Kapitel 13
Im ersten Morgengrauen stehen wir auf, packen unsere Sachen zusammen, verstauen sie auf den behelfsmäßigen Gepäckträgern unserer neuen Fahrräder und radeln langsam los Richtung Südwesten. Die ganze Nacht über hatten wir uns aneinandergeschmiegt, unsere Waffen in unmittelbarer Reichweite, und uns gegenseitig flüsternd versichert, dass der Schrei bestimmt aus weiter Ferne zu uns herübergeweht worden war und wir hier sicher wären vor dem, was die Ursache dafür gewesen war.
Obwohl Tomas’ Wunde abzuheilen beginnt, merke ich, dass es beschwerlich für ihn ist, eine erträgliche Sitzposition auf dem Sattel zu finden. Da die Reifen keine Gummischläuche haben, mildert nichts die Stöße ab, wenn wir über Steine, Zweige und Schutt rollen. Die Fahrt ist mehr als holprig.
Je weiter wir uns von Chicago entfernen, desto dichter wachsen die Bäume und Büsche, und es gibt auch immer mehr intakte Häuser. Wir entscheiden uns, nach Süden zu fahren, wo es laut Tomas’ Karte früher eine breite Straße gegeben hat. Selbst eine Fahrbahn, die nicht wieder instand gesetzt worden ist, würde uns leichter vorankommen lassen als das Gelände, durch das wir uns im Moment quälen. Der andere Grund für unseren Entschluss bleibt unausgesprochen. Der Hilferuf in der letzten Nacht schien aus dieser Richtung gekommen zu sein. Wir suchen nach dem Mädchen, dessen Schrei uns die ganze Nacht lang wach gehalten hat. Wenn es verletzt ist, müssen wir ihm helfen. Ich könnte nicht damit leben, es nicht wenigstens versucht zu haben.
Als ich einen Schwarm Krähen vom Himmel herabstoßen und etwas umkreisen sehe, schnürt es mir die Kehle zu. Wortlos verlassen wir die Straße und radeln über vereinzelte braune Grasflecken, um zu sehen, wovon die Vögel angezogen worden sind. Als wir an der Stelle ankommen, wo sie sich sammeln, geht es nicht mehr um die Frage, ob wir dem Mädchen, das geschrien hat, helfen können oder was wir tun sollen, wenn es sich uns anschließen möchte. Vor uns liegt der reglose Körper eines Mädchens, das nie wieder um irgendetwas bitten wird. Ich bilde mir ein, die junge Frau wiederzuerkennen. Es muss die sein, die vor Malachi lief, als wir den Versammlungsraum am ersten Tag der Auslese verließen. Sie hat langes hellblondes Haar, das jetzt vor Schmutz starrt und voller Blut ist. Die Augen, die vielleicht einmal blau gewesen waren, sind von den Vögeln aus den blutigen Augenhöhlen herausgepickt worden. Und dort, in ihrer Magengegend, sehe ich etwas, das meine Übelkeit und mein Mitleid mit ihr in eisige Angst verwandelt.
Ein Armbrustbolzen ragt aus ihrem Bauch.
Ihre Tasche ist leer. Entweder hat sie den Inhalt unterwegs verloren, was ich bezweifle, oder der Armbrustschütze hat ihre Besitztümer mitgenommen, nachdem er sein Opfer zur Strecke gebracht hatte.
»Wir sollten verschwinden.« Tomas drückt meine Hand. Ich kann nicht aufhören, unsere Auslese-Mitstreiterin anzustarren. »Es dürfte jetzt nicht mehr weit bis zur Straße sein.«
»Du hast recht. Es wäre besser aufzubrechen. Vielleicht ist der Armbrustschütze noch in der Nähe.« Aber ich kann mich nicht vom Fleck rühren. Ich kann die Tote nicht hier liegen lassen, wo die Vögel sie stückweise verzehren. Ihr wird das nichts mehr ausmachen, aber mir schon. Diese junge Frau hatte eine Familie. Freunde. Es gibt irgendwo Menschen, die sie lieben und die glauben, dass sie sicher in Tosu-Stadt untergebracht ist, wo sie allen zeigt, was sie in Mathematik und Naturwissenschaften draufhat. Diese Menschen werden vielleicht nie von ihrem Schicksal erfahren, aber ihre Liebe zu ihr und umgekehrt verlangen nach Respekt. So haben es mir meine Mutter und mein Vater beigebracht, und nach diesem Grundsatz leben wir in der Five-Lakes-Kolonie.
