Kapitel 3
Als ich die Vordertür öffne, brandet mir das fröhliche Gelächter meiner Familie entgegen. Ein großes Banner mit Gratulationen zum Schulabschluss begrüßt mich an der gegenüberliegenden Wand. Der ganze Küchentisch steht voller Platten, auf denen sich zur Feier des Tages Brot, Fleisch und Süßigkeiten türmen. Nun also wird diese Feier zugleich auch meine Abschiedsparty werden.
»Da ist sie«, schreit Zeen, als er mich im Eingang stehen sieht. »Ich habe euch doch gesagt, dass sie nicht zu spät auf ihrem eigenen Fest auftauchen wird. Nicht, wenn es Zimtbrote gibt.«
Mein Vater wendet sich mir mit einem Lächeln zu. Doch kaum fällt sein Blick auf die Tasche, die über meiner Schulter hängt, verflüchtigt sich das Strahlen auf seinem Gesicht, und in seinen Augen kann ich lesen, dass er sie wiedererkennt. »Du bist für die Auslese ausgewählt worden.«
Das Lachen im Raum verstummt schlagartig. Überall feierliche Gesichter, als sich alle Blicke auf mich richten, um meine Reaktion nicht zu verpassen. Obwohl ich mich so darüber freue, ausgewählt worden zu sein, wird mir die Kehle eng, als ich nicke. Absolventen der Universität ziehen dorthin, wo das Commonwealth sie hinschickt, nämlich an den Ort, wo ihre Fähigkeiten am meisten gebraucht werden. Wenn ich tatsächlich erfolgreich aus der Auslese hervorgehe, dann besteht nahezu keine Hoffnung darauf, jemals wieder nach Hause zurückzukehren.
Die Zwillinge fangen sich als Erste wieder. Bevor ich weiß, wie mir geschieht, haben die beiden Jungs mich in ihre Mitte genommen, und während sie mich fast zerquetschen, beglückwünschen sie mich lauthals. Dann umarmt mich Hamin. Seine Aufregung ist weniger überschwänglich, aber dennoch genauso echt. Meine Mutter kommt zu mir. Ihre Hände zittern, als sie mich an sich drückt. Doch ihr Lächeln ist voller Stolz, und sie fragt aufgeregt, was ich mitnehmen darf und wann ich aufbrechen muss. Mir bleibt kaum Zeit, ihr zu antworten; ich bemerke gerade noch, wie Zeen aus dem Zimmer schlüpft, da verrät mir ein Klopfen an der Tür, dass meine Freundinnen da sind.
Ich bin so froh, sie alle zu sehen, insbesondere Daileen. Wie glücklich ich bin, dass ich die Chance habe, mich persönlich von allen zu verabschieden. Wieder höre ich begeisterte Rufe, aber ich sehe auch viele Tränen, als ich berichte, dass ich für die Auslese bestimmt worden bin. Ich erzähle ihnen, wer die anderen Kandidaten sind. Daileens Freude – und zugleich ihre Traurigkeit – sind am größten. Sie versucht, sich nicht anmerken zu lassen, wie schwer ihr ums Herz ist, und sie versteckt ihre Wehmut hinter einem breiten Lächeln. Doch im Laufe der Feier bemerke ich, dass sie sich mehr und mehr im Hintergrund hält, sich von mir und von den anderen zurückzieht, die sie schon immer viel mehr für meine Freundinnen gehalten hat als sich selbst. Um sie habe ich Angst. Die Mitglieder meiner Familie werden mich natürlich vermissen, aber sie haben ja immer noch einander. Daileen hat nun niemanden mehr.
Das ist auch der Grund, warum ich mich als Erstes von Lyane Maddows verabschiede, nachdem meine Mutter verkündet hat, dass die Party ein frühes Ende finden muss. Lyane hat sich von der allgemeinen Aufregung nicht anstecken lassen und versucht auch nicht, meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Stattdessen wartet sie still neben der Tür darauf, dass meine Brüder sie nach Hause begleiten. Lyane und ich sind nicht die besten Freundinnen. Wir sagen uns zwar immer »Hallo«, wenn wir einander begegnen, aber wir sitzen fast nie beim Mittagessen beisammen oder plaudern auch nicht nach der Schule. Lyane und ich sind auf andere Weise verbunden, was der Grund dafür ist, dass ich sie heute eingeladen habe. Ich weiß, dass sie es nicht vergessen hat. Und ich hoffe, dass ihre Erinnerung dafür sorgt, dass ich auf sie zählen kann.
Die anderen Mädchen hinter mir unterhalten sich noch immer laut und aufgeregt, während ich die Arme um Lyane schlinge und sie an mich ziehe. Ihre Schultern verkrampfen sich vor Überraschung, aber sie löst sich nicht aus meiner Umarmung. Ich flüstere ihr ins Ohr: »Daileen braucht eine Freundin, wenn ich morgen aufbreche. Kannst du ein Auge auf sie haben und dafür sorgen, dass sie nicht allein bleibt? Bitte!«
Lyane drückt mich. Ich kann beinahe körperlich spüren, wie sie sich mein Anliegen durch den Kopf gehen lässt. Als sie mir ihre Antwort zuflüstert, steigen mir vor Erleichterung und Dankbarkeit die Tränen in die Augen. Daileen wird nicht einsam sein.
