Kapitel 21
Der Raum ist klein und weiß. Weiße Wände, weißer Fußboden. Keine Fenster. An einer Seite befindet sich ein langer schwarzer Tisch, an dem fünf Offizielle aufgereiht sitzen. Zwei sind hellrot gekleidet, drei purpurfarben. Einer von ihnen ist Dr. Barnes.
»Bitte, komm herein, Cia, und nimm Platz«, sagt er.
In der Mitte des Raums befindet sich ein einzelner schwarzer Stuhl mit der Sitzfläche zu den Prüfern. Daneben steht ein kleiner schwarzer Tisch, darauf ein Glas, das mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt ist.
»Bitte trink doch etwas.«
Alle Augenpaare folgen mir, während ich den Raum durchquere und mich setze. Dr. Barnes nickt, als ich nach dem Glas greife, und unterstreicht damit, dass seine freundliche Aufforderung in Wahrheit ein Befehl ist. Es gibt keine andere Wahl, als die Flüssigkeit zu trinken.
Ich schmecke Wasser und noch etwas anderes. In meinem Mund bleibt ein metallischer, leicht bitterer Nachgeschmack zurück. Beinahe augenblicklich merke ich, wie sich meine verkrampften Muskeln lockern. Nachdem ich so lange wachsam gewesen bin, fühlt sich die Entspannung in meinen Gliedern wundervoll an. Ich merke, dass ich unwillkürlich lächele, und schließe daraus, dass dem Wasser mehr als ein muskellockerndes Mittel beigefügt sein muss. Was auch immer sie mir gegeben haben, es bewirkt ein euphorisches und überwältigendes Gefühl von Wohlbefinden.
»Ein Wahrheitsserum.« Die Worte verlassen meinen Mund im gleichen Augenblick, in dem ich sie denke.
Dr. Barnes nickt. »Heute bist du die erste Kandidatin, die von selbst darauf kommt und nicht von mir darauf hingewiesen werden muss.«
»Vielleicht haben die anderen auch nur zu viel Angst auszusprechen, was ihnen auffällt.« Wieder sind die Worte draußen, ehe ich sie noch einmal überdenken kann.
Dr. Barnes lacht. »Die Möglichkeit besteht selbstverständlich. Deshalb geben wir euch ja diese Droge. Sie soll euch dabei helfen, euren Körper und euren Geist zu entspannen. Wir wissen, wie belastend dieses Gespräch für euch ist, und wir wollen vermeiden, dass eure Anspannung verhindert, uns euer wahres Ich kennenlernen zu lassen.«
Der erste Anfall von Euphorie legt sich, und dieses Mal denke ich nach, ehe ich zugebe: »Ich bin mir nicht ganz im Klaren, was mein wahres Ich ist.«
»Wir sind hier, um das herauszufinden. Erzähl uns von deiner Familie, Cia.«
Meine Familie. Ich hole tief Luft und lege mir meine Antwort sorgfältig zurecht. Dass ich innehalten und nachdenken kann, bevor ich etwas sage, erkläre ich mir damit, dass die Flüssigkeit aus dem Fläschchen des grauhaarigen Mannes die volle Wirkung des Wahrheitsserums abmildert. Jetzt muss ich dem Ausschuss die Antwort geben, die seine Mitglieder haben wollen. Ganz sicher wissen alle, dass meine Eltern noch leben und ich Brüder habe. Was also wollen sie hören?
Ich beschließe, mich kurz zu fassen, und zähle meine Familienmitglieder auf. Ein anderer Offizieller will einiges über die Five-Lakes-Kolonie erfahren, und ich gebe nach bestem Wissen und Gewissen Auskunft. Dann konzentrieren sich die Fragen auf meinen Vater – was er mir beigebracht und was er mir von seinen eigenen Erfahrungen während der Auslese erzählt hat. Ich gebe zu, dass er sagte, er erinnere sich nur an sehr wenig. »Aber er hat mich davor gewarnt, dass es Kandidaten geben könnte, die sehr ehrgeizig sind.«
Aus meinen Erwiderungen erwachsen neue Fragen, und obwohl meine Muskeln gelockert sind, bleibt mein Geist wachsam genug, um nichts preiszugeben, was meine Familie in Gefahr bringen könnte. Dr. Barnes erwähnt, er habe gehört, mein ältester Bruder sei bei einigen Projekten meines Vaters federführend gewesen. Als er wissen will, ob ich finde, er hätte ebenfalls für die Universität infrage kommen müssen, zögere ich nicht. Ich lüge.
»Mein Vater versucht immer, alle seine Mitarbeiter für die Projekte, an denen sie arbeiten, zu loben, ob es gerechtfertigt ist oder nicht. Ich liebe Zeen sehr, aber er macht seine Sachen schlampig und verdient es eigentlich nicht, dafür besonders hervorgehoben zu werden.«
Ich bin froh, diese Klippe umschifft zu haben, als auch schon die nächsten in Sicht kommen. Wieder drehen sich die Fragen um meinen Vater. Wollte er, dass seine Kinder in seine Fußstapfen treten? War er aufgeregt, weil man mich für die Auslese ausgesucht hatte? Ich antworte knapp und verpacke alles so positiv wie möglich. Weder erwähne ich Dads Albträume, noch wie niedergeschlagen er war, ehe ich nach Tosu-Stadt abreiste. Ich sage nichts, was die Offiziellen auf die Idee bringen könnte, einen weiteren Gedanken an meinen Vater und seine Erinnerungen an die Zeit während der Auslese zu verschwenden.