Tomas findet schließlich einen Spalt im Boden, der breit genug für den schmalen Leichnam des Mädchens zu sein scheint. Gemeinsam verscheuchen wir die aasfressenden Krähen und tragen die Tote zu ihrer letzten Ruhestätte. Ich mühe mich mit ihrem Erkennungsarmband ab, bis ich endlich die richtige Stelle drücke. Der Verschluss öffnet sich mit einem Klicken, und das Band mit dem eingravierten Symbol – einem Dreieck um ein kleines Rad mit acht Speichen – fällt in meine geöffnete Hand. Dann lassen wir das Mädchen in den Spalt rutschen. Wir verlieren eine Stunde Tageslicht, während wir Steine über die Öffnung schieben, damit nicht Vögel und anderes Getier sich der sterblichen Überreste bemächtigen.
Als Letztes markiere ich das Grab mit einem großen rötlichen Stein und wünschte, ich wüsste den Namen der Toten, um mich richtig von ihr verabschieden zu können. Stattdessen presse ich mir ihr Armband auf mein Herz. Im Stillen schwöre ich, dass ich die Überzeugungen, mit denen ich aufgewachsen bin, niemals verraten werde, nur um bei der Auslese zu bestehen, ganz gleich wie groß meine Angst noch werden wird. Und ich werde das Schicksal dieses Mädchens nicht vergessen.
Tomas’ Kiefer verhärten sich, als er einen letzten Blick auf die Grabstelle wirft, ehe wir wieder unsere Räder besteigen. Schweigend radeln wir den restlichen Tag über in Richtung der Straße, auf die wir irgendwo in nicht allzu weiter Ferne zu stoßen hoffen. Wir machen nur kurz halt, um Wasser zu reinigen, nachdem wir es getestet haben, Löwenzahn und wilde Karotten zu sammeln und den letzten Rest Beutelratte zusammen mit unseren verbliebenen Äpfeln zu verspeisen. Meine Beine zittern vor Erschöpfung, aber die Erinnerung an das tote Mädchen und seine leeren Augenhöhlen treibt mich an, immer weiter in die Pedale zu treten, über holprige Steine und durch dichtes Unterholz, bis die Dunkelheit hereinbricht.
Spät am Morgen des nächsten Tages finden wir endlich die Straße. Es ist ein breiter geteerter Streifen, der sich weiter vor uns erstreckt, als wir ihm mit den Augen folgen können, was mich eigentlich freuen sollte. Stattdessen versetzt mich der hervorragende Zustand der Straße in Angst und Schrecken. Es gibt keine Löcher und keine Risse im Asphalt. Abgesehen von einigen Ausbesserungen hier und da, sehe ich keine Spuren von Reparaturen. Dieses Mal wundert Tomas sich nicht, als ich von meinem Rad absteige.
»Glaubst du, das ist schon wieder eine Falle?«, frage ich.
»Nach dem Teich halte ich alles für möglich«, entgegnet er und legt den Kopf schräg. »Aber ich glaube nicht. Sieh mal dort.«
Ich kneife die Augen zusammen und schaue in die Richtung, in die er zeigt. Da sehe ich es. In einiger Entfernung wird die Umgebung von einer leuchtend blauen Linie durchzogen. Der südliche Zaun des Gebietes für die Kandidaten der Auslese. Die Linie, die wir nicht überschreiten dürfen.
