Kapitel 5
Nun, wo ich den Anfang gefunden habe, strömen die Worte nur so aus mir heraus. Ich erzähle von den fehlenden Erinnerungen meines Vaters. Von seinen bruchstückhaften Albträumen. Von seiner Überzeugung, dass unsere frühere Lehrerin die gleichen quälenden Träume gehabt und ihre Autorität dafür genutzt hat, die Schüler von Five Lakes vor der Auslese zu bewahren. Ich halte den Atem an und warte darauf, dass Tomas die Schlüsse, die mein Vater gezogen hat, leichtfertig abtut. Mir erklärt, dass uns schon nichts zustoßen werde. Dass vor uns nur ein weiterer Test liege, so wie die vielen anderen, denen wir uns im Laufe des Lebens schon unterzogen haben.
Stattdessen erwidert er: »Dann ist es ja ein Segen, dass wir in der gleichen Gruppe sind. So können wir aufeinander aufpassen.«
»Du denkst, dass die Albträume meines Vaters in Wahrheit wiederkehrende Erinnerungen sind?«
»Ich glaube, es ist gut, auf alles vorbereitet zu sein, was auf uns zukommen könnte. Auch wenn seine Träume nicht wahr sein sollten, kann es nicht schaden, wachsam zu sein. Wenn sie jedoch …« Er verschränkt seine Finger mit meinen, und wir sitzen schweigend nebeneinander, während die unausgesprochenen Worte zwischen uns in der Luft hängen.
Ein Pfiff lässt uns zusammenzucken. Michal winkt uns zu. Er ist zum Abflug bereit.
Tomas rappelt sich auf und hilft mir beim Aufstehen. Auch als wir uns den Weg zurück durch das hohe Gras bahnen, lässt er meine Hand nicht los. Auf halber Strecke zum Gleiter bleibt er stehen und holt etwas, das er in ein weißes Baumwolltaschentuch gewickelt hat, aus seiner Tasche: Kekse. Er nimmt einen und bietet mir den anderen an. »Wir sind doch jetzt Partner.«
Bei diesem Wort muss ich lächeln. Partner. Wie schon so oft. Jedes Mal, wenn wir in der Schule zusammengearbeitet haben, haben wir die besten Ergebnisse erzielt. Unwillkürlich hoffe ich, dass es dieses Mal genauso wird.
»Also gut, Partner«, sage ich und nehme das Gebäckstück. »Aber denk daran, dass du jeden Keks ablehnst, der dir von unserer Konkurrenz angeboten wird. Nur für alle Fälle.«
Wie erwartet, verdüstert sich Zandris Blick, als sie sieht, wie Tomas und ich gemeinsam in den Gleiter steigen. Es mag zwar stimmen, dass Tomas Zandri gegenüber keinerlei Gefühle hegt, aber bei ihr scheint die Sache anders auszusehen: Ihren Blicken nach zu urteilen würde sie mich am liebsten erdolchen. Es hat den Anschein, dass mir meine Partnerschaft mit Tomas eine neue Gegnerin verschafft hat. Zwar wird sie nicht so gefährlich sein wie jemand, der mein Essen vergiftet, um selbst daraus einen Vorteil zu ziehen. Aber wenn ich mir ihre Fingernägel ansehe, finde ich die Entwicklung trotzdem alles andere als beruhigend.
Tomas begibt sich in den hintersten Teil des Gleiters, wo er sich zu den anderen beiden Mitstreitern aus Five Lakes gesellt. Als ich ihm folgen will, fühle ich plötzlich eine Hand an meinem Arm. »Ist alles in Ordnung?«
Michal. Ein besorgter Ausdruck liegt in seinem Blick. Ich lächele ihn an und bin mir der Kamera voll bewusst, als ich sage: »Alles bestens. Es war schön zu sehen, wie die Revitalisierung voranschreitet. Mein Vater wäre beeindruckt.«
Michal schaut kurz zur Kamera, dann erwidert er mein Lächeln. Die Sorgen sind aus seinem Gesicht verschwunden und haben Freude Platz gemacht. Ja. Aus irgendeinem Grund hat sich Michal entschieden, von uns vier Kandidaten aus der Five-Lakes-Kolonie ausgerechnet mir zu helfen. Und ganz offensichtlich ist er der Meinung, dass ich meine Sache gut gemacht habe.
Dann sagt er mir, ich solle mich setzen, und klettert in die Führerkabine. Zandri ist damit beschäftigt, sich mit Tomas über irgendeine Feier zu unterhalten, zu der sie beide vor einigen Wochen eingeladen gewesen waren, während ich mich auf eine der Sitzbänke sinken lasse und spüre, wie sich der Gleiter in Bewegung setzt. Zandri spielt an ihrem Armband herum, auf dessen quadratischem Silberplättchen in der Mitte eine stilisierte Blume eingraviert ist. Dabei beugt sie sich vor, um die Aufmerksamkeit auf den weiten Ausschnitt ihrer Bluse zu lenken. Ich weiß nicht, ob all die anderen Menschen, die uns mithilfe der Kamera beobachten, von Zandris aufreizendem Verhalten abgestoßen sind; mir geht es auf jeden Fall so. Und was viel schwerer wiegt: Ich bin mir sicher, dass ihre Spielchen sie in keinem guten Licht dastehen lassen werden, vor allem, wenn man bedenkt, wie widerstrebend sie sich auf den Weg zur Auslese gemacht hat …
Ich warte eine passende Gelegenheit ab und frage Zandri nach der neuen Windmühle, an deren Bau sie maßgeblich beteiligt war. Ihr Hauptinteresse gilt zwar der Malerei, aber sie hat ein wunderbares Gespür für Symmetrie und Ausgewogenheit. Der Architekt, der unsere Stadt konzipiert hat, hat ihre Fähigkeiten dabei gerne genutzt. Ich wette, die Gravur auf ihrem Armband hat irgendetwas mit ihren Neigungen und ihrem Talent zu tun.