Dann wendet sich das Gespräch der Auslese selbst zu.
Warum habe ich Brick meinen Verdacht mitgeteilt, dass Roman uns hintergeht?
Alles andere hätte mich zu einem schlechten Teammitglied gemacht.
Welche Gründe hatte ich, ein mir unbekanntes totes Mädchen zu begraben?
Meine Eltern haben mir beigebracht, alles Leben mit Respekt zu behandeln.
Habe ich zu irgendjemandem außerhalb des Grenzzauns rings um das Testgebiet Kontakt aufgenommen?
Nein.
Wie sehe ich meine Entscheidung, Will zu vertrauen?
Es war ein Fehler, sich auf Will zu verlassen. In Zukunft werde ich eine klügere Wahl treffen.
Während ich antworte, bin ich mir Dr. Barnes’ prüfender Blicke ständig bewusst, und ich lege jedes Wort auf die Goldwaage.
Als er schließlich wieder an der Reihe ist, fordert er mich auf: »Erzähl uns etwas über deine Beziehung zu Tomas Endress.«
Ich bin überrascht. Vorsichtig beginne ich: »Wir zwei sind enge Freunde. Er sagt, er würde mich lieben, aber ich denke, das liegt daran, dass ich ihn an zu Hause erinnere.«
»Ganz sicher empfindest du doch ebenfalls mehr als nur freundschaftliche Gefühle für Tomas Endress. Warum sonst hättest du dein Leben aufs Spiel setzen und dir die Zeit nehmen sollen, ihn zu retten?«
Ich beiße mir auf die Unterlippe und zerbreche mir den Kopf, was Dr. Barnes wohl hören will. Schließlich sage ich: »Meine Familie hat mich gelehrt, anderen Menschen um jeden Preis zu helfen. So machen wir das in der Five-Lakes-Kolonie.«
Dr. Barnes beugt sich vor. »Denkst du, es war eine kluge Entscheidung, so viel Zeit zu opfern, um dein Fahrrad umzubauen, damit du das Leben von Tomas Endress retten kannst?«
»Es hat funktioniert«, entgegne ich. »Wir beide haben überlebt.«
»Ja. Das habt ihr.« Er lächelt. »Aber ich mache mir Sorgen, du könntest zu sehr am Kandidaten Endress hängen.«
Sein wohlmeinender Ton kann die Drohung hinter seinen Worten nicht übertünchen. Selbst die Offiziellen, die neben Dr. Barnes sitzen, rutschen unruhig auf ihren Stühlen herum. Die Stille zwischen uns wiegt schwer, und ich bekomme kaum noch Luft. Ich muss irgendetwas sagen, obwohl er gar keine Frage gestellt hat. Aber ohne zu wissen, was hinter seiner Frage steckt, gibt es keine Chance, die richtige Antwort zu finden. Und irgendetwas sagt mir, dass diese Antwort die wichtigste von allen ist.
Schließlich wird das Schweigen unerträglich, und ich räume ein: »Ich glaube, ich verstehe die Frage nicht richtig.«
»Eine emotionale Verstrickung kann in solchen Situationen zum Problem werden. Was zum Beispiel wird passieren, wenn du für die Universität ausgewählt wirst, Tomas Endress jedoch nicht?«
Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. »Dann werde ich mich für mich freuen und enttäuscht sein, weil das Prüfungskomitee Tomas’ Potenzial nicht erkannt hat. Er ist klug und einfallsreich. Das Vereinigte Commonwealth würde davon profitieren, wenn er die Chance bekäme, die Universität zu besuchen.«
»Müssen wir uns Sorgen machen, dass deine Enttäuschung Auswirkungen auf deine Leistungen an der Universität haben könnte?«
Was soll ich auf diese Frage antworten? Meine Gedanken rasen. Was auch immer ich sage, wird nicht nur mein zukünftiges Leben beeinflussen, sondern auch das von Tomas. Zu sagen, dass es mir egal wäre, wäre eine leicht zu durchschauende Lüge. Immerhin hat Dr. Barnes selbst darauf hingewiesen, dass ich Tomas’ Leben gerettet habe, indem ich mein eigenes riskiert habe. Das Wahrheitsserum, das sie mich haben trinken lassen, ist dazu gedacht, jede Lüge unmöglich zu machen. Wenn ich ihnen jetzt also ganz offensichtlich nicht die Wahrheit sage, dann werden sie wissen, dass irgendetwas schiefgelaufen ist, und sich nach dem Grund dafür fragen. Ich widerstehe dem Drang, mir meine schweißnassen Handflächen an der Hose abzuwischen, und zwinge mich dazu, mich zu konzentrieren.