»Ich wette, das Komitee hält diese Straße in Schuss, um jedes Jahr die Grenzmarkierungen anbringen zu können.« Tomas kramt in seiner Tasche und holt seinen Atlas hervor. »Dieser Karte nach zu urteilen, führt die Straße den ganzen Weg bis zur südwestlichen Seite des alten Bundesstaates und verbindet sich dort mit einer weiteren Straße, die direkt bis nach Tosu-Stadt reicht. Die Offiziellen müssen problemlos von Tosu-Stadt aus zu den Startpunkten der einzelnen Kandidaten und wieder zurück kommen. Ich wette, dafür ist diese Straße gedacht.«
Die Überlegung ist nicht von der Hand zu weisen. Aber es ist nicht Tomas’ Logik, die mich überzeugt. Es ist die Karte selbst, die mir verrät, dass die vor uns liegende Straße auf dem Weg nach Tosu-Stadt durch mehrere Städte führt. Die lebhaftesten Träume meines Vaters haben in einer Stadt gespielt, deren Gebäude noch nicht völlig zerstört waren. Wenn die Prüfer uns Fallen stellen wollen, dann wären diese Städte die geeignetsten Orte dafür.
»Lass uns ein paar Steine auf die Fahrbahn werfen«, schlage ich vor. »Wenn nichts explodiert, sollten wir unser Glück versuchen.«
Tomas lacht und sieht sich nach passendem Material um. Er kann besser werfen als ich, und gemeinsam lassen wir ungefähr ein Dutzend kleinerer und größerer Brocken auf den Asphalt regnen. Als nichts geschieht, beschließen wir, es zu wagen.
Nach der langen Fahrt über Äste, Zweige und Baumwurzeln ist es himmlisch, nun über eine solch glatte Oberfläche zu radeln. Das Entsetzen darüber, dass wir dieses namenlose Mädchen zu Grabe tragen mussten, hält mich noch immer fest im Griff, und ich bin so froh über den Wind und die Sonne auf meinem Gesicht und über das Gefühl der Freiheit, das mir das schnelle Fahren vermittelt. Trotz der beängstigenden Zahl der Meilen, die wir noch zurücklegen müssen, bin ich glücklich, am Leben zu sein.
Als sich meine Anfangsfreude darüber, auf Asphalt fahren zu können, ein wenig legt, merke ich, dass unsere Ankunft auf der Straße nicht nur unsere Geschwindigkeit gesteigert hat. Sie hat auch dafür gesorgt, dass wir nun weithin sichtbar sind für jeden, der uns möglicherweise aus dem Dickicht der Bäume und aus den verlassenen Gebäuden rechts und links der Strecke beobachtet. Ich bete, dass der Armbrustschütze und jeder andere, der darauf aus ist, Konkurrenten auszuschalten, noch kein schnelleres Transportmittel ausfindig gemacht hat.
Wir überqueren eine lange Brücke, die über einen breiten, trüben Fluss führt, und ich schlage vor, dass wir in dieser Nacht in der Nähe des Wassers kampieren. Es ist früher als gewöhnlich, dass wir uns nach einem Lagerplatz umsehen, aber ich bin schmutzig, mein Haar ist fettig und schweißverklebt, und immer wieder habe ich Krämpfe in den Beinen. Das Übermaß an Wasser bedeutet die Möglichkeit, sich zum ersten Mal seit Tagen wieder sauber zu fühlen. Es ist auch ein guter Ort, um unsere Essensvorräte aufzustocken und vielleicht sogar Tierfallen aufzustellen.
Tomas ist nur allzu gerne bereit, es für heute gut sein zu lassen, vor allem nachdem er einen Blick auf Zeens Kommunikator geworfen und gesehen hat, dass wir an einem einzigen Tag mehr als fünfundvierzig Meilen bewältigt haben. Ein Siebtel der Strecke nach Tosu-Stadt liegt nun schon hinter uns. Zwar ist die Entfernung immer noch immens, aber unsere Fahrräder und die Straße, auf der wir unterwegs sind, lassen uns diesen Prüfungsteil etwas optimistischer betrachten.
Der Fluss ist verpestet wie alle unbehandelten Wasservorkommen. Aber ein einziger Blick in das quirlige Wasser verrät uns, dass sich einige Fischarten der Vergiftung angepasst haben. Zwar macht die Kontamination es gefährlich, diese Fische roh zu verzehren, aber eine Pfanne und Feuer werden sie in eine gefahrlos essbare Mahlzeit verwandeln. Ich stromere am Flussufer herum und sammle Pflanzen fürs Abendessen, während Tomas einen Haken aus seinem Werkzeugvorrat nimmt und ihn an einem geflochtenen Streifen seines Lakens befestigt. Schließlich steckt er die allerletzten Bissen unserer Beutelratten als Köder auf die Spitze des Hakens und geht angeln.