Zandri wirft mir einen verwunderten Blick zu, vermutlich weil ich selbst an dem Projekt beteiligt gewesen bin, aber sie lässt sich die Gelegenheit, über sich selbst zu sprechen, nicht entgehen. Tomas erkundigt sich zunächst ebenfalls nach der Windmühle und bringt dann Malachi dazu, von seinen eigenen Arbeiten und Projekten zu erzählen. Die nächste Stunde verbringen Tomas und ich damit, unsere Mitstreiter zu interviewen, um ihnen zu helfen, vor dem unsichtbaren Prüfungskomitee gut dazustehen. Sie mögen meine Konkurrenten sein, aber sie stammen von zu Hause, und ich werde tun, was ich kann, um uns alle zu beschützen.
Nach und nach gerät das Gespräch ins Stocken, und ich merke, wie ich selbst dagegen ankämpfe, dass mir die Augen zufallen. Es war ein langer Tag. »Warum schläfst du nicht ein bisschen?« Tomas rutscht auf den Platz neben mir und wirft mir ein warmherziges Lächeln zu. »Ich werde dich wecken, wenn irgendetwas Aufregendes geschieht.«
Ich folge seinem Rat und strecke mich auf den Kissen weiter vorn in der Kabine aus. Zwar bin ich mir nicht sicher, wie gut ich wohl schlafen werde, wo ich doch weiß, dass Tomas mich dabei beobachten wird, aber ich mache trotzdem die Augen zu und versuche, mich zu entspannen. Das Letzte, was ich noch höre, ehe die wache Welt um mich herum versinkt, ist Tomas’ Stimme, als er Zandri und Malachi bittet, sich leiser zu unterhalten.
In meinen Träumen spricht mein Vater mit mir. Es ist Dad, so wie ich ihn kannte, ehe ich für die Auslese ausgesucht wurde. Geduldig zeigt er mir, wie man Gene von Pflanzen isoliert. Er führt meine Hände, während ich versuche, seine Bewegungen nachzuahmen, und er sagt mir, es sei ganz typisch, dass die größten Rückschläge den größten Durchbrüchen vorausgehen. Und er schärft mir ein, niemals aufzugeben, ganz gleich was geschieht. Ich solle aus meinen Fehlern lernen, dann würde schon alles gut werden.
»Cia, aufwachen.« Die Hände meines Vaters schütteln mich. Nein. Es ist gar nicht mein Vater. Es ist Tomas. Ich bin nicht mehr zu Hause. Tomas lächelt mich an, als ich meine Augen öffne. »Steh auf. Michal sagt, du würdest das auf keinen Fall verpassen wollen.«
Michal hat recht. Aus dem Fenster kann ich ein schimmerndes, unvorstellbar klares Gewässer sehen. Nicht einmal das schwächer werdende Licht kann von der ganz offensichtlichen Reinheit des Wassers ablenken. Die fünf großen Seen, nach denen unsere Kolonie benannt ist, wurden ebenfalls gereinigt, aber nicht so erfolgreich wie dieser. Noch nicht. Der Anblick raubt mir den Atem.
Und dann sehe ich, was die anderen mit glänzenden Augen und offenen Mündern anstarren. Dort vor uns – am jenseitigen Ufer. Silbrige Gebäude. Lichter, die hell genug leuchten, dass man sie aus vielen Meilen Entfernung sehen kann. Das kann nur eines bedeuten: Tosu-Stadt. Wir sind da.
In der Schule haben wir gelernt, dass Tosu-Stadt vor neunundneunzig Jahren als das erste sichtbare Zeichen dafür errichtet wurde, dass unser Volk die Sieben Stadien des Krieges überlebt hat. Die Vier Stadien der Zerstörung, in denen die Menschen sich gegenseitig bekämpften, und dann die folgenden Drei Stadien, in denen die Erde zurückschlug. Dieses Gebiet wurde ausgesucht, weil der Ort, der hier vor der Errichtung von Tosu-Stadt lag, von den Kriegstreibern als ein unbedeutendes militärisches Ziel betrachtet wurde. Zwar konnte der Ort der Verseuchung des Bodens, den Erdbeben, den Tornados und den Sturmfluten nicht entgehen, aber als sich die Erde wieder beruhigt hatte, stand ein Großteil der Stadt noch immer. Diejenigen, die überlebt hatten, begannen mit dem Wiederaufbau.
Während wir näher kommen, scheinen die Gebäude größer zu werden. Wie aufregend und beängstigend muss es sein, die Welt von dort oben aus diesen Häusern zu betrachten. Einige Bauten ragen nicht ganz so hoch auf, aber diese niedrigen, vollkommen zylindrischen Häuser aus Stahl und Glas sind nicht weniger beeindruckend. Gebäude neben Gebäude. Ich kann nicht sagen, wie viele von ihnen neu sind oder welche die Kriege überstanden haben. Die einzelnen Bauwerke beginnen zu verschwimmen, und überall sehe ich Menschen. Sie laufen herum. Rennen. Lachen. Eilen. Gleiter und Fahrräder drängen sich auf den Straßen. Altmodische Autos und Scooter. Die meisten Straßen, die wir passieren, sehen ordentlich, sauber und neu aus. Genauso habe ich mir die Stadt vorgestellt, die das Zentrum all unserer Hoffnungen für die Zukunft unseres Landes darstellt. Doch als wir weiterfliegen, fällt mein Blick auch auf andere Straßen, die verdreckter sind und nicht wieder hergerichtet wurden. Die Menschen, die aus diesen Bezirken kommen oder dorthin unterwegs sind, sehen erschöpft und müde aus. Einige wirken ausgehungert. Andere scheinen sich schon seit Wochen nicht mehr gewaschen zu haben, und ich frage mich, was wohl der Grund dafür sein könnte. Aus der Schule weiß ich, dass sich der Großteil unserer Bevölkerung in dieser Stadt konzentriert. Hier leben mindestens hunderttausend Menschen. Bis zu diesem Augenblick hatte ich keine Vorstellung davon, was diese Zahl bedeutet. Jetzt, da es mir klar wird, bin ich überwältigt. Ich spüre, wie Tomas seine Hand in meine schiebt und sie fest drückt. Sein Gesicht ist blass, und seine Augen sind weit aufgerissen. Ich glaube, ich bin nicht allein mit meinem verwirrenden Gefühl der eigenen Bedeutungslosigkeit angesichts dieser Menschenmenge.