Mir fällt nur eine Antwort ein: »Alle Anführer werden irgendwann an einen Punkt kommen, an dem sie eine Enttäuschung verkraften müssen. Wenn für mich der Moment jetzt schon da ist, dann freue ich mich darüber natürlich nicht, aber ich werde mein Bestes geben, das Commonwealth nicht zu enttäuschen.«
Die anderen Offiziellen wechseln Blicke, während ich abwarte, was Dr. Barnes als Nächstes einfällt. Er mustert mich eindringlich und rollt dabei seinen Bleistift auf der Tischplatte vor sich hin und her. Ich bewege mich nicht und halte stumm den Augenkontakt. Jemand im Raum hustet. Ein anderer räuspert sich. Dies sind die einzigen Geräusche, während die Minuten verstreichen.
Endlich sagt Dr. Barnes: »Ich denke, wir haben alle Informationen bekommen, die wir brauchen. Oder hat einer meiner Kollegen noch eine Frage?«
Alle Offiziellen am Tisch schütteln die Köpfe, was mich vollkommen durcheinanderbringt. Dr. Barnes hat uns gesagt, die Evaluation könnte fünfundvierzig Minuten dauern. Ich bezweifle, dass mehr als zwanzig Minuten vergangen sind, seitdem ich diesen Raum betreten habe. Die Prüfer haben mein Abschneiden während der ersten beiden Tests mit keinem Wort erwähnt und auch nur eine Handvoll Fragen zum vierten Prüfungsabschnitt gestellt. Bedeutet ihr offensichtliches Desinteresse, dass ich durchgefallen bin? Vermutlich, denn jetzt schieben sie ihre Stühle zurück. Ich will sie bitten, noch zu warten, damit ich ihnen erklären kann, dass Menschen, die sich das Vertrauen anderer erschleichen, um es dann zu enttäuschen, keine Anführer werden sollten. Dass ich zwar nicht mehr das Mädchen bin, das davon geträumt hat, eines Tages nach Tosu-Stadt berufen zu werden, dass ich aber trotzdem an die Universität zugelassen werden sollte. Nicht, weil ich Teil des Systems werden will. Ich denke, darauf lege ich gar keinen Wert. Jetzt nicht mehr. Sie sollen mich zur Universität schicken, weil ich die Chance bekommen möchte zu leben.
Ehe ich ansetzen kann, sagt Dr. Barnes: »Bevor du gehst, will ich dich fragen, ob du noch etwas von uns wissen willst.«
Dies ist meine Gelegenheit, sie zu beeindrucken. Jetzt kann ich etwas fragen, das ihnen zeigt, wie aufmerksam ich alles beobachtet habe. Oder ich kann meine Fähigkeit, selbstständig zu denken, unter Beweis stellen. Doch obwohl ich weiß, dass dies der Moment ist, in dem ich glänzen kann, ist die Versuchung viel zu groß, eine wichtige Informationslücke zu schließen. Vielleicht liegt es daran, dass wir zuvor über die Five-Lakes-Kolonie und den engen Zusammenhalt in unserer Gemeinschaft gesprochen haben. Vielleicht liegt der Grund darin, dass Will sich die Zeit genommen hat, den Namen des Mädchens herauszufinden, das er getötet hat. Die Chancen, dass ich eines Tages wieder nach Hause zurückkehren kann, stehen schlecht. Aber wenn eine der beiden Tabletten, die Tomas aus dem Krankenhaus mitgebracht hat, mir helfen kann, mein Gedächtnis zu bewahren, dann will ich Malachis Familie von seiner Zeit bei der Auslese erzählen können. Ich will in der Lage sein, seinen Angehörigen zu sagen, wie er gestorben ist. Und Zandri verdient es nicht minder.
Anstatt also meine möglichen Studienfächer anzusprechen oder zu fragen, wie mein Leben an der Universität aussehen würde, erkundige ich mich: »Was ist Zandri Hicks im vierten Prüfungsteil zugestoßen – wie ist sie gestorben?«
Ein Hauch von einem Lächeln umspielt Dr. Barnes’ Lippen, dann lacht er kurz. »Und ich dachte, du hättest es längst herausgefunden. Vielleicht fällt dir die Antwort selbst ein, wenn der Evaluationsprozess vorbei ist. Schließlich hast du doch ihr Erkennungsband in deiner Tasche.«
Er sieht auf seine Uhr und seufzt. »Hiermit schließe ich dieses Gespräch. Ich gratuliere dir, dass du so weit gekommen bist, Cia. Es war eine Freude, dir dabei zuzusehen.«
Ich werde aus dem Raum geführt, ehe ich fragen kann, was es mit Zandri und ihrem Erkennungsband auf sich hat. Meine Beine drohen unter mir nachzugeben, während ich neben einem Offiziellen über den Flur gehe. Dies scheint eine typische Reaktion auf die Droge oder auch auf den Stress zu sein, denn mein Begleiter legt mir wortlos einen Arm um die Hüfte, während er mich in mein Schlafquartier führt. Dann ist er fort, und ich bin allein mit meiner Angst, versagt zu haben, und mit Dr. Barnes’ Abschiedsworten, die ich nicht mehr aus dem Kopf bekomme.
Zandri.
Dr. Barnes glaubte, ich wüsste bereits, was ihr zugestoßen ist. Wie hätte ich das herausbekommen sollen? Ich habe sie im Prüfungsgebiet nicht ein einziges Mal zu Gesicht bekommen. Es gibt daher gar keine Möglichkeit, wie ich an ihr Erkennungsband gekommen sein sollte.
