Kapitel 10

Dieses Mal wünschen sie uns also kein Glück. Vielleicht ist es seltsam, dass mir in einem Moment wie diesem ein derartiger Gedanke kommt, aber mein Geist scheint sich auf nichts anderes konzentrieren zu können, als ich aus meiner winzigen Kandidaten-Zelle hinaus auf das braune Gras trete, das in einem kleinen Streifen den Beton durchbrochen hat. Ich kann kaum atmen, während ich meinen Blick über die verfallene, zerstörte Umgebung schweifen lasse. Stahl und Stein. Glas und Holz. Kaputte und eingestürzte Gebäude. Völlig verrostete Autos, die auf ihren Dächern liegen. Eine dicke schmierige Rußschicht bedeckt alles. An manchen Stellen versuchen noch zähere Pflanzen als das Gras, sich durch den Schutt zu kämpfen. Sie sehnen sich wahrscheinlich nach Sonne. Kletterpflanzen überwuchern das Durcheinander von Autowracks und Ruinen. Bäume, die der verseuchte Boden hat verkrüppeln lassen, haben sich durch die Überreste der zerstörten Stadt dem Himmel entgegengeschoben, als wären sie fest entschlossen zu überleben. Nicht weit entfernt von der Stelle, an der mein Metallcontainer steht, sehe ich etwas, das wie ein zusammengebrochener Brückenbogen aussieht, zum Teil von dunklen, dornigen Ranken überzogen. Im Schein der aufgehenden Sonne glaube ich, Worte zu erkennen, die in den Stein gemeißelt worden sind, und vorsichtig gehe ich ein paar Schritte näher. Als ich die Augen zusammenkneife, kann ich die folgenden Buchstaben lesen: AKTIENBÖRSE VON CHICA O.

Obwohl ein Buchstabe im Namen der Stadt fehlt, weiß ich nun sicher, wo ich bin: in Chicago, der Stadt, die als dritte im Vierten Stadium des Krieges zerstört worden ist. In den ersten zwei Städten waren vorher Warnungen eingegangen, und es hatte Evakuierungen gegeben. Hunderttausende Menschen waren dennoch gestorben, aber es hätte dort auch noch schlimmer kommen können. So wie hier. Aus den Schulbüchern weiß ich, dass der Angriff auf Chicago schnell kam und es keine Vorwarnungen gab, bis die ersten Bomben fielen. Wer der Feind war, der die Abwehrsysteme der Stadt überwand und eine völlig arglose Stadt vernichtete, ist nie offiziell mitgeteilt worden, aber der Präsident und seine Ratgeber glaubten es zu wissen. Sie holten zum Gegenschlag aus, und die ganze Welt geriet aus den Fugen.

Der Wind bläst durch die leeren Straßen. Wobei sie ja gar nicht leer sind, wie ich mir ins Gedächtnis rufe. Nicht im Augenblick. Achtundfünfzig andere Kandidaten der Auslese befinden sich irgendwo hier in der Gegend. Einige davon sind meine Freunde, aber Michal zufolge würden andere von ihnen mich nur zu gerne mit ihren Waffen niederstrecken, die zu ihrer eigenen Verteidigung gedacht sind, nur um einen Platz an der Universität zu ergattern. Wie soll ich nur die einen finden, ohne den anderen in die Arme zu laufen – oder, besser gesagt, in die Waffen, die sie sich ausgesucht haben? Werde ich gezwungen sein, meine Pistole zu benutzen?

Tomas hat mir gesagt, ich solle ihn am höchsten Gebäude treffen; aber von meinem augenblicklichen Standort aus ist es schwer zu sagen, welches das sein könnte. Ich kehre zu meinem Container zurück und klettere auf das Dach, um einen besseren Überblick zu bekommen. Zerfallener Beton und verbogener Stahl überall. Schuttberge, die zu den Gräbern all jener Menschen geworden sind, deren Heimatstadt dies einst gewesen ist. Das enorme Ausmaß der Zerstörung verursacht mir Beklemmungen, aber ich habe keine Zeit, die Leute zu betrauern, die hier gestorben sind. Ich muss Tomas finden.