Michal teilt uns mit, dass wir uns sofort zu dem Gebäude begeben werden, in dem die Prüfung stattfinden wird. Wir werden keinerlei Gelegenheit bekommen, die Stadt zu erkunden. Doch mir fällt auf, dass er uns an dem hoch aufragenden Regierungsgebäude vorbeibringt, ebenso an dem abweisenden steinernen Justizgebäude – beides Orte, die Malachi seinem eigenen Bekunden nach gerne sehen wollte. Erst danach steuert Michal den Gleiter durch einen großen Torbogen. Daneben befindet sich ein schmiedeeisernes Schild, auf dem zu lesen ist: UNIVERSITÄT DES VEREINIGTEN COMMONWEALTH.
Mein Herz macht einen Satz: Wir haben die Universität erreicht. Hier sieht man deutlich, dass die Gebäude alt sind. Roter Backstein. Weiße Verzierungen. Ein Uhrenturm. Einige Häuser bestehen aus Glas, andere aus Stein. Alle strahlen Alter und Weisheit aus. Ich sehe eine große Skulptur: zwei ineinander verschränkte Hände. Sind sie zum Gebet gefaltet? Als Zeichen der Hoffnung? Zandri könnte das wissen, aber ich will sie nicht fragen. Ich will einfach nur alles in mich aufsaugen.
Wir kommen an einem großen Stadion vorbei, und nur Minuten später wird der Gleiter langsamer, bis er schließlich vor einem massiv gebauten, glänzenden Gebäude aus schwarzem Stahl und Glas zum Halten kommt. Es ist von üppigem Grün und Blumen umgeben, aber auch die Vegetation mildert nicht im Geringsten die Kälte der beeindruckenden Fassade. Ein kleines Bronzeschild am Eingang verrät uns, wo wir uns befinden: am Prüfungszentrum.
Die Tür des Gleiters öffnet sich, und wir vier springen hinaus. Ich lasse meinen Blick an dem hohen Bauwerk hinaufwandern, dann bleibt er an der schweren stählernen Tür des Hauptgebäudes hängen, und mein Magen verkrampft sich. Plötzlich spüre ich eine warme Hand auf meiner Schulter. Tomas. Allein das Wissen, dass er neben mir steht, hilft mir dabei, die aufsteigende Panik in den Griff zu bekommen.
»Hier.« Michal reicht mir die Tasche, an der mein Erkennungszeichen befestigt ist. »Achte darauf, dass du sie nicht aus den Augen lässt.« Als er das sagt, ist seine Stimme sehr leise und ruhig. Er sucht meinen Blick. Da ist keine Spur von einem Lächeln, das mich auf die Idee hätte bringen können, er habe einen Scherz gemacht. Seine Worte waren todernst gemeint. Ich soll meine wenigen Besitztümer immer bei mir behalten, egal was kommt.
Dann ist der Moment vorbei. Michal dreht sich wieder um, und seine Stimme ist dröhnend und laut, als er sagt: »Sobald wir eingetreten sind, werden euch eure Schlafquartiere und eure Zimmergenossen zugeteilt. Die meisten anderen Kandidaten sind schon hier, denn ihre Gleiter hatten keine maschinellen Probleme. Die letzten Prüflinge werden irgendwann im Laufe des Abends eintreffen.« Er strahlt uns an und fragt: »Seid ihr bereit hineinzugehen?«
Darauf gibt es nur eine richtige Antwort: »Ja«, antworten wir alle einmütig.
Michal nickt und drückt sechs Knöpfe auf einer kleinen Tastatur neben dem Eingang. Ein Klicken ertönt, dann schwingt die Tür auf, und wir folgen Michal ins Innere des Prüfungszentrums. Tomas ist der Letzte, der die Schwelle überschreitet, und praktisch im selben Augenblick fällt die Tür hinter ihm wieder zu. Das Schließgeräusch mischt sich in unsere ersten Eindrücke vom Ort der Auslese, welcher, um ganz ehrlich zu sein, eine ziemliche Enttäuschung ist. Der Eingangsbereich ist nur schwach beleuchtet; ich sehe weiße Wände und einen schäbigen, tristen Fußboden. Zwei graue Holzstühle befinden sich in einer Ecke, und sie stehen sich so gegenüber, dass der Eindruck eines Rückzugsortes für entspannte Gespräche entsteht. Allerdings sehen die Stühle so aus, als ob sie noch nie benutzt worden wären, und auch wir ändern daran im Augenblick nichts, denn Michal führt uns einen langen hellgrauen Flur hinunter zu einer ganzen Reihe von Aufzügen. Ich habe noch nie einen benutzt, aber ich habe darüber gelesen und mich mit ihrer Konstruktion beschäftigt.
Kaum dass Michal den entsprechenden Knopf gedrückt hat, öffnen sich auch schon die Türen, und wir schieben uns alle in die Kabine. Wutsch. Innerhalb von Sekunden huschen die Ziffern von eins bis fünf vorüber. Es gibt ein kurzes klingelndes Geräusch, dann schieben sich die Türen wieder auf und geben den Blick frei auf eine große, elektrisch beleuchtete Lobby mit glänzenden weißen Fliesen. Die Wände ringsum sind blau gestrichen, aber die gegenüberliegende Wand besteht vollständig aus Glas, sodass wir einen ersten Eindruck von dem großen Raum dahinter gewinnen, in dem sich jede Menge Tische, Stühle und Menschen drängeln. Menschen in unserem Alter. Mein Magen zieht sich zusammen. Dutzende und Aberdutzende von weiteren Prüfungskandidaten.