Ich schütte meine Tasche auf dem Bett aus und suche nach einem Hinweis auf das, was ich angeblich schon weiß. Nun liegt meine Kleidung vor mir, der Transit-Kommunikator, mein kleines Messer. In einer Ecke der Tasche hatte sich ein Stück vom weißen Laken verfangen. Aber alle anderen Hinweise darauf, dass der vierte Test jemals stattgefunden hat, sind verschwunden. Abgesehen von den drei kleinen Erkennungsarmbändern, die im Seitenfach verstaut sind.
Meine Fingerspitzen fahren das Muster auf dem ersten nach. Ein Dreieck und ein Rad mit acht Speichen. Dieses Identifikationszeichen habe ich dem Mädchen abgenommen, das wir begraben haben. Dem Mädchen, das Will mit seiner Armbrust getötet hat. Dem Mädchen, dessen Name ich jetzt kenne – Nina. Einem Mädchen aus der Pierre-Kolonie, das hierhergekommen war, um sich einer Prüfung zu unterziehen, und das vom Vereinigten Commonwealth umgebracht wurde. Will war es, der den Abzug betätigt hat, aber die Offiziellen haben zugelassen, dass so etwas geschieht. Wie viele Kandidaten haben im Laufe der Jahre gemordet, um selbst am Leben zu bleiben? Und wie viele weitere mussten sterben, um dem Prüfungskomitee dabei zu helfen, eine Auswahl zu treffen?
Der Gedanke macht mich wütend. So sehr, dass ich einen Augenblick brauche, ehe ich mich an die beiden anderen Erkennungsbänder in meiner Tasche erinnere. Von einem der beiden hat Dr. Barnes behauptet, es würde meine Frage beantworten. Ich lege Ninas Armband zur Seite und studiere die übrigen zwei. Auf dem einen ist Romans Symbol zu sehen – ein X, umgeben von einem Kreis. Auf dem anderen, kleineren Armband befindet sich ein Dreieck mit einer stilisierten Blume. Ich denke zurück an unsere Fahrt nach Tosu-Stadt. Zandri flirtete mit Tomas, während ihre Finger an ihrem Armband herumspielten. Einem Armband mit diesem Symbol. Ich erinnere mich nicht daran, dass ich dieses Armband eingesteckt habe. Woher stammt es bloß?
Ich gehe die Ereignisse des vierten Tests Tag für Tag durch. Der Marsch durch die zerstörte Stadt, die einst Chicago war. Die wunderschöne, aber verminte Oase. Ninas blickloser Leichnam. Die bulligen, wolfsähnlichen Tiere, die uns verfolgten. Das Zusammentreffen mit Stacia, Vic und Tracelyn. Die Stadt mit dem Kuppeldachgebäude und dem Straßenlabyrinth. Der Bach, an dem ich gezwungen war zu töten. Will. Bricks Kugeln, die die mutierten Menschen in Stücke rissen. Romans Angriff. Das Mädchen, das so kurz vor dem Ende noch auf uns gefeuert hat. Will, der auf Tomas schießt. Mein verzweifelter Versuch, das Fahrrad umzubauen, um Tomas zurück nach Tosu-Stadt zu schaffen. Die Fahrt.
Moment mal. Meine Finger spielen mit Zandris Armband herum, als mich plötzlich die Erkenntnis trifft. Die Erinnerung an einen kurzen Augenblick, der neben Wills Verrat und Tomas’ Wunde, aus der das Blut unablässig in den Boden sickerte, so unbedeutend schien. Ich brauchte Streichhölzer, um ein Feuer anzuzünden, weshalb ich Tomas’ Tasche in der Dunkelheit durchsuchte und dabei auf das Metallband stieß. Ich glaubte, dies sei das Erkennungszeichen von Ninas Tasche gewesen, das Tomas als Erinnerung an sie mitgenommen hatte.
Aber ich hatte mich getäuscht. Das Armband gehörte Zandri.
Wie konnte es in Tomas’ Tasche geraten?
Während der dreieinhalb Wochen, die es gedauert hat, diesen vierten Test zu absolvieren, waren Tomas und ich nur anderthalb Tage lang getrennt gewesen. War es möglich, dass er das Armband gefunden hatte, während er durch die Straßen von Chicago geirrt war? Wenn das der Fall gewesen war, warum hatte er mir denn dann nichts davon erzählt? Wollte er vor mir verheimlichen, dass für Zandri die Prüfung bereits vorbei gewesen war, obwohl sie doch gerade erst begonnen hatte? Befürchtete er, ich würde glauben, ein solch bitteres Ende sei auch für mich unvermeidlich?
Vielleicht. Tomas hätte sich bestimmt Sorgen um mich gemacht. Ganz sicher hätte er gewollt, dass ich mich konzentrieren kann und auf mich aufpasse. Aber ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich die Lösung für dieses Rätsel ist. Es gab noch einen anderen Zeitpunkt, an dem Tomas und ich getrennt waren. Und da weiß ich es.
Das Armband.
Das getrocknete Blut an Tomas’ Messer.
Der qualvolle Ausdruck in seinen Augen.