Gerade als ich wieder hinabklettern will, sehe ich etwas, das im Sonnenlicht aus den übrigen Ruinen heraussticht. Es sieht nicht aus wie ein Gebäude, aber es ist die höchste Stelle, die ich von meinem Standort aus entdecken kann. Wie weit es entfernt ist, ist schwer einzuschätzen, ich denke jedoch, dass es nicht allzu weit weg ist. Ich weiß nicht, ob Tomas dorthin unterwegs ist, aber ich muss mein Glück versuchen. Inzwischen funktioniert auch der Kompass des Transit-Kommunikators, ebenso wie das Ortungssystem, welches den Längen-und den Breitengrad meines Aufenthaltsortes ermittelt. Jetzt kenne ich also immerhin meine Koordinaten. Ich kann einen Weg zurück finden, falls das nötig werden sollte.

Ich springe vom Dach des Containers und folge dem Kompass, der mir zeigt, dass mein Ziel Richtung Norden liegt. Mühsam klettere ich über Berge voller zusammengestürzter Steinmauern und vermeide die großen, klaffenden Löcher im Boden. Alle paar Schritte bleibe ich stehen und lausche. Höre ich fremde Schritte? Ist da noch jemand in der Nähe? Aber nein, es ist nur der Wind, der die trockenen, klauengleichen Blätter an einem Baum gleich neben mir zum Rascheln bringt.

Obwohl mir mein angepeiltes Ziel vom Metalldach aus gar nicht so weit weg vorgekommen ist, steht die Sonne schon sehr viel höher am Himmel, als ich näher komme und einen grauschwarzen Kirchturm aus den Überresten eines Gebäudes aufragen sehe. Wie dieser Turm die immense Zerstörung ringsum hat überstehen können, ist mir ein Rätsel. Ich frage mich, ob Tomas ihn von seinem unfreiwilligen Startpunkt aus ebenfalls sehen kann.

Ich setze mich auf einen umgestürzten Mauerrest und nehme einige Schlucke aus meiner Wasserflasche. Die Sonne brennt heiß. Schweiß rinnt mir den Rücken runter. Ich muss unbedingt ausreichend Flüssigkeit zu mir nehmen, wenn ich diesen Teil der Ausleseprüfung überstehen will. Mein Magen knurrt, und ich breche ein kleines Stück von einem Rosinenbrötchen ab, während ich mich zu entscheiden versuche, wie lange ich hier auf Tomas warten will. Vielleicht sieht er diesen Turm gar nicht. Oder er ist zu dem Schluss gekommen, dass der Plan mit dem höchsten Gebäude als Treffpunkt zu nichts führt, und ist nun bereits auf dem Weg nach Westen zum Zaun, der unsere zweite Option ist.

Am Stand der Sonne lese ich ab, dass es schon früher Nachmittag ist. Stunden sind vergangen, seitdem ich den ersten Schritt hinaus auf die Straßen der Stadt gewagt habe. Obwohl ich am liebsten so lange hier ausharren möchte, wie es eben dauert, Tomas ausfindig zu machen, muss ich mir doch auch einen Unterschlupf für die kommende Nacht suchen. Die Vorstellung, schutzlos draußen zu nächtigen, während die anderen Kandidaten und wer weiß was sonst noch an Gefahren in meiner Nähe herumlungern, macht mich schier verrückt vor Angst. Eine Stunde. So lange gebe ich Tomas, bevor ich diesen Ort hier verlasse. Danach werde ich weiterziehen.

Ich beende mein kärgliches Mittagessen und beschließe, mich ein bisschen umzusehen, bis es Zeit zum Aufbruch wird. Meine Tasche hänge ich mir wieder über die Schulter und klettere über den herumliegenden Schutt. Fast wäre ich über eine Baumwurzel gestolpert und komme schließlich direkt an der anderen Seite des Turmes an.

