er mehr oder weniger, und wenn er etwas sagt, dann geht es nur darum, dass er sich Sorgen um Nahrung und Wasser macht. Ich gebe mein Bestes, um optimistisch zu bleiben, als endlich eine Brücke in Sicht kommt, die in hohem Bogen zu einer weiteren Stadt führt. Mein Mund wird trocken vor Angst. Schon wieder ein Test?
Die Brücke führt einige Meilen über Land, ehe sie einen breiten Fluss überspannt. Von weiter oben sieht das Wasser sauberer aus als alles, was wir bislang im Prüfungsgebiet gesehen haben. Dieser Fluss muss von einer Kolonie nördlich von hier gereinigt worden sein.
Unglücklicherweise ist die Brücke, die uns auf die andere Seite führt, viel höher als erwartet, sodass das Wasser verführerisch nah ist und doch außer Reichweite bleibt. Die einzige Möglichkeit, an das Wasser zu gelangen, besteht darin, das lange Stück zum Anfang der Brücke zu radeln. Vielleicht ist das der Sinn des Auslesetests: Die Prüfer wollen sehen, ob wir erkennen, dass es mehr Aufwand bedeutet, an das Wasser zu kommen, als einfach nach einer anderen Quelle zu suchen. Allerdings dürfte das einem verzweifelten Kandidaten ziemlich egal sein. Ich bin froh, dass wir nicht so verzweifelt sind.
Am Ende der Brücke werden wir von einem Teich mit weitaus weniger glitzerndem, aber, meinen Tests nach zu urteilen, trinkbarem Wasser belohnt. Weiter weg, vielleicht zwei oder drei Meilen entfernt, wartet die Stadt. Nach unserer letzten mühsamen Tour durch die Straßen sind wir uns unserer schwindenden Vorräte durchaus bewusst. Selbst mit meinem Geheimvorrat an Nahrung können wir nicht länger als ein paar Tage überleben.
Tomas würde nur zu gerne vor dem, was hinter ihm liegt, davonlaufen, doch er schlägt vor: »Warum übernachten wir nicht hier? Wir können uns waschen und vielleicht auch irgendein Wildtier erlegen, bevor wir uns in die Stadt wagen.«
Ich stimme sofort zu und überlasse es Tomas, die Wasserflaschen zu füllen und mit den Reinigungschemikalien zu behandeln. Währenddessen breche ich in südwestliche Richtung auf, stelle Fallen und suche nach anderen frischen Lebensmitteln. Mehrere hundert Meter entfernt entdecke ich ein kleines Wäldchen, wo ich meine Schlingen auslege und mich nach Wurzeln und Grünpflanzen umsehe. Ich grabe gerade einige wilde Karotten aus, als ich eine Bewegung im bewaldeten Gebiet jenseits des Grenzzaunes wahrnehme. Der Mann mit dem grauen Haar taucht hinter einem hohen Busch auf. Er nähert sich dem Zaun und winkt mich heran. Ohne groß darüber nachzudenken, lege ich meine Tasche auf einen Baumstumpf und entferne mein Erkennungsarmband, das ich oben auf meinen Sachen ablege. Dann laufe ich die fünfzig Meter bis zum Zaun und frage mich währenddessen, was das Schicksal wohl diesmal für mich bereithält.