Wills Behauptung, dass Tomas nicht der sei, für den ich ihn halte.
Der Kandidat, den Will und Tomas trafen, während ich fort war.
Das war kein namenloser Junge aus der Colorado-Springs-Kolonie.
Es war Zandri.
Plötzlich fügt sich alles mit einer Klarheit zusammen, die mir die Luft zum Atmen raubt. Ich kann mich nicht bewegen. Ich kann gar nichts tun, außer das Armband zu umklammern, das dem hübschen Mädchen gehörte, dessen Talent einst jeder in der Five-Lakes-Kolonie bewunderte. Dem Mädchen, das mit Tomas flirtete. Dem Mädchen, das er getötet haben muss.
Nein. Mein Herz will das einfach nicht glauben. Tomas würde niemals jemanden umbringen, es sei denn, ihm wäre keine andere Wahl geblieben. Will und Tomas waren zusammen, als ich mich auf die Suche nach Wasser machte. Wäre es nicht viel wahrscheinlicher, dass es Will – erwiesenermaßen ein Mörder – war, der Zandri getötet hat? Ob es Zank gegeben hatte? Möglicherweise …
Die verschiedenen Erklärungsversuche geraten in meinem Kopf durcheinander. Die Kombination völlig entgegengesetzter Drogen, die ich zu mir genommen habe, macht es schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Ich stehe auf und laufe durch den Raum, während ich das Armband in meiner Hand anstarre und versuche, die Wahrheit dahinter zu ergründen. Aus tiefstem Herzen will ich mir einreden, dass Tomas nichts mit dem Mord an Zandri zu tun hat. Aber seine Unwilligkeit, mir zu erzählen, was an jenem Tag wirklich geschehen ist, lässt mich etwas anderes glauben.
Das Gefühl, verraten worden zu sein, Furcht, Zorn und Liebeskummer – die Emotionen schlagen plötzlich unaufhaltsam über mir zusammen. Meine Knie knicken unter mir weg, und ich lasse mich auf den Boden sinken. Aber ich weine nicht. Noch immer ist über mir in der Decke eine Kamera versteckt, und ich will Dr. Barnes und den Offiziellen am Bildschirm nicht die Befriedigung geben, mich zusammenbrechen zu sehen. Und sind nicht überhaupt sie diejenigen, die ich eigentlich für Zandris Tod verantwortlich machen muss? Es ist ihr Spiel, das wir spielen und überleben mussten. Was auch immer Tomas getan hat – ich bin mir sicher, dass er sich nicht dafür entschieden hat, um sich einen Platz an der Universität zu sichern. Er muss überzeugt davon gewesen sein, dass sein Leben in Gefahr war.
Als es an die Tür klopft, springe ich mit einem Satz auf. Ich öffne sie, nehme ein großes Tablett mit Speisen entgegen und lasse mir sagen, dass das Komitee noch immer tage. Der Offizielle geht wieder, und ich höre, wie das Türschloss verriegelt wird. Dann fängt für mich das Warten an.
Das Essen ist üppig und ausgefallen. Ein großes Steak, das außen knusprig und innen rosig und saftig ist. Es liegen Kartoffelspalten auf dem Teller – von der Sorte, die Zeen gezüchtet hat –, die mitsamt ihrer Schale goldbraun gebraten wurden. Kalte Garnelen sind mit winzigen Limettenscheiben garniert und säumen ein kleines Töpfchen mit ausgelassener Butter. Ein Salat aus frischem Gemüse und Walnüssen ist mit einer würzigen, süßlichen Vinaigrette angerichtet. In einem am Rand gefrosteten Glas perlt ein klares Getränk. Auch eine Karaffe mit Wasser und ein Stückchen Kuchen befinden sich auf dem Tablett.
Dies ist ein Festschmaus, mit dem ich feiern soll, dass ich es bei der Auslese so weit gebracht habe. Niemals in meinem Leben war mir weniger nach Feiern zumute.
Die Kamera über meinem Kopf bringt mich dazu, das Steak anzuschneiden. Ganz sicher ist es ein Genuss, doch ich schaffe es nur mit Mühe, die Stücke zu kauen und runterzuschlucken, ohne zu würgen. Ich trinke einen Schluck von der prickelnden Flüssigkeit, stelle das Glas aber sofort wieder hin. Alkohol. Das gleiche Getränk, das Zeen mir bei meiner Abschlussfeier gebracht hatte, um mich aufzumuntern. Damals schmeckte es bitter vor Enttäuschung. Heute schmeckt es nach zu Hause.
Ich trinke das Wasser und nippe dazwischen immer wieder am Alkohol, um Zeen nahe zu sein. Auch vom Salat koste ich, lasse den Kuchen jedoch stehen. Bei der Vorstellung zu feiern, während ich Zandris Erkennungsarmband in der Hand halte, wird mir ganz übel. An der untergehenden Sonne merke ich, wie viel Zeit vergangen ist. Ich beobachte, wie die letzten Strahlen verschwinden, und frage mich, ob das Komitee seine Entscheidung getroffen haben wird, ehe morgen die Sonne wieder aufgeht.