Und da sehe ich einen großen Metallkasten auf einer kaputten Straße.

Den Container eines anderen Kandidaten.

Mein Herz schlägt schneller, als ich mich langsam nähere und sorgfältig darauf achte, dass meine Schritte nicht zu hören sind. Es wäre wohl zu viel verlangt, darauf zu hoffen, dass Tomas’ Startpunkt der erste wäre, auf den ich stoße, nachdem ich meinen eigenen verlassen habe, und dass Tomas selbst sich vielleicht sogar noch im Innern seines Containers befindet, Stunden nach Beginn der Prüfung. Trotzdem muss ich einfach einen Blick hineinwerfen.

Die Uhr an der Wand ist nicht mehr beleuchtet. Im Essenskorb finde ich nur ein weggeworfenes Apfelgehäuse und die leere Crackerschachtel. Dies ist auf keinen Fall Tomas’ Container. Er wäre niemals so leichtsinnig gewesen, Nahrungsmittel zu essen, die besser für kommende Zeiten aufgehoben werden sollten. Und auf jeden Fall hätte er das Laken von seiner Pritsche abgezogen, wie ich es getan habe. Ich überlege kurz, ob ich das hier zurückgelassene Bettzeug vielleicht auch noch mitnehmen soll, als ich draußen einen Stein über den Boden schlittern höre.

Jemand ist dort.

Ich erstarre und halte den Atem an, während ich verzweifelt überlege, was ich als Nächstes tun soll. Geröll knirscht unter einer Stiefelsohle. Dann ist es also kein Tier, sondern ganz eindeutig ein Mensch. Mein Herz schlägt im Sekundentakt, während ich auf jedes Geräusch lausche, das mir verrät, ob sich die Schritte draußen nähern oder sich entfernen. Die Minuten verrinnen. Nichts ist zu hören. Ich verstärke den Griff um meine Pistole wieder und wieder und zähle bis hundert. Noch immer nichts.

In diesem fensterlosen Kasten gefangen zu sein, das bringt mich von vornherein in die schlechtere Ausgangslage. Nicht nur dass ich nicht sehen kann, wer da draußen ist, mir bleibt auch keine Chance zu fliehen, falls jemand durch die Tür kommt. Also wird es Zeit abzuhauen. Und zwar jetzt gleich.

Ich spähe durch die spaltbreit geöffnete Tür des Containers nach draußen. Vor mir liegt ein Areal, auf dem früher einmal ein Haus gestanden haben muss, von dem jetzt jedoch lediglich ein paar bruchstückhaft erhaltene Mauern übrig sind. Einige dieser Hauswände sind nur noch ein bis anderthalb Meter hoch, doch ein oder zwei überragen mich auch. Das höchste Mauerstück ist nicht einmal zwanzig Meter von mir entfernt. Dahinter könnte ich mich vielleicht verstecken – vor wem auch immer. Wenigstens so lange, bis ich genauer sagen kann, ob mir die Person etwas Böses will oder nicht. Der Erdboden zwischen dem Container und der Mauer ist etwas zerklüftet, aber einigermaßen eben. Falls jemand draußen vor dem Eingang lauert, sind meine Chancen auf ein Entkommen am größten, wenn ich ihn überrasche. Ich hänge mir meine Tasche quer über die Brust, sodass sie enger am Körper liegt. Dann rücke ich sie so zurecht, dass ich ihr Gewicht kaum noch spüre, hole tief Luft und renne los.