Ohne noch einmal zurückzublicken, verlässt Lyane das Haus. Ich drehe mich um und verabschiede mich von den anderen. Daileen ist die Letzte. Ich sehe, wie sehr sie gegen ihre Tränen ankämpft, als sie verspricht, nächstes Jahr nach Tosu-Stadt nachzukommen. »Ich werde härter arbeiten als jemals zuvor. Es wird ihnen gar nichts anderes übrig bleiben, als mich auch für die Auslese auszuwählen.«
Ich höre Lyanes Stimme, die von draußen hereinruft: »Daileen, kommst du mit mir mit?« Und diese Worte sind es, die verhindern, dass mir das Herz bricht, als ich Daileen hinterherschaue, wie sie davongeht. Lyane weiß, wie dunkel die Welt ist, wenn man zu viel allein ist, und wie sich diese Einsamkeit auf einen Menschen auswirken kann. Vor vier Jahren habe ich ihr dabei geholfen, der Finsternis zu entkommen. Damals habe ich sie an der Grenze der Kolonie gefunden, wo sie über den Rand hinab in die Schlucht starrte und sich anschickte zu springen. Nur dass ich das nicht zuließ. Stattdessen brachte ich sie zum Reden. Über ihren Vater, der bei der Regierung in Tosu-Stadt arbeitete, und ihre Mutter, die das Leben in Five Lakes hasste und ihre Frustration und ihren Zorn an ihrer Tochter ausließ. Soweit ich weiß, hat Lyane niemandem sonst die Narben der Verletzungen gezeigt, die ihre Mutter ihr zugefügt hatte. Mit der Hilfe meines Vaters und der Magistratin konnte Lyanes Mutter zu ihrem Mann nach Tosu-Stadt ziehen, während Lyane von einer anderen Familie in Five Lakes aufgenommen wurde und endlich wieder Gründe hatte zu lächeln. Ich vertraue darauf, dass Lyane auch Daileen dabei helfen wird, ihr Lächeln wiederzufinden.
Nun, da meine Brüder meine Freundinnen nach Hause begleiten, kommt mir unser Heim viel größer vor. Ich helfe meinen Eltern dabei, das Geschirr abzuräumen und das Wohnzimmer wieder in Ordnung zu bringen. Unser jetziges Haus ist im Vergleich zu den meisten Unterkünften geräumig. Zusätzlich zu dem Wohnbereich in der Mitte haben wir hinten im Haus noch zwei weitere Räume. Auf der rechten Seite liegt das Schlafzimmer meiner Eltern. Meine Brüder und ich sind auf der linken Seite untergebracht, doch Zeen und Hamin schnarchen so laut, dass ich es mir angewöhnt habe, auf einigen Decken vor dem Kamin im Wohnzimmer zu nächtigen. Ich lächele. Nach Tosu-Stadt zu gehen – und dort die Prüfung abzulegen! – bedeutet, dass ich wohl wieder in einem richtigen Bett schlafen werde.
Während wir aufräumen, sagt mir Mom, was ich mitnehmen soll und wie ich mich in der Stadt zu verhalten habe. Mehr als einmal hält sie mitten in der Arbeit inne, und ihr steigen die Tränen in die Augen bei der Vorstellung, dass ich von ihren Kindern die Erste bin, die das Haus verlässt. In diesen Momenten schweigt mein Vater, aber ich kann ihm ansehen, dass er gerne etwas sagen würde.
Als alle Teller abgewaschen und weggestellt sind, fragt mein Vater: »Warum gehen wir nicht ein Stück spazieren?« Meine Mutter will protestieren, doch er kommt ihr zuvor: »Ich weiß, dass Cia packen muss, aber bevor die Jungs wieder zurückkommen und hier alles drunter und drüber geht, will ich noch ein paar ruhige Minuten mit meinem kleinen Mädchen verbringen.«
Meine Mutter schnieft, und mein Herz verkrampft sich, als ich zusammen mit meinem Vater hinaus in die einbrechende Dunkelheit gehe.
Dad nimmt meine Hand, und gemeinsam laufen wir ums Haus herum zu den dahinterliegenden Gärten. Ein fahler Mond und vernebelte Sterne beginnen sich über uns abzuzeichnen. Man sagt, dass es mal eine Zeit gegeben habe, in der der Himmel klar gewesen sei. In einer wolkenlosen Nacht sollen die Sterne wie Diamanten gefunkelt haben. Vielleicht stimmt das. Aber es ist schwer vorstellbar.