Als ich mit einem Topf voller Lauch, Hechtkraut und Rohrkolbenwurzeln zurückkomme, hat Tomas drei mittelgroße Fische gefangen und ausgenommen – zwei Welse und einen, der so ähnlich aussieht wie der breitmäulige Flussbarsch bei uns zu Hause. Wir kochen die Kräuter und die Wurzeln, braten den Fisch zusammen mit dem Lauch und haben einen richtigen Festschmaus.
Da es noch mindestens eine Stunde oder sogar zwei dauern wird, ehe die Sonne untergeht, beschließe ich, mich zu waschen. Unsere Tests haben ergeben, dass die Verschmutzung des Wassers nur gering ist und auch bei direktem Kontakt nicht zu Hautirritationen führen wird. So ziehe ich mich bis auf die Unterwäsche aus und wate in das kühle Nass hinein. Die Strömung ist unerwartet stark. Ich bleibe nahe beim Ufer und schrubbe mir Dreck, Staub und Schweiß vom Körper und aus der Kleidung, in der ich nun schon seit Tagen stecke. Als ich wieder hinausklettere, lasse ich mir ein paar Minuten Zeit, mich vom Wind trocknen zu lassen, ehe ich in meine zweite Garnitur Kleidung schlüpfe und die frisch gewaschenen Sachen über einen Ast zum Trocknen hänge.
Gerade will ich Tomas zurufen, dass ich mein Bad beendet habe, da sehe ich ihn regungslos hinter einigen dicht zusammenstehenden Büschen auf dem Abhang hocken, der sich hoch bis zur Straße erstreckt. Seine Muskeln sind angespannt. Seine Hand umklammert den Griff seines Messers. Irgendetwas hat ihn aufgeschreckt.
Ich hole die Pistole aus meiner Tasche und schleiche mich zu ihm, wobei ich Kieselsteine und Zweige sorgsam meide und mich stattdessen auf den Grasnarben halte, die meine Schritte abdämpfen. Tomas zuckt zusammen, als ich ihm die Hand auf die Schulter lege, dann zeigt er schweigend in Richtung der Straße, die uns hergeführt hat.
Drei Menschen. Aus dieser Entfernung ist es schwer zu sagen, ob sie männlich oder weiblich sind. Aber ihr schleppender Gang verrät uns, dass sie müde und hungrig und vermutlich auch vom Durst erschöpft sind. Selbst bei ihrem langsamen Tempo werden sie uns noch vor Einbruch der Dunkelheit erreicht haben.
»Was meinst du, sollen wir unsere Sachen packen und uns ein Stück von der Straße zurückziehen, oder wollen wir einfach abwarten, ob sie uns bemerken?«, fragt Tomas.
»Was denkst du denn?«
Tomas runzelt die Stirn. »Ich finde, sie sehen ziemlich erschöpft aus. Wenn ich nicht wüsste, dass da draußen unser Freund mit der Armbrust frei herumläuft, würde ich sagen, wir passen sie ab und sehen, ob wir ihnen helfen können. Sie werden wohl nicht erwarten, dass wir uns mit ihnen zusammentun, da sie zu Fuß unterwegs sind und wir Fahrräder haben. Aber trotzdem …«
Ich kann seine Gedanken zu Ende führen. Es gibt Kandidaten, die bereit sind zu schießen. Zu töten. Die um jeden Preis einen Platz an der Universität haben wollen. Wir jedoch sind nicht wie sie. Als ob ich mir das beweisen müsste, schlage ich vor: »Warum versuchst du nicht, noch ein paar Fische zu fangen, für den Fall, dass es diese Leute bis zum Anbruch der Nacht hierher schaffen. Sie werden hungrig sein.«
Tomas’ Augen verengen sich, als er das Trio noch einmal mustert. Aber schließlich stimmt er zu.
Fünf Fische braten über der Glut, als die drei Kandidaten die Brücke überqueren und schließlich auf unserer Seite des Flusses ankommen. Alle drei sehen vage vertraut aus: ein schlaksiger, sommersprossiger Junge und zwei Mädchen. Eines davon ist groß, und seine Haut ist olivenfarben getönt, seine dunklen Haare sind kurz. Das andere hat aschblondes Haar und ist ein ganzes Stück kleiner. Alle drei sehen aus, als könnten sie vor Erschöpfung im Stehen einschlafen.