Ein Offizieller holt das Tablett ab. Erneut höre ich deutlich, wie die Tür wieder zugeschlossen wird. Da nur der Mond mir Gesellschaft leistet, schleppen sich die Minuten schier endlos dahin. Ich denke an Zandri und Malachi. Ich gehe jeden Augenblick meines Abschlussgesprächs noch einmal durch, beleuchte jedes Wort von allen Seiten und frage mich, ob ich mit meinen Antworten bestanden habe oder durchgefallen bin. Zusammengerollt, meine Tasche eng an mich gepresst, schlafe ich ein.
Mit dem Morgen kommt auch ein neues Tablett. Noch immer ist keine Entscheidung getroffen worden. Der Offizielle sagt mir, ich solle Geduld haben. Nachdem er mich wieder allein gelassen hat, beginne ich rastlos, im Zimmer auf und ab zu laufen.
Tabletts werden gebracht und wieder weggeschafft. Keine Neuigkeiten.
Ich rekapituliere meine Tage während der Auslese und suche nach einem Hinweis darauf, was Tomas nur dazu getrieben haben könnte, Zandris Leben zu beenden, aber ich finde nichts. Sicherlich war Zandri draufgängerisch und eigenwillig, aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie Will oder Tomas angegriffen haben könnte. Sie war doch mit Tomas befreundet. Vielleicht war sie sogar ein bisschen in ihn verliebt. Und jetzt ist sie tot. Wenn ich wach bin, quälen mich meine Gedanken so sehr, dass ich immer öfter versuche, im Schlaf Vergessen zu finden. Doch auch dort warten Dr. Barnes und die Prüfer auf mich. Nacheinander richten sie darüber, wie sich die toten Kandidaten geschlagen haben.
Ryme. Nina. Malachi. Boyd. Gill. Annalise. Nicolette. Roman. Zandri.
Die Leichen liegen aufgetürmt in einer Ecke, als sich die Mitglieder des Prüfungsausschusses im Traum mir zuwenden. Dr. Barnes schüttelt den Kopf. Er sagt mir, ich hätte so vielversprechend angefangen. Zu dumm, dass ich den falschen Leuten vertraut hätte. Anführer können sich diese Art von Fehlern nicht leisten. Er sagt mir, ich sei durchgefallen, dann greift ein anderer Offizieller nach seiner Armbrust, zielt und schießt. Der Bolzen durchschlägt meinen Magen, und ich wache von meinem eigenen Schrei auf, ehe ich auf den Fußboden falle.
In einem Raum eingesperrt zu sein und keinen anderen menschlichen Kontakt zu haben als die Offiziellen, die mir meine Mahlzeiten bringen, zerrt an meinen Nerven. Stundenlang laufe ich hin und her, dann sitze ich weitere Stunden auf dem Bett und stiere die Wände an, während ich versuche, die Prüfer mit der Kraft meiner Gedanken dazu zu zwingen, endlich eine Entscheidung zu fällen. Aber nichts passiert, und irgendwo im Hinterkopf frage ich mich, ob nicht auch das ein Test ist. Sitzen Dr. Barnes und seine Freunde an einem Bildschirm und sehen uns dabei zu, wie wir zurechtkommen? Tigern auch andere Kandidaten in ihren Quartieren herum? Sprechen meine Albträume gegen mich, oder wäre ein ungestörter Schlaf ein Anzeichen für eine gleichgültige Verfassung, die keinesfalls erwünscht wäre?
Ich starre zur Kamera hinauf, und es ist mir völlig egal, ob ich den Offiziellen damit verrate, dass ich von ihnen weiß. Vielleicht aber will ich auch gerade, dass sie es erfahren. Sie sollen wissen, dass ich schlau genug war herauszufinden, dass man uns beobachtet. Da ich nicht mehr schlafen kann, denke ich über die Kandidaten nach, die gestorben sind, und das Löschen unserer Erinnerungen, das kommen wird, wenn Tomas und mir nicht irgendetwas einfällt, um es zu verhindern. Zum ersten Mal frage ich mich, ob die Prüflinge, die in den ersten beiden Runden der Auslese versagt haben, umgebracht wurden oder ob ihnen das Commonwealth einfach nur ihre Erinnerungen an dieses Experiment genommen hat. Im Laufe der letzten hundert Jahre ist die Bevölkerung des Vereinigten Commonwealth angewachsen, aber ist sie wirklich genug gestiegen, um jedes Jahr Dutzende der vielversprechendsten Mitglieder töten zu können? Und wenn die erfolglosen Kandidaten nicht sterben mussten, wohin wurden sie dann gebracht?
Nachdem ich mein Morgentablett in Empfang genommen habe, bin ich die Augen, die mich beobachten, und die Ohren, die meine Schreie beim Aufwachen belauschen, leid. Ich lächele kurz fürs Publikum in die Kamera, dann mache ich mich an meinem Armband zu schaffen, finde den Verschluss und lasse es von meinem Handgelenk aufs Bett fallen, wo es jetzt neben denen von Zandri und Nina liegt. Auch das zweite Erkennungsband, das an meiner Tasche befestigt ist, entferne ich, lege es zu den restlichen, nehme meine Tasche und schließe mich im Badezimmer ein.