Meine Stiefel sind laut auf dem harten Boden. Irgendwo rechts von mir, so meine ich, höre ich jemanden fluchen. Meine Flucht hat meinen ungebetenen Besucher völlig überrascht, oder aber er hat mit jemand anders gerechnet. Wenn er mir freundlich gesonnen ist, wird er mir schon hinterherrufen. Falls nicht, ist es besser, noch schneller zu rennen. Ich bin vielleicht drei Meter von meinem Ziel entfernt, als ich ein sirrendes, beinahe melodisches Geräusch höre. Dann einen dumpfen Aufprall. In der rauen Borke des Baumstamms zu meiner Linken steckt ein Armbrustbolzen.

Wieder höre ich etwas vibrieren. Dieses Mal werfe ich mich auf den Boden. Sekundenbruchteile später prallt das Metall des nächsten Bolzens von der Mauer anderthalb Meter vor mir ab und fällt scheppernd zu Boden. Wieder ertönt ein Fluchen, unverkennbar rechts von mir. Wer auch immer diese Bolzen abschießt, hat entweder eine erstaunlich glückliche Hand dabei oder hat in der Vergangenheit mit dieser Waffe trainiert. Ich muss Deckung finden, und zwar schnell.

Also rappele ich mich wieder auf. Meine Tasche schlägt mir gegen die Hüfte, während ich vorwärtsjage und hinter der nächsten Wand abtauche, als erneut ein Bolzen gegen die Mauer prallt.

Es besteht kein Zweifel daran, dass jemand darauf aus ist, mich zu töten.

Ein anderer Prüfling? Davon muss ich wohl ausgehen. Unter den Waffen im Ausrüstungsraum war auch eine Armbrust. Zwar kann ich gut verstehen, dass man sich in dieser zerstörten Stadt ängstlich und allein fühlt, aber trotzdem glaube ich nicht, dass dieses Gefühl der Grund für den Angriff ist. Genauso, wie Roman während der dritten Prüfung unsere Gruppe ganz bewusst sabotiert hat, ist auch dieser Beschuss berechnend. Er ist eiskalt ausgeführt. Dies ist der Versuch von jemandem, die Aussichten auf einen Universitätsplatz für sich selbst zu verbessern.

Zorn und Empörung bahnen sich ihren Weg durch meine Angst hindurch. Wer auch immer der Kandidat mit der Armbrust ist, er verlässt sich nicht darauf, schlau genug zu sein, um diesen Prüfungsteil zu bewältigen. Michal sagte, dass es nicht gegen die Regeln verstoße, jemanden zu töten, doch ich bin der Ansicht, dass das eine Form von Betrug ist. Und ich will verdammt sein, wenn ich einen Betrüger am Ende gewinnen lasse.

Mein Blick fällt auf die Pistole in meiner Hand. Ich gehe in die Hocke und bewege mich ganz langsam nach rechts, immer darauf achtend, die Mauer als Schutzschild zu nutzen. Als ich am Ende der Wand angekommen bin, versuche ich abzuschätzen, von wo aus die Bolzen abgefeuert worden sein müssen, spähe dann um die Ecke und schieße.

Der Rückstoß der Waffe fährt mir durch den ganzen Körper, während der Schuss durch die schweigende Stadt hallt. Jemand flucht laut – es ist eine männliche Stimme. Ich finde es schwer vorstellbar, dass mein blinder Gegenschlag meinen Angreifer getroffen haben könnte. Das war auch gar nicht mein Ziel. Ich habe nicht vor, diesen Test zu überleben, indem ich andere töte. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass ich kampflos untergehen will. Noch drei weitere Kugeln feuere ich blindlings in Richtung Stadt und kauere mich dann hinter der Mauer nieder, um auf Geräusche des Armbrustschützen zu lauschen. Als ich Schritte höre, stockt mir der Atem.

Kleinere Steine kullern über den Beton.

Irgendetwas Metallisches klirrt.

Stille.

Dann das Geräusch von schweren Stiefeln. Jemand rennt, doch nicht auf mich zu, sondern von mir weg. Ich bin in Sicherheit.

Jedenfalls vorerst.