Ein Räuspern lenkt meine Aufmerksamkeit auf eine ausgesprochen große Frau mit langen weißen Locken und einer Brille mit runden goldgeränderten Gläsern. Sie sitzt hinter einem großen Holzschreibtisch, lächelt uns entgegen und steht auf. Als sie das Wort ergreift, lässt meine Anspannung schlagartig nach. Ihre Stimme ist warm und freundlich, als sie uns in Tosu-Stadt willkommen heißt und uns dazu gratuliert, dass wir für die Auslese ausgewählt wurden. »Die meisten der übrigen Kandidaten sind bereits gestern oder früher am heutigen Tage eingetroffen. Das Abendessen wird im Saal hinter mir serviert. Ihr könnt euch frisch machen und eure Sachen in eurem Zimmer abstellen, oder aber ihr gesellt euch gleich zu den anderen.«
»Ich möchte sofort zum Essen gehen«, sage ich schnell. Wenn man mir vorher mein Quartier zeigt, verlässt mich vielleicht der Mut, und ich komme überhaupt nicht mehr heraus. Zandri scheint Einwände erheben zu wollen, doch als Tomas sich mir anschließt, ist die Sache entschieden. Michal nickt mir kaum merklich zu, geht uns voran einen Gang hinunter und bringt uns durch eine Tür in die große Halle, die wir durch das Glas bereits gesehen haben.
Ich glaube nicht, dass ich mir das einbilde: Als wir reinkommen, wird es still im Raum. Alle Blicke wenden sich uns zu und mustern prüfend unsere Gesichter. Schätzen uns als Konkurrenten ab. Dann setzen alle ihr Geplauder fort und essen weiter.
Auf der linken Seite der Halle ist ein Büfetttisch aufgebaut, auf dem sich Speisen türmen. Drei Serviererinnen warten dahinter, als hielten sie sich zur Verfügung, um einzelne Gerichte zu erläutern. Es gibt verschiedene Sorten Brot. Äpfel, Orangen und Weintrauben. Einen roten Eintopf mit viel Gemüse und Rindfleisch. Karotten und winzige Zwiebeln in einer leichten Soße sowie dicke Scheiben einer Fischart, die ich noch nie zuvor gesehen habe. Michal erklärt mir, dass es sich dabei um Lachs handelt. Ein Extratisch ist mit Kuchen und anderen Süßspeisen beladen.
»Hol dir einen Teller und iss, so viel du willst.« Als ob er es mir vormachen will, befolgt er seinen eigenen Rat.
Wir vier nehmen uns je einen Teller und stellen uns unsere Mahlzeit zusammen. Ich suche mir ein Brötchen mit Rosinen und Nüssen aus, ein kleines Stück Lachs, einen Apfel und einige Karotten. Nur so viel, wie ich auch wirklich essen kann. Allerdings sehe ich, dass nicht alle Kandidaten diese Regel befolgen. Viele von ihnen haben mehr als einen Teller vor sich stehen, auf denen sich die Speisen häufen. Einige der Prüflinge nehmen eine Gabelvoll von irgendeinem Gericht und schieben den Rest des Bissens dann fort, weil sie glauben, etwas Schmackhafteres entdeckt zu haben. Mein Vater hat mir beigebracht, die Nahrung, die wir anbauen, zu respektieren, ebenso unsere Nachbarn, mit denen wir die Quellen teilen. Mir vergeht der Appetit, als ich sehe, wie hier mäkelnd etwas verschwendet wird, dessen Entwicklung, Anbau und Ernte uns viele Jahre gekostet hat.
Der Tisch, der uns am nächsten steht, ist bereits mit Kandidaten voll besetzt. Sie alle starren uns nach, als wir den Gang hinuntergehen, um uns an einem freien Tisch weiter hinten niederzulassen. Ich stelle meinen Teller ab und sehe gerade noch, wie ein großer Bursche mit struppigem Haar und niederträchtigen Augen unmittelbar vor Malachi sein Bein ausstreckt. Malachi fällt der Teller aus der Hand, der scheppernd auf dem Boden zerbricht. Wenn Tomas nicht so schnell reagiert und ihn festgehalten hätte, wäre Malachi mit dem Gesicht voran in seinem Eintopf gelandet. Trotz seiner dunklen Haut kann ich sehen, wie seine Wangen vor Verlegenheit glühen. Er murmelt eine Entschuldigung und macht sich daran, die Scherben aufzusammeln, aber Michal hält ihn davon ab. »Das war nicht dein Fehler.« Sein Blick wandert vielsagend zu dem struppigen Jungen, der nun sehr beschäftigt damit tut, Kuchen in seinen zum höhnischen Grinsen verzerrten Mund zu schieben. »Warum nimmst du nicht einfach meinen Teller, während ich jemanden suche, der hier sauber macht?«
Malachi nimmt den Teller, der ihm entgegengestreckt wird, und lässt sich mit gesenktem Blick auf einem Stuhl nieder. Seine Scham darüber, eine solch peinliche Szene verursacht zu haben, ist beinahe greifbar, und ich spüre, wie sich meine Hände zu Fäusten ballen. Heißer Zorn bringt mein Blut in Wallung. Zu Hause sind wir immer dazu angehalten worden, unsere Probleme mit Worten zu lösen. Aber ich habe vier ältere Brüder. Wenn mich jemand herumschubsen will, kann ich mich zur Wehr setzen. Und jetzt bin ich drauf und dran, mich auf eine körperliche Auseinandersetzung einzulassen.
»Cia, dein Essen wird ja kalt.« Tomas’ Stimme dringt durch meine Wut hindurch. Seine sanften Worte sind eine Warnung für mich. Wir werden beobachtet. Jede Bewegung zählt. Kämpfen kann ich später auch noch.
Ich spüre, wie sich mein aufgestauter Zorn wieder legt, während ich mich mit meinen Mitstreitern aus Five Lakes hinsetze und nach meiner Gabel greife. Tomas stößt Malachi an und flüstert ihm etwas ins Ohr. Was auch immer er gesagt hat, weckt Malachi aus seiner Schockstarre. Auch er nimmt seine Gabel und beginnt damit, sich Essen in den Mund zu schaufeln. Michal kommt mit einem neuen Teller zurück und sorgt dafür, dass das Gespräch während der Mahlzeit nicht abreißt. In den kurzen Pausen höre ich die Leute an den anderen Tischen über uns tuscheln. Sie fragen sich, aus welcher Kolonie wir wohl stammen. Einer spekuliert, wir könnten ja aus Five Lakes stammen, aber unter großem Gelächter wird diese Möglichkeit abgetan. Five Lakes ist ein Witz für sie. Der Knoten in meinem Magen wird größer.