Als wir den Gartenbereich fast erreicht haben, betätigt mein Vater einen Schalter an der Rückseite des Hauses. Zuerst ist nur ein Summen zu hören, dann gehen nach und nach Lichter an und erhellen den Hinterhof, sodass die wunderschönen Gänseblümchen, die Rosen und das Gemüse angestrahlt werden. Die Pflanzen gehören meinem Dad und meinen Brüdern, aber die Beleuchtung ist meine. In der Kolonie gibt es strenge Vorschriften, die den Gebrauch von Elektrizität regeln. Die Möglichkeiten zur Erzeugung und Speicherung von Strom sind in unserer Gegend sehr begrenzt. Die meisten Wohnhäuser verwenden gar keinen Strom, es sei denn, sie können ihren eigenen produzieren. Nicht viele machen sich diese Mühe, denn Kerzen und Fackeln erfüllen ihre Aufgaben gut. Vor ein paar Jahren habe ich beschlossen, mich der Herausforderung zu stellen, und habe Dad dazu überredet, mich mit ausrangierten Bewässerungsrohren, übrig gebliebenen Kupferscheiben und Draht herumexperimentieren zu lassen. Ich habe Mom einige Glasgefäße abgeschwatzt, ein wenig von unserem kostbaren Salz und eine ganze Reihe von sonstigem Kleinkram. Dann habe ich mich an die Arbeit gemacht. Das Ergebnis ist ein Netz von fünfzehn Lampen, die alle mithilfe der Energie betrieben werden, die meine Solarstationen im Laufe des Tages speichern. Obwohl ich inzwischen ein weit ausgeklügelteres System entwickeln könnte, besteht Dad darauf, das alte weiter zu benutzen. Dies ist schon der dritte Hinterhof, der davon beleuchtet wird. Kurz frage ich mich, wie lange es wohl noch dauern wird, bis wir wieder umziehen und es anderswo neu aufbauen müssen. Dann fällt mir ein, dass ich, wenn die Zeit dafür gekommen ist, gar nicht dabei sein werde, um zu helfen.
Dad führt mich zu der Eichenbank, die Hamin gebaut und Mom zum Geburtstag geschenkt hat, und setzt sich. Ich nehme neben ihm Platz und warte darauf, dass er etwas sagt.
Grillen zirpen. Der Wind raschelt in den Ästen der Bäume über uns. Irgendwo in den länger werdenden Schatten höre ich das schwache Heulen von Wölfen und die Geräusche anderer Tiere, die nachts auf Jagd gehen.
Nach einer Ewigkeit, wie mir scheint, nimmt Dad meine Hand und hält sie ganz fest. Als er zu sprechen anfängt, muss ich mich ganz nah an ihn anlehnen.
»Es gibt Dinge, von denen ich dir noch nie erzählt habe. Ich hatte gehofft, dass das auch in Zukunft so bleiben könnte, und ich bin mir nicht sicher, ob es richtig ist, wenn ich mein Schweigen jetzt breche.«
Ich richte mich auf. »Geht es um Tosu-Stadt?«
Dad hat bislang weder über die Auslese gesprochen noch viel von seiner Zeit an der Universität erzählt, egal wie viele Fragen ich ihm auch gestellt habe. Ich fühle mich ihm plötzlich ganz nah bei dem Wissen, dass ich bald die gleichen Erfahrungen wie er machen werde. Doch schon einen Augenblick später wird diese Stimmung jäh zerstört.
»Du hättest nie ausgewählt werden dürfen.«
Seine Worte sind wie ein Schlag ins Gesicht. Ich versuche, meine Hand wegzuziehen, aber mein Vater hält sie ganz fest. Seine Augen starren in die Dunkelheit, doch der Ausdruck auf seinem Gesicht verrät mir, dass er gar nichts wahrnimmt. Da liegt eine Angst in seinen Zügen, die mich sofort vergessen lässt, dass mich seine Worte verletzt haben. Ein angstvoller Knoten scheint in meiner Brust zu wachsen, als sich Dads und meine Blicke begegnen.