Mein ganzer Körper bebt, während die Wut langsam abklingt und nichts als das dumpfe Gefühl der Angst zurücklässt. Ich habe gerade eine Waffe auf einen Menschen gerichtet. Nein. Ich habe nicht versucht, meinen Angreifer zu erschießen. Aber ich hätte ihn tödlich treffen können. Die Tatsache, dass diese Person zuvor versucht hat, mein Leben zu beenden, rechtfertigt mein Verhalten vielleicht, aber Scham und Entsetzen werden deshalb nicht weniger.

Ich merke, dass ich zusammengekauert an der Wand lehne und nicht mehr auf die Geräusche der Stadt achte, und ich sage mir, dass ich mich schleunigst aus dieser Starre lösen muss. Später wird mir schon noch genug Zeit bleiben, darüber nachzugrübeln, welche Seite von mir ich gerade kennengelernt habe. Zuerst sollte ich zusehen, dass ich von hier wegkomme. Die Schüsse müssen jeden in der Nähe aufmerksam gemacht haben. Wenn noch andere Prüflinge hier draußen ein Interesse daran haben, die Konkurrenz auszuschalten, dann könnte es gut sein, dass sie nachschauen kommen, wer da wohl eine Waffe abgefeuert hat. Wenn sie eintreffen, will ich nicht mehr hier sein.

Ich spitze die Ohren, ob ich irgendein Lebenszeichen hören kann, dann luge ich um die Mauer und suche die Ruinen mit den Augen ab. Da scheint niemand zu sein. Nicht in der Nähe des Containers. Nicht auf den Schuttbergen ringsum und auch nicht versteckt zwischen den Ästen von abgestorbenen Bäumen. Soweit ich es beurteilen kann, bin ich im Moment allein. Obwohl mir nichts lieber wäre, als Tomas zu finden, um gemeinsam mit ihm die Stadt zu verlassen, werde ich mich wohl ohne ihn auf den Weg machen müssen.

Leicht gebückt orientiere ich mich anhand des Kompasses und breche dann gen Westen auf. Alle drei bis fünf Meter bleibe ich stehen und sehe mich aufmerksam um. Bislang ist niemand zu entdecken, aber ich weiß, dass der Armbrustschütze irgendwo da draußen sein muss. Nur mühsam komme ich voran, denn ich muss immer wieder über eingestürzte Mauern und Stahlträger klettern. Endlich stoße ich auf eine Straße, die beinahe frei von Schutt ist, und beschleunige meine Schritte.

Die Straße führt zu einem breiten Fluss, in dem dunkles Wasser gurgelt. Es ist überflüssig, einen Test zu machen. Dieses Wasser ist nicht trinkbar, und egal welche Menge an Reinigungschemikalien ich dafür opfern würde, ich würde nichts daran ändern. Die Straße, der ich im Augenblick folge, endet an einer Brücke, die über den Fluss führt. Sie ist voller Risse und klaffender Löcher. Soll ich versuchen, hier auf die andere Seite zu gelangen, oder wäre es besser, nach einer anderen Überquerungsmöglichkeit zu suchen?

Ich verstaue die Pistole im Seitenfach meiner Tasche und klettere auf einen Baum am Ufer, um mir einen besseren Überblick zu verschaffen. Der Fluss schlängelt sich weiter nach Nordosten. Schwer zu sagen, was mich in dieser Richtung erwartet. Im Süden entdecke ich eine weitere Brücke, aber auch die scheint in desolatem Zustand zu sein. Und wer weiß schon, wie lange ich dorthin unterwegs wäre oder was mir auf dem Weg dahin begegnen könnte. Ich steige wieder vom Baum und entschließe mich, den Fluss hier zu passieren. Ich muss einfach so viel Abstand wie möglich zwischen mich und alle feindlichen Kandidaten bringen. Wenn ich auf halbem Wege feststellen sollte, dass die Brücke doch zu unsicher ist, dann werde ich mich in Richtung Süden halten und mein Glück da versuchen.