Ich verputze alles, was ich mir auf den Teller getan habe, nur den Apfel hebe ich auf. Der Lachs war sicher lecker, aber ich habe mich kaum auf den Geschmack konzentrieren können. Eine andere Gruppe mit sechs Kandidaten ist inzwischen eingetroffen und hat sich an einen Tisch noch weiter hinten gesetzt. Die Neuankömmlinge beeilen sich mit dem Essen, da die Teller von uns anderen bereits von Frauen in weißen Jumpsuits abgeräumt werden. Dann ertönt eine Stimme.
»Willkommen in Tosu-Stadt und herzlichen Glückwunsch, dass ihr für die Auslese ausgewählt worden seid.«
Ich brauche beinahe eine Minute, bis ich herausfinde, wer gerade spricht, denn die Stimme kommt aus Lautsprechern, die in allen vier Ecken des Raumes stehen. Durch die Glasscheibe kann ich die Frau sehen, die uns anfangs begrüßt hat und die nun ein Mikrofon in der Hand hält.
»Hundertundacht von euch haben sich hier versammelt, um sich der Prüfung zu stellen. Höchstens zwanzig werden bestehen und dürfen danach die Universität besuchen. Ich wünsche euch allen viel Glück, damit ihr am Ende zu denjenigen gehört, die erfolgreich waren.«
So sehen also unsere Chancen aus: Nicht einmal jeder Fünfte wird durchkommen. Ein Stimmengewirr erhebt sich um uns herum. Einige klingen selbstbewusst und hochnäsig. Andere sind überrascht von der hohen Zahl der Bewerber für die wenigen Plätze, versuchen jedoch angestrengt, sich ihre Besorgnis nicht anmerken zu lassen.
Die Stimme aus den Lautsprechern fährt fort: »Da jetzt alle eingetroffen sind, wird der Prüfungsvorgang morgen früh beginnen. In zehn Minuten habt ihr euch in den zugewiesenen Schlafräumen einzufinden. Wenn ihr euren Raum noch nicht gezeigt bekommen habt, dann wendet euch bitte an eure Reisebegleitung. Ich rate dringend dazu, euch, so gut es geht, auszuruhen für das, was in den nächsten Tagen und Wochen vor euch liegt. Gute Nacht und viel Glück.«
Michal drückt mir einen Zettel in die Hand, auf dem die Raumnummer steht, und er hält das Papier einige Sekunden länger fest, als es nötig gewesen wäre. In seinen Augen lese ich, dass er mir ebenfalls viel Glück wünscht, und sein Händedruck bestärkt meine Vermutung. Dann geht er weg und lässt mich allein zurück.
Wir eilen aus dem Speisesaal und trennen uns. Die Mädchen gehen nach rechts, die Jungen nach links.
Zandri und ich folgen Malachi und Tomas mit den Blicken, als sie den Flur hinuntergehen. Dann suchen wir nach unseren Räumen. Ich bin in Raum 34, Zandri hat die Zimmernummer 28. Gerade als sie durch die Tür verschwinden will, nehme ich sie in die Arme. Wer weiß schon, was uns morgen bevorsteht? Ich möchte, dass sie gut abschneidet. Überraschenderweise erwidert sie meine Umarmung, und einen Moment lang stehen wir eng umschlungen da. Uns verbinden die gemeinsamen Jahre, die wir miteinander verbracht haben, und die Furcht vor dem, was noch kommen wird. Als wir uns wieder voneinander lösen, lächelt Zandri. »Morgen zeigst du ihnen, was du draufhast, verstanden?«
Ich nicke. »Und du ebenfalls.« Sie dreht sich um und geht in ihr Zimmer; ich selbst mache mich auf die Suche nach Nummer 34. Ein paar Türen weiter finde ich sie. Im Innern höre ich jemanden herumlaufen. Ich hole tief Luft, drücke die Klinke hinunter und schiebe die schwere Holztür auf.
»Hi.« Der Raum ist groß und bietet genug Platz für zwei breite Betten, zwei Schreibtische und einige Stühle. Ich brauche eine Weile, bis ich die Quelle der zarten Stimme ausmache, die mich soeben begrüßt hat, und als ich sie schließlich entdecke, bin ich überrascht. Sie gehört zu einem großen, hübschen Mädchen mit breiten Schultern und langem blondem Haar, das mir ein schüchternes Lächeln zuwirft. »Ich bin Ryme aus der Dixon-Kolonie. Wir teilen uns wohl das Zimmer.«
Ich nicke und gehe ein paar Schritte weiter in den Raum hinein. Die Tür fällt mit einem Klicken hinter mir ins Schloss. »Ich bin Cia aus Five Lakes.«
Auf Rymes Gesicht breitet sich ein strahlendes Lächeln aus. »Das ist ja ein Ding. Beim Essen haben sich alle über Five Lakes unterhalten und sich gefragt, wie es sein kann, dass schon seit Jahren niemand mehr von euch für die Auslese ausgewählt wurde. Die meisten dachten, dass die Gründung der Kolonie ein Fehlschlag war oder dass es sie gar nicht mehr gibt.«
»O nein, die Five-Lakes-Kolonie ist durchaus noch am Leben. Sie ist nur einfach klein im Vergleich mit anderen Kolonien.«
»Dixon ist auch nicht besonders groß.« Ryme setzt sich auf ihr Bett an der gegenüberliegenden Wand und zieht ihre Beine an. »Bei uns leben ungefähr fünfzehntausend Menschen. Es ist also wirklich aufregend, dass dieses Jahr acht von uns ausgewählt wurden.«
Ihr Lächeln ist warm, und unwillkürlich lächele ich zurück. Ich lasse mich auf das zweite Bett im Raum sinken und antworte: »Für mich sind fünfzehntausend Einwohner viel. Five Lakes hat nicht einmal tausend.«
»Wie viele von euch sind denn hier?«
»Vier. Ein Viertel unserer Abschlussklasse.«
Ryme will viel über Five Lakes wissen. Wo wir angesiedelt sind, was für Nahrung wir anbauen, welche Tiere es in unserer Gegend gibt. Aus den Erzählungen über ihre eigene Kolonie schließe ich, dass Dixon ungefähr dreihundert Meilen südwestlich von Five Lakes liegt. Ihre Kolonie ist zwar größer, scheint aber weniger weit entwickelt zu sein als die unsrige. Vielleicht ist es bei so vielen Einwohnern schwieriger, mit den dortigen Ressourcen auszukommen, oder vielleicht liegt es auch daran, dass ein Großteil der erwachsenen Bevölkerung in Dixon damit beschäftigt ist, lieber Batterien und Elektrogeräte herzustellen, als die Landwirtschaft voranzutreiben. Da Rymes Familie eine Farm besitzt, muss sie nicht Hunger leiden, aber bei vielen Menschen in der nahe gelegenen Stadt sieht das ganz anders aus. Ryme berichtet, dass das Entschädigungsgeld, das ihre Eltern erhalten werden, dafür vorgesehen ist, bessere Geräte für die Landwirtschaft anzuschaffen und für bessere Möglichkeiten bei der Vorratshaltung zu sorgen. Beides wird dazu beitragen, dass ihrer Familie und ihren Nachbarn mehr Nahrungsmittel zur Verfügung stehen werden.