»Meine Eltern und ich haben immer davon geträumt, dass ich für die Auslese ausgewählt werden würde. Unsere Familie hatte kaum genug zum Überleben. Die Omaha-Kolonie war eine der größten Kolonien im Commonwealth. Dort lebten einfach zu viele Menschen, und es gab nicht genug Ressourcen und auch nicht ausreichend Nahrung für alle. Jeder von uns hatte irgendjemanden gekannt, der verhungert war. Meine Eltern glaubten daran, dass ich dabei würde helfen können, die Missstände zu beseitigen und das Gleichgewicht der Erde wiederherzustellen. Und ich wollte, dass sie das Geld bekämen, das die Regierung den Familien der Prüflinge zukommen lässt, um den Verlust einer Schülerin oder eines Schülers zu kompensieren. Außerdem muss ich zugeben, dass ein großer Teil von mir meinen Eltern glaubte. Ich war ebenfalls davon überzeugt, dass ich mich als hilfreich erweisen würde. Ich wollte es einfach versuchen.«
Dass die Regierung die Familien der Kandidaten für die Auslese entschädigt, ist neu für mich. Zu gerne möchte ich wissen, ob er und Mom auch Geld erhalten, wenn ich abgereist bin, doch ich stelle meine Frage zurück, als Dad fortfährt: »Damals gab es nur vierzehn Kolonien. Einundsiebzig von uns Schülern versammelten sich im Prüfungszentrum. Man hat mir erzählt, dass sich die Prüfung für meine Klasse über vier Wochen erstreckte. Ich erinnere mich an keinen einzigen Tag davon. Sechzehn von uns wurden ausgewählt, um weiterzumachen. Der Vorsitzende des Prüfungskomitees sagte, dass die Erinnerungen an die Prüfung nach dem Ende des Verfahrens aus dem Gedächtnis der Prüflinge gelöscht würden, damit die Vertraulichkeit gewährleistet bliebe.«
»Also kannst du mir gar nicht sagen, wie die Auslese ablaufen wird?« Eine Welle der Enttäuschung erfasst mich. Ich hatte darauf gehofft, dass mich die Erfahrung meines Vaters auf das, was vor mir liegt, vorbereiten und mir vielleicht sogar einen Vorteil verschaffen könnte. Zweifellos war es genau das, was die Regierung des Commonwealth verhindern wollte, indem sie meinem Vater seine Erinnerungen nahm.
»Ich entsinne mich noch, wie ich im Prüfungszentrum ankam und dass ich mir ein Zimmer mit Geoff Billings teilte. Auch dass wir mit Gläsern, gefüllt mit frischer Milch, auf unsere glänzende Zukunft anstießen und Kuchen aßen, weiß ich noch. Es gab viel zu essen, und alle waren schrecklich aufgeregt. In jener ersten Nacht konnten wir kaum schlafen, denn uns war klar, dass unsere Träume schon am kommenden Tag platzen konnten, falls wir in der Prüfung nicht gut abschnitten. Das Nächste, woran ich mich wieder erinnere, ist, dass ich in einem Raum voller Stühle sitze und mir mitgeteilt wird, dass die Prüfung jetzt vorbei sei. Drei Wochen später habe ich mit den Vorlesungen an der Universität begonnen. Geoff war nicht dabei, ebenso wenig die beiden Mädchen aus meiner Kolonie, die mit mir gemeinsam aufgebrochen waren.«
Irgendwo im Dunkel der Nacht schreit eine Eule, aber Dad scheint sie nicht zu hören. »Die Universität war eine Herausforderung. Ich ging gerne in die Veranstaltungen, denn mir gefiel das Gefühl, etwas Wichtiges zu tun. Meine Eltern ließen mich wissen, dass sie wohlauf und sehr stolz auf mich seien. Ich war glücklich und verschwendete keinen Gedanken an Geoff oder die anderen Prüflinge, die nicht bestanden hatten.«
Er schließt die Augen, und ich sitze neben ihm und frage mich, wie es sich anfühlen würde, die Erinnerungen an meine Freunde zu verlieren. Wie es wäre, wenn ich mich nur an den Tag erinnerte, an dem ich Daileen zum ersten Mal traf, nicht jedoch an unser Gekicher und die Abenteuer, die wir zusammen durchgestanden haben. Allein bei dem Gedanken könnte ich weinen, und ich verschränke meine Finger mit denen von Dad, um uns beiden ein bisschen Trost zu spenden.
»Nach meinem Abschluss verschlug es mich in die Lenox-Kolonie. Dort gab es einen Botaniker, der kurz vor einem Durchbruch stand, und das Commonwealth glaubte, dass meine Ideen ihm weiterhelfen könnten. In dieser Kolonie arbeitete ich ein Jahr, ehe ich zufällig einen Burschen traf, der mich an Geoff erinnerte. In jener Nacht begannen meine Träume. Ich wachte völlig verschwitzt und mit rasendem Herz auf, ohne zu wissen, warum. Keine Nacht verging mehr ungestört. Meine Arbeit begann darunter zu leiden, und die Mediziner der Regierung gaben mir Pillen, die mir zu besserem Schlaf verhelfen sollten. Aber die Tabletten verscheuchten die Träume nicht. Sie machten es mir nur noch schwerer, ihnen zu entkommen. Nach und nach begann ich, mich auch bei Tag an die Träume zu erinnern. Zuerst blitzten sie nur kurz auf. Geoff und ich befinden uns in einem weißen Raum mit schwarzen Tischen, und er streckt mir die beiden hochgereckten Daumen entgegen. Eine große Uhr mit roten Ziffern zählt runter, während meine Finger sich an drei blauen Drähten zu schaffen machen. Ein Mädchen schreit.«