»Habt ihr Hunger?«, frage ich und komme aus meinem Versteck. Tomas bleibt hinter den Büschen, sein Messer fest umklammert. Wir haben uns überlegt, dass das Trio eher zu Aggressionen neigen könnte, wenn wir ihnen gemeinsam gegenübertreten. Ich hoffe, dass ein Mädchen wie ich, klein gewachsen und ganz allein, sie dazu bringen wird nachzudenken, ehe sie überreagieren. Die drei wirken nicht sehr überrascht von meinem Auftauchen. Ich schätze, der Geruch unseres Essens hat ihnen bereits verraten, dass ein anderes menschliches Wesen in der Nähe ist. Aber alle drei reißen entsetzt die Augen auf, als sie die Pistole in meiner Hand sehen. Ich fühle mich schlecht, lasse die Waffe aber dennoch nicht sinken. Schließlich bin ich nicht naiv. »Ihr seht aus, als ob ihr hungrig und müde seid. Ich habe Fische gebraten und Wasser vom Fluss geholt. Vielleicht wollt ihr ja auch hier euer Lager aufschlagen.«
Der große rothaarige Junge spricht als Erster: »Warum solltest du uns helfen wollen?«
Ich gebe ihm die einzige Antwort, die ich darauf habe: »Weil ich so erzogen worden bin.«
Ich weiß nicht, ob sie meinen Worten Glauben schenken oder ob ihr Hunger einfach so übermächtig ist, dass sie dem Geruch der gebratenen Fische nicht widerstehen können. Auf jeden Fall folgen sie mir von der Straße weg zum Lagerfeuer. Ich warne sie vor, dass ich nicht allein reise. Das kleinere der beiden Mädchen wirkt verschreckt, als es Tomas und sein Messer entdeckt, die anderen kümmern sich gar nicht darum. Vor allem nicht, da ihr Blick nun auf das Essen und das Wasser fällt, das nur auf sie wartet. Sie lassen sich auf den Boden sinken, Taschen eng an den Körper gepresst. Das größere Mädchen fängt an zu weinen, als ich sage: »Bitte, bedient euch.«
Als es sich wieder ein bisschen gefangen hat, erzählt es uns, den Mund voller Fisch, dass es Tracelyn heiße. Die beiden anderen seien Stacia und Vic. Wir erfahren, dass alle drei aus der Tulsa-Kolonie stammen. Als uns Dr. Barnes im Versammlungsraum die Karte für den vierten Teil der Auslese gezeigt hatte, hatten sie nebeneinandergesessen und ebenfalls einen Treffpunkt vereinbart. Anders als wir hatten sie sich an der Grenzlinie unmittelbar südlich von ihrem Startpunkt aus verabredet. Zwei Tage hatten sie gebraucht, um sich endlich zu finden, und seitdem hatten sie sich in der Nähe der Straße gehalten, immer auf der Suche nach Nahrung und Wasser. Sie hatten nur wenig Essbares gefunden, doch sie wollten sich nicht zu weit ins Land hineinwagen, um nach einer vertrauteren Vegetation zu suchen. Die Straße hatte ihnen Schutz geboten, da sie Menschen schon von Weitem kommen sehen und sich, falls nötig, schnell verstecken konnten.
»Wir haben uns in einem verlassenen Gebäude verkrochen, als ihr vorbeigeradelt seid«, gesteht Vic und nimmt sich noch ein Stück vom Fisch. »Ich dachte, ihr wärt uns schon Meilen voraus, sodass ich gar nicht auf die Idee gekommen bin, auf Radspuren neben der Fahrbahn zu achten. Ich hätte vorsichtiger sein sollen, aber der Geruch von Fisch hat mich abgelenkt. Ihr beiden scheint die Auslesetests fair anzugehen, aber das handhaben nicht alle so.«
»Das wissen wir.« Tomas schaut Vic unverwandt in die Augen. Anscheinend versuchen die beiden, sich gegenseitig abzuschätzen.