Ryme klingt stolz darauf, an den Verbesserungen für ihre Gemeinschaft mitwirken zu können. Obwohl ich mir fest vorgenommen habe, mich von Kandidaten von außerhalb meiner eigenen Kolonie fernzuhalten, merke ich, dass ich Ryme mag.
Die nächste Stunde lang plaudern wir über dies und das. Ryme zeigt mir die Gravur auf ihrem Armband. Ein Dreieck mit einem künstlerisch gestalteten A in der Mitte. Nicht meine Gruppe. Sie bietet mir ihre Hilfe beim Auspacken an, doch ich erkläre ihr, dass ich meine Sachen in der Tasche lasse. Wer weiß denn schon, wann für jeden Einzelnen von uns die Auslese zu Ende ist? Ryme lächelt und stimmt mir zu, aber ich sehe im Schrank neben ihrem Bett zwei prächtige lange Kleider hängen. Meine Mutter wäre begeistert von dem ersten Eindruck, den Ryme darin machen wird. Wir beide benutzen das kleine Badezimmer, das an den Schlafraum angrenzt, schlüpfen in unsere Pyjamas und steigen in unsere Betten. Ryme bittet darum, dass wir das Licht noch eine Weile anlassen. Sie sitzt im Schneidersitz, an die Wand gelehnt, und blättert ein Fotoalbum durch, das sie von zu Hause mitgebracht hat. Mein Herz wird schwer, als ich die Tränen in ihren Augen sehe, und ich muss daran denken, dass auch ich Abschied von meiner Familie genommen habe. Normalerweise würde meine Mutter jetzt vor dem Feuer sitzen und mich fragen, wie mein Tag gewesen sei. Mein Vater würde mit meinen Brüdern über die Arbeit plaudern, während wir alle zusammen am Küchentisch sitzen und Karten spielen würden. Ich schlucke den Anflug von Heimweh hinunter und sage Ryme, sie solle die Lampe so lange anlassen, wie sie wolle, ehe ich mich unter meiner Bettdecke zusammenrolle.
Ryme bedankt sich bei mir. Gerade will ich meine Augen schließen, als sie hinzufügt: »Ich habe einige Getreidekekse von zu Hause mitgebracht, die ich selber gebacken habe. Wenn du Hunger bekommst, kannst du dich gerne bedienen.«
Ich presse meine Tasche eng an mich, ehe ich einschlafe.
Meine Träume sind wirr und bedrückend, aber ich kann mich nicht an sie erinnern, als ich von einer Stimme aufwache, die uns über Lautsprecher mitteilt, dass wir eine Stunde Zeit haben, um uns anzuziehen und zu frühstücken, ehe die erste Phase der Auslese beginnt. Ich ziehe eine dunkelbraune Hose, eine cremefarbene Tunika und meine Stiefel an. Dann lege ich mein Nachtzeug, die Hose und das Oberteil, die ich gestern getragen habe, sorgfältig zusammen und verstaue alles in meiner Tasche. Ryme zieht eine Augenbraue hoch, als sie sieht, wie ich alles wieder einpacke, verliert aber kein Wort darüber. Sie trägt ein langes butterblumengelbes Kleid und glänzende weiße Schuhe. Sie hat sogar ein wenig Lippenstift benutzt und Lidschatten aufgelegt.
Quer durch den Raum kann ich hören, wie ihr Magen knurrt, aber mir entgeht nicht, dass sie ihre Getreidekekse nicht anrührt. Vielleicht bin ich schon paranoid, aber ich zähle sie rasch. Es sind neun. Wenn morgen immer noch neun von ihnen da sind, dann weiß ich mit Sicherheit, dass ich Ryme weder meine Besitztümer noch meine Geheimnisse anvertrauen kann.
Ich drehe das Armband an meinem Handgelenk, sodass die Gravur zu sehen ist. Dann überprüfe ich noch ein letztes Mal meine Tasche und hänge sie mir über die Schulter. Ryme läuft gemeinsam mit mir zum Speisesaal und schlägt die Einladungen von anderen, sich ihnen anzuschließen, aus. Ich bin mir nicht sicher, warum sie so an mir klebt, aber ich schätze, sie ist neugierig und will die anderen Kandidaten aus der Five-Lakes-Kolonie kennenlernen. Nach dem, was sie letzte Nacht erzählt hat, stehen die übrigen Kolonien untereinander in Kontakt. Five Lakes ist hingegen für alle völlig unbekannt.