Mein Vater lässt meine Hand los und steht auf. Angst durchzuckt mich, als ich sehe, wie er sich durch die Haare streicht und dann auf und ab zu laufen beginnt. »Die aufblitzenden Momente wurden seltener, aber von nun an hatte ich immer wieder denselben Traum. Geoff, ein Mädchen namens Mina und ich laufen eine Straße hinunter, die von ausgebrannten Stahlruinen gesäumt ist. Überall auf der Fahrbahn liegen Glasscherben. Wir halten Ausschau nach Wasser und einem Schlafplatz für die Nacht. Die Häuser rings um uns sind so schwer zerstört, dass wir uns nicht trauen, in ihnen Schutz zu suchen. Doch uns ist klar, dass uns nichts anderes übrig bleiben wird, denn wir haben gesehen, wie nachts Raubtiere umherstreifen. Mina humpelt. Ich entdecke einen langen, dicken Ast und biete ihr an, daraus einen Krückstock zu machen. Während ich beschäftigt bin, geht Geoff einige Blöcke vor und sieht sich um. Mina ruft ihm zu, er solle sich nicht zu weit von uns entfernen. Er verspricht es uns. Einige Minuten später schreit er, er habe etwas gefunden. Und dann explodiert die ganze Welt.«
Dad verstummt. Mein Herz hämmert laut in meiner Brust. Dads Stimme ist so leise geworden, dass ich mich vorbeugen muss, um ihn zu verstehen, als er weiterspricht. »Mina finde ich als Erstes, halb unter einem Betonklotz begraben. Blut läuft ihr übers Gesicht.«
Dad schluckt schwer. Sein Atem geht stoßweise. Seine herunterhängenden Hände ballen sich zu Fäusten und öffnen sich wieder. Ich sehe, dass er aufhören will zu sprechen. Und ich wünsche mir nichts mehr, als dass er es dabei belässt. Das fühlt sich alles viel zu echt an. Ich kann das Blut sehen, und ich kann die Angst meines Vaters spüren.
»Einen von Geoffs Stiefeln finde ich gut drei Meter von Minas Körper entfernt. Ich brauche eine Minute, bis ich begreife, dass sein Fuß noch immer im Stiefel steckt, dann fange ich an zu schreien. An dieser Stelle endet der Traum.«
Einen Augenblick lang ist die Nacht um uns herum still. Es sind keine Eulen mehr zu hören. Keine Nachtfalter flattern. Da ist nur das Bild eines Jungen, der nicht viel älter ist als ich und der in Stücke gerissen auf einer verlassenen Straße liegt. Ein Junge, der aufgebrochen war, um sich prüfen zu lassen …
»Das war doch nur ein Traum.« Das hat Dad immer zu mir gesagt, wenn ich einen Albtraum hatte, und ich habe es ihm stets abgenommen. Auch jetzt noch möchte ich das glauben.
»Vielleicht.« Mein Vater blickt auf. Als ich den gequälten Ausdruck tief in seinen Augen sehe, halte ich den Atem an. »Jahrelang habe ich mir eingeredet, es sei nur ein Traum. Ich habe mich damit getröstet, dass ich im Wachzustand keinerlei Erinnerung an ein Mädchen namens Mina habe. Bei unseren Experimenten gelang uns ein Durchbruch nach dem anderen. Neue Pflanzen, an deren Züchtung ich beteiligt war, begannen zu gedeihen. Aber keiner Menschenseele habe ich je von meinen Träumen erzählt. Dann hat mir das Commonwealth einen Job in Five Lakes zugewiesen. Gott, was war ich wütend. Für mich war es eine Beleidigung, nach Five Lakes geschickt zu werden. Nur eine Handvoll Universitätsabsolventen hat es hierher verschlagen. Als ich ankam, gab es nicht einmal ein eigenes Haus für mich. Ich musste im Wohnzimmer von Flint Carro schlafen.«
Diesen Teil der Geschichte kenne ich gut. Normalerweise erzählt Dad ihn mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Wie er sich mit dem Arzt der Kolonie anfreundete und von Flint in ein Schneidergeschäft geschleppt wurde, wo er meine Mutter an einem Webstuhl arbeiten sah. Wie er sich sofort in ihre Anmut und in ihre freundliche Art verliebte.
Aber darum geht es dieses Mal nicht. Und heute lächelt mein Vater auch nicht.
»Flints Haus ist klein. Dort konnte ich meine nächtlichen Albträume nicht verheimlichen. Flint ließ eine Woche verstreichen, ehe er mich darauf ansprach. Ich versuchte, alles herunterzuspielen. Da erzählte er mir von seinen eigenen Träumen. Sie waren nicht ganz so beängstigend, aber ebenfalls verstörend. Gesichter von Menschen, an die er sich nicht erinnern konnte. Immer wartete er darauf, dass Freunde von der Examensprüfung zurückkämen, doch sie kamen nie. Im Laufe des folgenden Jahres sprachen Flint und ich mit den anderen Uniabsolventen. Zu dieser Zeit waren wir zu siebt. Wir mussten vorsichtig sein, weil jeder Mitarbeiter des Commonwealth mit den Offiziellen in Tosu-Stadt in Verbindung steht. Wir wollten unsere Jobs nicht aufs Spiel setzen. Ich bin mir sicher, dass vier der anderen nachts wenigstens schlafen konnten, aber eine, nämlich die Schulleiterin, hatte etwas Gehetztes im Blick, das ich wiedererkannte. Sie bestritt zwar, dass sie unter schlimmen Träumen litt, aber ich war mir immer sicher, dass sie nicht die Wahrheit sagte.«
»Das kannst du doch gar nicht wissen.« Ich stehe auf und verschränke meine Arme vor der Brust, während ich darauf warte, dass er mir zustimmt. Es ist mir ungeheuer wichtig, dass er mir beipflichtet.