Vic wirft einen vielsagenden Blick auf die Messerscheide an Tomas’ Gürtel und die Pistole auf meinem Schoß, dann nickt er. »Jemand hat einige Male auf mich geschossen, als ich versuchte, die Stadt zu verlassen«, berichtet er.
»Mit einer Pistole oder mit einer Armbrust?«
Tracelyn reißt die Augen auf. »Jemand da draußen schießt mit einer Armbrust auf andere Leute? Wie kann man so etwas tun? Ich meine: Das Prüfungskomitee wird uns doch anhand der Entscheidungen beurteilen, die wir unterwegs getroffen haben. Es kann ja wohl unmöglich jemanden damit durchkommen lassen, dass er die Konkurrenten gewaltsam aus dem Weg räumt. Was für einen Anführer würde so eine Person denn später abgeben?«
»Einen starken.« Es war Stacia, die sich eingemischt hat. Sie sitzt im Schneidersitz auf dem Boden und hält den Blick starr auf ihr Essen gerichtet. »Es hätte kein Viertes Stadium des Krieges gegeben, wenn der Präsident der Vereinigten Staaten die Asiatische Allianz angegriffen hätte. Stattdessen jedoch hat er sich um eine weltweite Koalition bemüht; sogar seine eigenen Berater hielten das für sinnlos. Er war Pazifist, obwohl sein Land damals eher einen aggressiven Anführer gebraucht hätte.«
Tomas schüttelt den Kopf. »Hätte er als Erster angegriffen, hätte er damit auf jeden Fall einen Gegenschlag der Asiatischen Allianz provoziert. Er wusste, welche Schäden die ersten Drei Stadien des Krieges angerichtet hatten, und hat deshalb alles darangesetzt, die endgültige Zerstörung der Welt, die er voraussah, doch noch abzuwenden.«
»Himmel, und wie erfolgreich er dabei war«, höhnt Stacia. »Wollen die Prüfer uns nicht genau das demonstrieren, wenn sie uns in die zerstörten Städte schicken? Sie suchen nach Kandidaten mit Killerinstinkt.«
»Das glaube ich nicht«, entgegne ich. »Mein Vater hat die Auslese überstanden, und er ist ein friedliebender Mensch. Er will Dinge erschaffen, nicht zerstören.«
Stacia zuckt mit den Schultern. »Tja, vielleicht hat er während der Evaluierung gelogen und dem Komitee erzählt, er hätte ein paar der Kandidaten auf dem Weg zurück in die Zivilisation umgelegt. Ich meine: Wie sollten sie je herausfinden, ob er gelogen hat? Es ist ja nicht so, dass sie sehen können, was wir unterwegs treiben, oder?«
Können sie das tatsächlich nicht? Mir fällt wieder die Kamera im Gleiter ein. In der Hütte, in der wir zu Mittag aßen, hatte es gleich mehrere davon gegeben. Auch in unseren Schlafquartieren im Prüfungszentrum waren wir überwacht worden. Von Chicago aus ist die direkteste Route nach Tosu-Stadt rund siebenhundert Meilen lang. Tomas’ Schätzung nach liegen mindestens zwanzig oder dreißig Meilen Land zwischen den beiden seitlichen Grenzlinien. Auf keinen Fall können die Prüfer genug Kameras in der gesamten Gegend stationiert haben, um uns auf Schritt und Tritt zu verfolgen. Aber was, wenn das gar nicht nötig wäre? Wenn es eine andere Möglichkeit gäbe, uns auf unserem Weg zu überwachen?