Ich fülle meinen Teller mit Erdbeeren, orangefarbener Melone, einem Brötchen, das würzig und süß duftet, und zwei Streifen knusprigen Schinkenspecks. Ryme zieht mich damit auf, dass mir meine Nervosität wohl den Appetit verschlagen habe. Sie selbst häuft sich Pfannkuchen, Waffeln, Eier, Würstchen und Bratkartoffeln auf ihren Teller. Wir nehmen uns jede ein Glas Milch, dann halte ich Ausschau nach meinen Kameraden aus Five Lakes. Sie sitzen am selben Tisch wie gestern, umgeben von einigen unbekannten Gesichtern.
Ich bin nicht die Einzige, die plötzlich Anhang hat.
Malachi und Zandri stellen uns ihre Zimmergenossen vor – Boyd und Nicolette. Sie haben beide dunkle Haare, braune Augen und sonnengebräunte Haut. Ich bin nicht überrascht, als ich erfahre, dass sie aus derselben Kolonie im Südosten, Pine Bluff, kommen. Boyd ist in Zandris Gruppe. Nicolettes Armband kann ich nicht besonders gut sehen. Ihr Kleid hat lange hauchdünne Ärmel, die immer wieder das Band verdecken. Ich meine aber, dass es eine Art Herz ist. Ich nehme neben Tomas Platz, der der einzige andere Kandidat aus Five Lakes ist, der seine Tasche über seiner Schulter trägt. Allerdings bemerke ich, dass mindestens ein Drittel der Prüflinge aus den anderen Kolonien, auch die beiden an unserem Tisch, ihre Sachen ebenfalls mitgebracht haben.
Ich lasse das Gespräch um mich herumplätschern, esse kleine Bissen von den süßen Früchten auf meinem Teller und versuche, nicht darüber nachzudenken, was gleich auf uns zukommen wird. Wenn das, was ich bis jetzt gelernt habe, nicht ausreichen wird, dann werde ich das nicht mehr ändern können.
Bis ich mit meinem Frühstück fertig bin, habe ich erfahren, dass Nicolette und Boyd Cousin und Cousine sind. Ihre beiden Familien bewirtschaften eine Reisfarm und haben mit der Bewässerung zu kämpfen. Ich habe noch nie Reis gegessen und weiß praktisch überhaupt nichts darüber. Auch Tomas ist damit nicht vertraut, aber es entspinnt sich trotzdem eine lebhafte Diskussion über Bewässerungssysteme. Boyds Ideen habe auch ich einiges hinzuzufügen.
Unser Gespräch ist so angeregt, dass ich meine Angst ganz vergesse, bis eine Stimme verkündet: »Die Kandidaten für die Auslese melden sich bitte am Tresen bei den Aufzügen. Dort werdet ihr zur ersten Runde eurer Tests geschickt werden. Alles Gute.«
Mein Herz rutscht mir bis in den Magen, sodass mir mein Frühstück wieder hochzukommen droht. Eine Hand greift nach meiner und hält sie ganz fest. Als ich mich umdrehe, sehe ich in Tomas’ Augen. Ist er nervös? Ich kann es nicht sagen. Aber ich bin froh über die Wärme und den festen Händedruck, als ich aufstehe. Fast alle Mädchen tragen ihr schönstes Kleid und die glänzendsten, am wenigsten abgetretenen Schuhe. Ich würde mich in meinem Aufzug völlig fehl am Platze fühlen, wenn nicht Tomas neben mir stünde. Seine schwarzen Schuhe sind ausgelatscht, sein Baumwollhemd und seine braune Hose sind ausgeblichen. Ganz egal welche Prüfung auf uns wartet – ich bin mir praktisch sicher, dass Tomas und ich die Einzigen sein werden, die sich während der Prüfung in ihrer Kleidung wohlfühlen.
Prüfer, gekleidet in purpurne und dunkelrote Jumpsuits, drängen uns in zwei Fahrstühle, die uns in den dritten Stock bringen. Der Griff von Tomas’ Hand verstärkt sich, als wir ganz hinten in der engen silbernen Kabine stehen und zwei Etagen nach unten fahren. Einige der anderen werfen vielsagende Blicke auf Tomas’ und meine verschränkten Finger, und ich will mich schon von ihm lösen, aber Tomas lässt das nicht zu. Ich weiß nicht, warum er sich ausgerechnet mich für seine Aufmerksamkeit und seine Unterstützung ausgesucht hat, aber ein kleiner, verängstigter Teil von mir ist glücklich darüber. Er hat uns als Partner bezeichnet. Ein Wort, das den Schmetterlingen in meinem Bauch nicht einmal annähernd gerecht wird, die nichts mit der Auslese zu tun haben, sondern sich einzig darauf zurückführen lassen, wie sich meine Hand in der von Tomas anfühlt.
Die Tür des Aufzugs öffnet sich, und wir werden von weiteren Prüfern begrüßt. Ich schätze, dass sie Kleidung in offiziellen Farben tragen, um ihren Status zu unterstreichen. Sie wollen deutlich machen, dass sie die Erwachsenen sind. Sie haben hier das Sagen.
Wir werden in einen großen Raum geführt, der voll mit Stühlen ist. Vorn befindet sich eine Bühne. Die Lichter darauf sind strahlend und leuchten einen grauhaarigen bärtigen Mann an, der einen purpurnen Jumpsuit trägt. Er hält ein Mikrofon in der Hand und wartet offenbar darauf, dass wir alle Platz nehmen.
Hand in Hand lassen Tomas und ich uns auf zwei Stühle weiter hinten sinken. Wir halten nach Zandri und Malachi Ausschau, können sie aber nicht entdecken. Endlich sitzen auch die letzten Kandidaten für die Auslese. Die Prüfer, die wir draußen bereits gesehen haben, kommen herein und stellen sich in den Gängen auf. Und dann endlich beginnt der Mann vorn auf der Bühne zu sprechen.