Dad sucht meinen Blick. »Nein. Aber solange sie für die Schule verantwortlich war, wurde nur ein einziger Schüler der Abschlussklasse für die Prüfung ausgewählt. Ich glaube nicht, dass das ein Zufall war. Du etwa?« Mir läuft ein eisiger Schauer über den Rücken. Ich weiß nicht, was ich noch denken soll. Es ist unvorstellbar, dass die Träume meines Vaters mehr als nur nächtliche Hirngespinste sein sollen. Morgen werde ich nach Tosu-Stadt aufbrechen. Am Ende der Woche wird meine Auslese beginnen. Eine Weigerung zu gehen wäre Hochverrat mit allen Konsequenzen. Ich will schreien und meinen Vater anbrüllen, aber ich kann nur dastehen und zittern.
Dad legt seinen Arm um mich und führt mich zurück zur Bank. Ich lehne mich an seine Schulter, wie ich es früher immer tat, als ich noch ein Kind gewesen war. Einen Augenblick lang fühle ich mich geborgen, aber das hält nicht lange an.
»Flint sagt, das Verfahren, mit dem sie unser Gedächtnis löschen, könnte für diese Träume verantwortlich sein. Vielleicht gaukeln uns unsere Gehirne falsche Erinnerungen vor, um jene zu ersetzen, die uns genommen wurden.«
»Aber du glaubst das nicht.«
Er schüttelt den Kopf. »Ich war so dankbar, dass damals, als deine Brüder die Schule beendeten, keiner aus Tosu-Stadt kam, um sie für die Prüfung abzuholen. Gestern habe ich deinen Bruder enttäuscht, als ich ihn nicht öffentlich lobte, wie es ihm zugestanden hätte. Aber die Magistratin hatte gehört, dass ein Abgesandter aus Tosu unterwegs sei. Ich wollte nicht riskieren, dass irgendjemand auf die Idee käme, es gäbe hier vielleicht junge Leute, die man früher hätte auswählen sollen, und dass man die Absolventen vergangener Jahre möglicherweise noch einmal neu bewerten müsste.«
Er zieht mich eng an sich und stützt sein Kinn auf meinen Kopf. Eine Träne tropft auf meine Wange, doch es ist nicht meine eigene. Mein Vater, der immer so stark und klug und selbstsicher gewesen ist, weint.
»Und was jetzt?« Ich winde mich aus seinen Armen und springe wütend auf. Ich nehme es ihm übel, dass er sich während unserer vielen Spaziergänge und Unterhaltungen mir kein einziges Mal anvertraut hat. Nicht ein einziges Mal, wenn ich bis spät in die Nacht hinein arbeitete, um gut in einem Test abzuschneiden, sprach er darüber, was die Konsequenzen sein könnten. »Ich werde morgen aufbrechen. Warum erzählst du mir jetzt davon? Wozu soll das gut sein?«
Während meine eigene Stimme laut und aufgeregt geworden ist, bleibt mein Vater leise. »Vielleicht bringt es nichts. Vielleicht hat Flint recht, und unsere Träume sind nur Hirngespinste. Aber wenn die Möglichkeit besteht, dass das nicht der Fall ist, solltest du lieber Bescheid wissen. Es ist besser, wenn du in Tosu-Stadt darauf gefasst bist, alles, was du siehst, und jeden, den du triffst, zu hinterfragen. Das könnte den Unterschied zwischen Bestehen und Versagen ausmachen.« Er tritt zu mir und legt mir die Hände auf die Schultern. Ich will mich von ihm lösen, aber dann sehe ich wieder die Tränen in seinen Augen, die im Schein der Lampen glänzen. Da bricht jeder Widerstand in mir zusammen.
»Weiß Mom davon?« Normalerweise würde ich davon ausgehen, aber im Moment bin ich mir bei gar nichts mehr sicher.
»Deine Mutter weiß davon, dass mein Gedächtnis gelöscht wurde und dass ich Albträume habe, aber nicht, was in ihnen geschieht.«
Ich lasse mir seine Worte durch den Kopf gehen und suche in ihnen nach der Wahrheit. »Das ist also der Grund, warum Mom nicht wollte, dass ich ausgewählt werde?«
Mein Vater legt mir eine Hand auf die Wange und streichelt sie mit dem Daumen. »Cia, ich habe meine Eltern nicht mehr wiedergesehen, seitdem ich zur Auslese aufgebrochen bin. Es ist eine Ehre, wenn das eigene Kind ausgewählt wird, aber es bedeutet auch einen Verlust. Deine Mutter will dich nicht verlieren.«
Ich weiß nicht, wie lange wir schweigend nebeneinandersitzen. Lange genug, um die Stimmen meiner Brüder bei ihrer Rückkehr zu hören und auch die meiner Mutter, die mit den Jungs schimpft, weil sie Süßigkeiten stibitzen. Es klingt alles so normal.