Unser Gespräch dreht sich nicht mehr länger um die Auslese, sondern wir erzählen von zu Hause. Tomas, Vic und Tracelyn tauschen Informationen über ihre jeweiligen Heimatkolonien aus. Die Tulsa-Kolonie hat mehr als siebzigtausend Einwohner, die im südlichen Teil dessen wohnen, was früher mal Tulsa, Oklahoma, und dessen unmittelbare Umgebung gewesen war. Eine Ölraffinerie ist noch immer in Betrieb, und Vics Vater ist dort angestellt. Tracelyns Eltern arbeiten beide in einem Kraftwerk, dem größten aller Kolonien. Stacia scheint kein Interesse daran zu haben, irgendetwas über ihre Familie preiszugeben. Sie legt sich einfach auf den Boden und starrt hinauf in den Himmel, wo durch den Dunst hindurch die ersten Sterne zu erahnen sind. Ich frage mich, was sie denkt, als die Jungen ihre Waffen vergleichen. Die beiden Mädchen haben sich für Messer entschieden. Vic hat, wie ich, in der Ausrüstungskammer nach einer Handfeuerwaffe gegriffen. Ich bin froh, dass sie uns ehrlich zeigen, welche Waffen sie zur Selbstverteidigung dabeihaben, frage mich jedoch, wie ich heute Nacht Schlaf finden soll, jetzt, da ich weiß, dass Kandidaten, denen ich nicht richtig vertraue, gut bewaffnet neben mir liegen.
Wir lassen das Feuer brennen und stellen Paare zusammen, die die Wache übernehmen, während die anderen sich ausruhen können: Vic und Tomas, mich und Tracelyn. Stacia fragt nicht einmal, warum sie keine Schicht zugeteilt bekommt, sondern rollt sich zu einem Ball zusammen und ist sofort eingeschlafen. Ich gebe Tomas meine Pistole, da er im ersten Team ist, und schließe meine Augen, während ich mich frage, ob diese Leute das bisschen Vertrauen, das wir zu ihnen haben, wirklich verdienen. Wenn nicht, werde ich morgen früh wohl nicht mehr aufwachen.
Aber meine Sorge ist unbegründet. Nach einigen Stunden Tiefschlaf werden Tracelyn und ich geweckt und warten Seite an Seite darauf, dass die Sonne aufgeht, um einen neuen Tag zu begrüßen. In der friedlichen Stille erfahre ich, dass Tracelyn Lehrerin werden möchte, falls sie es an die Universität schafft. Außerdem liebt sie einen Jungen in der Tulsa-Kolonie und hatte eigentlich vor, ihn zu heiraten. Er ist jedoch nicht für die Auslese ausgewählt worden, was bedeutet, dass sie sich vermutlich niemals wiedersehen werden.
»Du und dein Freund, ihr hattet großes Glück, dass die Wahl des Prüfungskomitees auf euch beide gefallen ist«, sagt sie in ihrer ruhigen, ernsten Art.
»Tomas ist nicht mein Freund.« Ich merke, wie mir die Röte in die Wangen steigt.
Sie lächelt mich breit an: »Du kannst mir viel erzählen. Er ist auf jeden Fall in dich verliebt.«
»Er passt nur auf mich auf. Du weißt schon, weil wir aus derselben Kolonie stammen«, sage ich, aber ich konnte nicht verhindern, dass mir bei Tracelyns Worten ein freudiger Schauer über den Rücken gelaufen war. Tief im Innern hoffe ich, dass sie recht hat, denn mit jedem Tag, der vergeht, spüre ich deutlicher, dass ich dabei bin, mich in Tomas zu verlieben.
Sie wechselt das Thema, und wir unterhalten uns über unsere Familien, die Tests, die wir bislang durchlaufen haben, und die Entfernung, die wir noch bewältigen müssen, um auch diesen Prüfungsteil zu bestehen. Tracelyn wirkt aufrichtig nett, vielleicht jedoch eine Spur zu vertrauensselig, und wenn ich das denke, will das schon was heißen. Ich erzähle ihr von unserer Erfahrung mit dem Teich und der tiefgrünen Oase, die uns am Ende um die Ohren geflogen ist. Ich weiß nicht, ob sie mir glaubt oder nicht, aber immerhin habe ich versucht, sie auf die Gefahren aufmerksam zu machen, die da draußen lauern.
Als der Tag anbricht, wachen auch unsere Begleiter auf. Stacia sitzt beim Frühstück abseits von uns. Zum Abschied würdigt sie Tomas und mich kaum eines Blickes und bricht eilig auf, ohne auf die anderen zu warten. Tomas und ich suchen das Dickicht, in dem wir unsere Fahrräder versteckt haben, tragen sie zur Straße und treten dann wieder in die Pedale. Meile um Meile legen wir zurück. Meine Gedanken bleiben bei den Kandidaten, die wir zurückgelassen haben, und ich frage mich, ob sie die Ziellinie überqueren werden. Stacia scheint fest entschlossen zu sein, und ich habe das Gefühl, dass sie es schaffen könnte. Doch irgendetwas an ihrem heimtückischen Lächeln und der Logik, die sie im Verhalten des Auslese-Prüfungskomitees sieht, lässt mich um ihre Begleiter bangen.