Das Gefühl, allein zu sein – wirklich allein –, löst die Verkrampfung in meinen Schultern. Ich nehme eine Dusche, dann rolle ich mich auf dem Fußboden zusammen und döse ein wenig. Da ich sonst nichts zu tun habe, schaue ich mir die Sachen aus meiner Tasche an, die ich von zu Hause mitgebracht habe. Kleidung, die meine Mutter genäht hat, und Dinge, die mein Vater einst in den Händen hielt oder mit denen meine Brüder gearbeitet haben. Dinge, die mir dabei helfen herauszufinden, wer ich mal gewesen bin. Nun, wo ich nicht länger fürchten muss, beobachtet und beurteilt zu werden, lasse ich meinen Tränen freien Lauf. Jeden einzelnen Gegenstand betaste ich, schmiege meine Wange daran und versuche, die Spuren des Mädchens zu finden, das diese Tasche vor wenigen Wochen gepackt hat. Ich vermisse das Gefühl der Hoffnung, von dem es erfüllt war. Seinen Optimismus. Die strahlende Zukunft, die es vor sich glaubte. Wenn ich Tomas’ Pille nicht mehr rechtzeitig bekommen und schlucken kann, wird die Löschung meines Gedächtnisses dann diese junge Frau, die ich einst war, zurückbringen? Werden sich die Schatten wirklich von meinem Herzen heben, wenn ich meine Erinnerungen einbüße? Vielleicht. Einen Moment lang gebe ich mich dem Verlangen nach solcher Unbekümmertheit hin, nach friedlichen Träumen und einer Zukunft, die von der Last befreit ist, die mit zu viel Wissen einhergeht.
Beim Klang einer männlichen Stimme schrecke ich zusammen und sehe mich hektisch um, woher sie kommt. Ich brauche eine Minute, ehe mir klar wird, dass sie aus dem Gerät stammt, das ich mit meinen Händen umklammere.
»Das Erdreich in Sektor vier zeigt Anzeichen von Fruchtbarkeit und ist beinahe frei von Strahlung. Die neue chemische Formel scheint ihre Wirkung zu entfalten.«
Zeen. Seine Stimme ist kräftig und gesund und so wunderbar vertraut. Mein Herz schmerzt vor Sehnsucht. Anscheinend habe ich einen Knopf gedrückt, sodass Zeens aufgenommene Stimme abgespielt wurde. Der Transit-Kommunikator ist also auch ein Rekorder.
»Ich muss Dad sagen, dass es in Sektor sieben kranke Tiere gibt. Vielleicht liegt das an den Beeren, die wir dort gezüchtet haben. Wir sollten Tests machen.«
Ich erinnere mich daran, wie wir beim Abendessen über dieses Problem sprachen, ungefähr eine oder vielleicht auch zwei Wochen vor meinem Schulabschluss. Mein Vater und meine Brüder stritten, lachten und diskutierten bis spät in die Nacht hinein, und auch ich durfte meine eigenen Ideen zu dem Problem beisteuern. Wie erwachsen ich mich an jenem Abend fühlte, wie eingebunden! Ich glaubte, ich wäre bereit, in die Welt hinauszugehen. Wie dumm ich doch in Wahrheit war!
Eine Weile bin ich zufrieden damit, der Stimme von Zeen zu lauschen, der seine Gedanken zu den Sektionen außerhalb von Five Lakes festhält, in denen mein Vater und sein Team an der Revitalisierung arbeiten. Ein verärgerter Ausruf bringt mich zum Lachen. Wenn Zeen meinen Vater oder meine Brüder erwähnt, kommen mir die Tränen. Und ich frage mich: Wie mag dieses Aufnahmegerät funktionieren? Ich weiß, dass der Kommunikator Kontakt mit dem Empfänger herstellen kann, den Dad in seinem Büro hat, aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass Dad etwas von einer Doppelfunktion als Rekorder erwähnt hätte.
Es dauert eine ganze Weile, bis ich den Knopf entdecke. Da ist eine kleine Stelle auf der Rückseite, die aussieht, als gehöre sie zum Gehäuse, die aber zu etwas anderem umgebaut wurde. Zu etwas, das ursprünglich nicht zu diesem Gerät gehörte. Etwas, das Zeen sich hat einfallen lassen.
Mithilfe des Schraubenziehers an meinem Taschenmesser gelingt es mir, die Sache genauer zu untersuchen. Ich muss unwillkürlich lächeln, als ich den Einfallsreichtum meines Bruders bewundere. Ein winziges schwarzes Kästchen ist zwischen den Drähten und Platinen untergebracht. An der Art, wie Zeen die Kabel getrennt und neu verbunden hat, schließe ich, dass das Ausgangsmikrofon nun dazu dient, Stimmen aufzunehmen. Die Hörmuschel hat er zum Lautsprecher beim Abspielen umfunktioniert. Alles fügt sich nahtlos ineinander. Hätte ich das Gerät nicht so traurig umklammert und dabei versehentlich den Wiedergabeknopf betätigt, hätte ich niemals geahnt, dass ich ein Aufnahmegerät in den Händen halte.