Als die Tränen auf meinem Gesicht getrocknet sind, nimmt mein Vater meine Hand und kehrt mit mir ins Haus zurück. Wir erwähnen die Träume meines Vaters und meine eigenen neuen Ängste mit keinem Wort, sondern hören zu, wie Hamin die Zwillinge damit aufzieht, dass meine Freundinnen mit ihnen zu flirten versuchen. Mom stellt einen Teller mit kleinen Küchlein und gesüßtem Pfefferminztee auf den Tisch, während meine Brüder ein Kartenspiel holen, damit wir ein letztes Mal als Familie eine Partie spielen können. Obwohl ich das Gelächter und die Wärme am Tisch genieße, fühlt sich die Runde nicht vollständig an, solange Zeen, der noch nicht wieder zurückgekehrt ist, fehlt. Mehr als einmal ertappe ich mich dabei, wie ich die Vordertür im Auge behalte. Natürlich liebe ich alle meine Brüder, aber es ist Zeen, an den ich mich wende, wenn ich ein Problem habe, über das ich reden möchte. Zeen ist immer so geduldig und einfühlsam. Er stellt Fragen, und immer fühle ich mich nach unseren Gesprächen besser. Heute Abend habe ich ein echtes Problem, aber Zeen ist nicht hier.
Als das Spiel vorbei ist, erinnert mich unsere Mom leise daran, wie spät es schon ist und dass ich noch etwas zu tun habe. Ich entschuldige mich, nehme die Commonwealth-Tasche und schlüpfe in das Schlafzimmer, das ich mir mit meinen Brüdern teile.
Der Gedanke, dass ich diesen Raum vielleicht nie wiedersehen werde, lässt ihn mich mit anderen Augen betrachten. Ein Feuer brennt im Kamin, der in der hinteren Wand eingelassen ist. In der Mitte des Zimmers liegt ein abgetretener, quadratischer brauner Teppich. Zwei Etagenbetten stehen rechts und links davon. Nur das eine untere Bett ganz nah am Feuer, das meins ist, ist ordentlich gemacht, und die Tagesdecke darauf ist glattgestrichen. Als meine Brüder von der Schule abgingen, beschloss meine Mutter, dass sie nun alt genug seien, um ihre Betten selbst zu machen. Und die Jungs entschieden, dass sie alt genug seien, um sich nicht darum zu kümmern, ob sie in Betten mit ordentlich weggesteckten Laken schliefen oder nicht.
Wir haben jeder eine Holztruhe für unsere Alltagskleidung und für die Schuhe. Die Anziehsachen für besondere Anlässe hängen in dem großen Kleiderschrank, ebenfalls aus Holz, in der Ecke. Meine Mutter spricht häufig davon, wie wichtig der erste Eindruck sei. Unschlüssig kaue ich auf meiner Unterlippe herum und wäge meine einzelnen Kleidungsstücke gegeneinander ab. Es ist immer leichter, sich selbstbewusst zu fühlen, wenn man irgendetwas Besonderes trägt, aber in Gedanken höre ich wieder die Stimme meines Vaters. Ich stelle mir die einsame Straße in der Stadt vor, die er in seinen Träumen entlanggelaufen ist. Die beiden Kleider, die ich besitze, würden mir da nicht viel helfen. Und selbst wenn seine Träume nichts mit der Realität zu tun hatten, bin ich tief in meinem Herzen davon überzeugt, dass mir hübsche Bekleidung während der Prüfung nicht viel nützen würde.
Also lasse ich die Festtagsgarderobe links liegen und gehe zur Holztruhe, die ich benutze, seit ich ein kleines Kind gewesen bin. Ich hole zwei dicke, gut sitzende Hosen heraus, zwei derbe Hemden und meine bequemsten Stiefel. All diese Sachen haben früher meinen Brüdern gehört. Die Vorstellung, ein Stück von ihnen mitnehmen zu können, lindert ein wenig die Einsamkeit, die sich breitzumachen droht. Ich suche mein Nachtzeug und meine Unterwäsche heraus und verstaue alles sorgfältig in meiner Tasche. Es ist immer noch mehr als genug Platz für die zwei persönlichen Gegenstände, die mir erlaubt sind.
Ich setze mich auf meine Bettkante und lasse den Blick durch den Raum schweifen. Wenn mein Vater mir nicht von seinen Träumen erzählt hätte, dann hätte ich meine Flöte oder die silberne Halskette eingepackt, die mir meine Mutter zu meinem sechzehnten Geburtstag geschenkt hat. Stattdessen jedoch denke ich nun darüber nach, was sich als hilfreich erweisen könnte, falls ich für die Prüfung mehr als Bleistift und Papier benötigen würde.