Bei der Überquerung des Flusses sehe ich einige halbherzige Versuche, die Brücke wieder instand zu setzen. Vielleicht waren es frühere Kandidaten der Auslese, die große Holzplanken oder Steinplatten über die riesigen Löcher gelegt haben, weil auch sie auf die andere Seite des Wassers gelangen mussten. Als ich beinahe in der Mitte der Brücke angelangt bin, bröckelt plötzlich das Gestein unter meinen Stiefeln. Von dieser Stelle aus kann ich sehen, dass der vor mir liegende Teil der Brücke in sogar noch schlechterem Zustand ist. Ganze Stücke der Befestigung sind verschwunden, sodass nur noch hier und da Querstreben zu erkennen sind, auf die ich treten kann. Offenbar wollte derjenige, der versucht hat, die Brücke zu reparieren, nicht mehr zurückgehen, um weiteres Material für diese Seite heranzuschaffen.

Ich lasse mir meine Optionen durch den Kopf gehen: Klar könnte ich umkehren und die südlichere Brücke ausprobieren, ich könnte aber auch weitergehen und einfach auf das Beste hoffen. Meine augenblickliche Position mitten auf der Brücke ist viel zu exponiert. Zweifellos kann mich jeder Kandidat in der Nähe sehen. Und wenn mich bereits jemand entdeckt hat, dann liefere ich mich seinem Angriff schutzlos aus, wenn ich jetzt umkehre. Egal wie ich mich entscheide: Es bleibt ein Risiko.

Die Angst vor dem Armbrustschützen treibt mich vorwärts. Ich rücke meine Tasche auf meiner Schulter zurecht; der Brückenbelag ist jetzt nur noch so schmal, dass meine Füße beinahe keinen Halt mehr finden. Unter mir rauscht das dunkle Wasser, als ob es nur darauf wartet, dass mich ein falscher Schritt in seine Tiefen stürzen lässt. Ich bin noch etwa sechs Meter vom sicheren Ufer entfernt, als ich das surrende Geräusch höre, das mir inzwischen schon beinahe vertraut ist und von dem ich weiß, dass es Gefahr bedeutet. Ich habe keine andere Wahl, als loszurennen, denn an mir zischt etwas vorbei, das ich für einen Armbrustbolzen halte. Ein Platschen ist im Wasser unter mir zu hören, dann wird das Geschoss vom Strom verschluckt.

Ungefähr anderthalb Meter vor der rettenden Böschung verschwindet die Befestigung der Brücke völlig. Wieder erklingt das Vibrieren. Ich habe keine Zeit zum Nachdenken, sondern mache einen Satz über das klaffende Loch hinweg, in der Hoffnung, dass ich sicher auf der anderen Seite landen werde. Doch nur mein Oberkörper schafft es an Land. Der Rest von mir baumelt in der Leere zwischen der Brückenkante und dem Fluss. Das Gewicht meines Körpers und meiner Tasche lässt mich langsam nach unten rutschen. Ich versuche verzweifelt, Halt zu finden, und kralle meine Finger in einen Spalt im Gestein, damit ich nicht immer weiter abgleite.

Die Muskeln in meinem Oberarm fangen an zu zittern, als ich versuche, mich langsam auf die Brücke zu hieven. Doch auch nach mehreren qualvollen Anläufen habe ich mich kaum einen Zentimeter bewegt, und meine Finger drohen langsam nachzugeben.

Es gibt nichts mehr, was ich tun kann. In spätestens einer Minute werde ich ins Wasser fallen. Ich mache mich auf den Sturz gefasst und hoffe inständig, dass das Flussufer zugänglich ist, als mit einem Mal jemand meinen rechten Arm packt und meine Finger vom Gestein löst, an das ich mich in letzter Hoffnung klammere. Bei all der Gefahr rings um mich herum sollte ich ruhig bleiben, das weiß ich, aber ich komme nicht dagegen an: Ein Schrei löst sich aus meiner Kehle.