Ich bekomme einen Schrecken, als es draußen klopft. Sorgfältig verstaue ich das Gerät wieder in meiner Tasche, gehe in den Schlafraum zurück, in dem es inzwischen dunkel geworden ist, und öffne die Tür. Die Frau, die auf der Schwelle steht, hält ein Tablett in den Händen und hat einen besorgten Ausdruck auf ihrem Gesicht. »Ist hier drinnen alles in Ordnung?«, fragt sie.
Ich schätze, mein Verschwinden im Badezimmer ist nicht unbemerkt geblieben.
»Mit mir ist alles okay«, versichere ich ihr, doch die Aufregung und das Durcheinander weiter unten auf dem Flur lassen mich vermuten, dass das bei jemand anders ganz anders aussieht. Hat erneut ein Kandidat dem Druck auf die gleiche Weise ein Ende gesetzt wie Ryme? Obwohl es mich nicht mehr interessieren sollte, mache ich mir um Tomas Sorgen. Ich kann nicht anders. Egal wie sehr ihn die Auslese verändert haben mag, er wird doch immer der Junge von zu Hause sein, der zu jedem lieb war. Ich will, dass er am Leben bleibt.
Die Offizielle reicht mir das Tablett mit meinem Abendbrot, teilt mir mit, dass die Entscheidung immer noch ausstehe, und verschließt erneut die Tür. Zum ersten Mal macht mir die Einsamkeit nichts aus. Ich esse vom Hühnchen, das in köstlicher Tomatensoße schwimmt, und dazu frisches Gemüse, ehe ich mich wieder im Badezimmer einschließe.
Eine Weile lasse ich mich von Zeens Stimme trösten, die die täglichen Aufgaben festhält, um die er sich kümmern muss. Aber die Tatsache, dass ein anderer Prüfling anscheinend Selbstmord begangen hat, lässt mich schon bald wieder meine Runden im Zimmer drehen. Vielleicht sollte ich es so sehen, dass nun ein Kandidat weniger zwischen mir und der Universität steht. Aber das kann ich nicht. Für mich ist es ein kluger Kopf weniger, dessen Schicksal nur allzu bald vergessen sein wird, so wie das der vielen anderen. Es sei denn, jemand gedenkt ihrer. Wenn es nach dem Vereinigten Commonwealth und den Prüfern geht, dann wird es niemanden geben, der sich an die Toten erinnert – jedenfalls niemanden, dem das irgendetwas bedeutet.
Ich betrachte das Gerät in meinen Händen, und dann habe ich eine Idee. Es dauert ein paar Minuten, ehe ich herausgefunden habe, wie ich mit dem Knopf die Aufnahme starten kann. Als es so weit ist, beginne ich zu sprechen. Mit leiser und oft brüchiger Stimme erzähle ich von Malachi. Seinem Lächeln. Seinem schüchternen Wesen. Seiner schönen Gesangsstimme und von seinem Tod. Von Ryme und ihren Getreidekeksen. Ihrer großspurigen Art. Davon, wie ich sie an der Decke unseres Zimmers baumelnd vorgefunden habe. Von den ersten Morden. Ich berichte davon, wie ich im Container aufgewacht und hinaus auf die zerstörten Straßen Chicagos getreten bin. Vom Armbrustbolzen, der auf mich abgefeuert wurde, und von meiner entsetzlichen Angst. Vom Rückstoß der Waffe in meiner Hand.
Ich finde heraus, dass die Aufnahmezeit des Rekorders begrenzt ist. Also muss ich auswählen, worüber ich sprechen will. Ich quäle mich damit, welche Erinnerungen ich festhalten soll. Es zerreißt mir fast das Herz, als ich zurückspulen und eine Passage löschen muss, um für eine andere Platz zu schaffen. Alles verdient es, im Gedächtnis zu bleiben, aber die Wahl kann nur auf ausgewählte Dinge fallen. Mehr als einmal überwältigen mich die Tränen, und ich muss unterbrechen. Mein Herz schmerzt, meine Lungen brennen, und meine Kehle ist wund, als ich das Aufnahmegerät vollständig besprochen habe. Aber nun sind die Erinnerungen da und konserviert, solange die Maschine hält. Irgendjemand wird von ihnen erfahren und daraus lernen.
Ob sie das Gerät zu meinen Eltern zurückschicken werden, wenn meine Kandidatur nicht erfolgreich war? Ich bezweifle es. Aber vielleicht kann ich Michal darum bitten, es nach Five Lakes zu bringen, wenn ich nicht mehr da sein sollte.
Mit meinem Messer ritze ich ein kleines Zeichen in die Rückseite des Kommunikators, ehe ich ihn in meine Tasche zurückschiebe. Dann verstaue ich meine Kleidung und die anderen Besitztümer darüber und wasche mir die Spuren meiner Anstrengungen vom Gesicht. Als die Offizielle mein Abendessen bringt, fragt sie mich erneut nach meinem Wohlergehen. Ich versichere ihr, dass es mir gut gehe, und nehme ihr das Tablett ab. Ehe sie die Tür schließt, sagt sie: »Die Wahl ist getroffen. Nach dem Frühstück wird Dr. Barnes verkünden, wer in diesem Jahr die neuen Studenten der Universität sein werden.«
Ob ich nun doch bestanden habe oder durchgefallen bin: Morgen wird alles hier ein Ende haben.