Nach einigen Minuten rutsche ich vom Bett und krame ein kleines Taschenmesser aus meiner Truhe. Jeder meiner Brüder hat ein ähnliches Messer – ein Geschenk von unserem Dad; auch ein Schraubenzieher und noch einige andere Vorrichtungen sind daran befestigt. Dies wird einer meiner beiden Gegenstände sein. Nun muss ich mich noch für einen weiteren entscheiden. Mir fällt nur ein einziger ein, aber der gehört mir nicht. Und Zeen ist nicht da, damit ich ihn um Erlaubnis bitten kann, ihn mitnehmen zu dürfen.
Im letzten Jahr fing Dad an, Zeen an seinen eigenen Projekten arbeiten zu lassen. Einige davon führten ihn über die Grenzen der Kolonie hinaus. Diese Grenzen sind weniger dazu gedacht, Menschen oder Tiere fernzuhalten, sondern sie sollen die Bewohner der Five-Lakes-Kolonie daran erinnern, dass das Land jenseits davon eine potenzielle Bedrohung ist. Giftige Pflanzen und Tiere auf der Suche nach Beute sind nur ein Teil der Gefahr. Während der letzten Drei Stadien des Krieges haben gewaltige Beben die Erdoberfläche aufgerissen. Ein einsamer Wanderer, der in eine dieser Spalten fällt, kann leicht an einem gebrochenen Genick, seinen Erfrierungen oder hungers sterben, während er ausgeliefert auf dem Grund der Schlucht auf Hilfe wartet. Zum Schutz vor dem Erfrieren oder Verhungern hat Dad Zeen ein handtellergroßes Gerät geschenkt, das Transit-Kommunikator genannt wird. Die Regierung des Commonwealth hatte es ihm zugeschickt. Dieses Gerät verfügt sowohl über einen Kompass als auch über einen Taschenrechner, und das Kommunikationssystem würde es Zeen ermöglichen, sich mit dem entsprechenden Gerät in Dads Büro zu verbinden, falls es jemals ein Problem geben sollte. Ich weiß nicht, wie es funktioniert, aber ich wette, dass ich das herausfinden würde, falls es jemals nötig sein sollte.
Wenn Zeen nicht außerhalb der Grenzen arbeitet, dann bewahrt er das Gerät auf einem Regal neben seinem Bett auf. Und tatsächlich. Mein Herz pocht, als sich meine Finger darum schließen. Ich wünschte, Zeen wäre da und würde mir erlauben, das Gerät mitzunehmen. Ich will von ihm hören, dass er es mir verzeiht, weil ich für die Auslese ausgewählt worden bin, er hingegen nicht. Wie gerne würde ich Zeen erzählen, dass unser Vater nur versucht hat, ihn zu schützen, als er gestern die Neuigkeiten über die Kartoffelzüchtung bekannt gab. Er sollte wissen, dass Dad nicht aus egoistischen Motiven heraus, sondern aus Liebe gehandelt hat.
Ich wickele den Transit-Kommunikator in ein Paar Socken, um ihn gegen Stöße zu schützen, und schiebe ihn in meine Tasche. Währenddessen hoffe ich darauf, dass Zeen noch rechtzeitig genug zurückkommt, damit ich ihm erzählen kann, dass ich etwas von ihm mit nach Tosu-Stadt nehmen werde. Aber tief in meinem Innern weiß ich, dass er es nicht schaffen wird. Zeen ist der klügste meiner Brüder, aber auch der weichherzigste. Win, Hart und Hamin sind liebevoll und freundlich, aber sie nehmen das Leben mit einer Leichtigkeit, an der unsere Mutter manchmal schier verzweifelt. Zeen hingegen ist leidenschaftlich und temperamentvoll. Er regt sich schnell auf, doch seine Liebe ist grenzenlos. Für ihn ist die Vorstellung, jemanden zu verlieren, an dem sein Herz hängt, einfach unerträglich. Als unser Großvater starb, sagte er beinahe einen ganzen Monat lang kein einziges Wort.
Ich setze mich auf Zeens Bett und schreibe ihm eine Nachricht, in der ich ihn bitte, mir den Kommunikator auszuleihen, und in der ich ihm noch einmal sage, wie viel er mir bedeutet. Das ist zwar nicht die Verabschiedung, die ich mir erhoffe, aber es ist besser als nichts.
Nun, da ich meine Sachen zusammengesucht habe, steigt Panik in mir auf. Morgen schon werde ich alles, was mir lieb und teuer ist, hinter mir lassen und stattdessen einen Weg einschlagen, der unbekannt und möglicherweise gefährlich ist. Nichts auf der Welt würde ich jetzt lieber tun, als in mein Bett zu klettern und mir die Decke über den Kopf zu ziehen. Stattdessen jedoch schließe ich die Tasche, hänge sie mir über die Schulter und gehe wieder hinaus zu meiner Familie. Ich will versuchen, die letzten Stunden, die mir in ihrem Kreise noch bleiben, zu genießen.