Während unsere Räder Meile für Meile fressen, grübele ich darüber nach, wie uns das Prüfungskomitee wohl bewerten will, wenn wir erst mal nach Tosu-Stadt zurückgekehrt sind. Nach allem, was ich bislang gesehen habe, kann ich nicht glauben, Dr. Barnes und die anderen Offiziellen könnten sich damit zufriedengeben, dass die Kandidaten berichten, was unterwegs geschehen ist. Das bedeutet, dass wir auf andere Weise überwacht werden. Vielleicht nicht die ganze Zeit über, aber hin und wieder. Auf jeden Fall häufig genug, damit die Prüfer ihr Urteil auf dieser Basis fällen können.
Als wir von der Straße abbiegen in der Hoffnung, auf einem verlassenen Bauernhof in der Nähe unser Lager aufschlagen zu können, bin ich mir ganz sicher, dass die Offiziellen unsere Handlungen irgendwie verfolgen. Aber um meine Theorie zu überprüfen, muss ich abwarten, bis wir uns zum Schlafen fertig machen. Habe ich recht, dann würde es den Prüfern nicht entgehen, wenn ich von der Routine abweichen würde, die Tomas und ich uns seit Beginn der Reise angewöhnt haben.
Im Westen sammeln sich Wolken, die Sturm zu bringen drohen, und weder Tomas noch ich haben Lust, im strömenden Regen im Freien zu übernachten. Eine verwitterte graue Holzscheune, die sich ein wenig nach links neigt, erregt unsere Aufmerksamkeit. Trotz der schiefen Wände scheint sie noch ganz stabil zu sein.
Wir gehen hinein und scheuchen eine Gruppe wilder Hühner auf. Vier Pistolenschüsse später liegen drei von ihnen zu unseren Füßen und warten darauf, gerupft und gebraten zu werden. In ihren Nestern finden wir vier hellbraune Eier, die wir uns fürs morgige Frühstück aufheben wollen. Während wir das Abendbrot zubereiten und essen, versuche ich nach Kräften, so zu tun, als wenn alles ganz normal wäre. Mehr als einmal jedoch wirft Tomas mir einen fragenden Blick zu. Schließlich haben wir unsere Mahlzeit beendet. Ich verstaue die Überreste in meiner Tasche und nutze die Gelegenheit dazu, nach etwas anderem zu suchen. In dem Augenblick, als sich meine Finger um das schließen, was mich so brennend interessiert, macht mein Herz einen erwartungsvollen Satz. Rasch ziehe ich meine Hand wieder heraus. In ihr verschlossen befindet sich das Erkennungsarmband, das ich dem toten Mädchen abgenommen habe, ehe wir es bestatteten.
Jeder Prüfungskandidat hat so eines – eigentlich sogar zwei, da eine kleinere Ausgabe davon mit unserem Symbol darauf an unseren Taschen befestigt ist. Man hat uns gesagt, wir müssten es Tag und Nacht tragen. Da die Verschlüsse schwer zu entdecken sind, bin ich mir sicher, dass sich die meisten Kandidaten an die Vorschrift gehalten haben. Die Armbänder dienen uns als Erkennungszeichen. Aber könnten sie auch eine unsichtbare Verbindung sein, die den Prüfern verrät, wo wir uns gerade befinden und was wir tun?
Das Armband ist weniger als einen Zentimeter dick und aus silberfarbenem Metall. Auf eine kleine Platte, die auf der Außenseite befestigt ist, hat man das Symbol des jeweiligen Kandidaten eingraviert, und hinten …
Da. In der Mitte, unmittelbar hinter der Gravur sehe ich drei Löcher, ganz winzig, wie von einer Nadel gestochen. Sie sind so klein, dass sie mir niemals aufgefallen wären, wenn ich nicht nach etwas Derartigem gesucht hätte. Aber sie verraten mir alles, was ich wissen will.
Irgendjemand belauscht uns.