»Willkommen in Tosu-Stadt. Mein Name ist Dr. Jedidiah Barnes. Ich spreche nicht nur für mich selbst, sondern auch im Namen all meiner Kollegen, wenn ich sage, dass es eine Ehre für uns ist, euch hier zu haben.« Sein Lächeln und seine Stimme sind voller Wärme. »Ihr seid hier, weil ihr die Besten und die Klügsten seid. Auf euren Schultern ruhen die Hoffnungen aller im Vereinigten Commonwealth. Hier unter euch befinden sich die zukünftigen Anführer unseres Landes. Aber jeder einzelne Anführer muss geprüft werden, und mit diesem Prozess werdet ihr heute beginnen.«
Einige der Prüflinge rutschen unruhig auf ihren Stühlen herum. Sind sie nervös? Aufgeregt? Ich gestehe mir ein, dass ich sowohl das eine als auch das andere bin.
Wieder lächelt der Mann. »Die Auslese gliedert sich in vier Teile. In den nächsten zwei Tagen werdet ihr die schriftlichen Examensprüfungen ablegen. Dort werden eure Kenntnisse in Geschichte, Naturwissenschaften und Mathematik und eure Lese-und Sprachfertigkeit abgefragt, und wir werden einen Eindruck von euren Fähigkeiten in den Bereichen Logik und Problemlösungsstrategien bekommen. Wenn diese Tests ausgewertet sind, werden wir uns von den ersten Kandidaten trennen.«
Die Anspannung im Raum steigt bei dieser Ankündigung noch weiter. Ich verstärke meinen Griff um Tomas’ Hand, was unangenehm für ihn sein muss. Aber er beklagt sich nicht.
»Der zweite Teil umfasst eine Reihe von praktischen Prüfungen, in denen ihr unter Beweis stellen könnt, dass ihr euer theoretisches Wissen auch in die Praxis umsetzen könnt. Diejenigen, die hier weiterkommen, werden aufgefordert werden, an Teil drei teilzunehmen – einem Test, in dem wir sehen wollen, ob ihr im Team arbeiten und die Stärken und Schwächen eurer Teammitglieder richtig einschätzen und bewerten könnt. Und schließlich bleibt noch der vierte Teil, in dem wir eure Führungsqualitäten und eure Fähigkeit, rasch Entscheidungen zu treffen, abprüfen werden. Diejenigen, die in allen vier Bereichen der Auslese eine hohe Punktzahl erreichen, werden einzeln vom Auswahlkomitee begutachtet. Diese abschließende persönliche und psychologische Bewertung wird uns dabei helfen zu entscheiden, wer an die Universität entsandt wird, wo ihr auf andere herausragende Köpfe stoßen und gemeinsam mit ihnen dabei helfen werdet, den Boden und unsere Gesellschaft zu alter Blüte zurückzuführen. Dies ist ein hochgestecktes Ziel, aber wenn ich bedenke, was ich über die diesjährigen Kandidaten gehört habe – ganz besonders über diejenigen aus Kolonien, die schon seit Jahren nicht mehr hier vertreten waren –, dann bin ich mir ganz sicher, dass ihr es schaffen könnt.«
Ich sehe, wie die Prüflinge in den Reihen vor uns die Hälse recken und nach uns Ausschau halten. Nach Malachi und Zandri, nach mir und nach Tomas. Meine Zimmergenossin hat gesagt, alle würden sich für uns interessieren, weil sie zuvor davon ausgegangen waren, dass die Five-Lakes-Kolonie schon lange eingegangen sei. Sie hätte es mir gegenüber erwähnt, wenn auch andere Kolonien bei der Auslese gefehlt hätten. Indem Dr. Barnes uns jetzt extra hervorhob, hat er uns praktisch eine Zielscheibe auf den Rücken gemalt. War das Absicht? Da seine Ansprache so geschliffen klang, nehme ich an, dass er sie sorgfältig vorbereitet hat. Will er die anderen Prüflinge anstacheln, uns das Leben schwer zu machen, oder versucht er nur, dafür zu sorgen, dass uns später niemand als Teammitglieder übersieht?
Dr. Barnes reicht das Mikrofon an eine drahtige Frau weiter, deren roter Jumpsuit sich mit ihren grell orangefarbenen Haaren beißt. Sie stellt sich als Verna Holt vor und verkündet: »Ihr werdet jetzt in eure jeweiligen Prüfungsräume geführt. Alle Kandidaten sind aufgrund ihrer bisherigen akademischen Erfolge Gruppen zugeordnet worden. Welcher Gruppe ihr angehört, seht ihr an dem Symbol auf eurem Erkennungsarmband. Wenn ihr das Symbol eurer Gruppe auf dem Bildschirm hinter mir seht, kommt ihr bitte mit den anderen Mitgliedern zum Tresen bei den Aufzügen. Dort wird euch ein Prüfer abholen und in euren Testraum bringen. Ich wünsche alles Gute für eure Anstrengungen und freue mich darauf, in den kommenden Tagen und Wochen mit euch zusammenzuarbeiten.«
Ein Motor surrt, und ein großer weißer Bildschirm erscheint über der Bühne. Ein schwarzes Herz blinkt. Einige Leute mit dem entsprechenden Symbol auf ihrem Armband beginnen zu murmeln. Ihre Zeit ist gekommen. Ich sehe, wie Nicolette in den Gang hinaustritt und zusammen mit etwa zwanzig anderen ihrer Gruppe durch die Tür verschwindet. Einige Minuten vergehen. Ein paar Prüflinge flüstern sich etwas zu. Ich halte den Atem an und warte darauf, dass die nächste Gruppe aufgerufen wird.
Ein Dreieck. Malachi und Ryme.
Weit auf der linken Seite erhebt sich Malachis kleiner, schmaler Körper von seinem Sitz. Vor lauter Konzentration – oder Angst – presst er die Lippen fest aufeinander, als er den Gang hinuntergeht. Ich versuche, ihm mit beiden erhobenen Daumen ein aufmunterndes Zeichen zu geben, aber er hat seinen Blick fest auf den Rücken des vor ihm laufenden Mädchens geheftet und bemerkt mich nicht.
Jetzt verstummt auch das Flüstern langsam wieder. Ich sehe, wie die anderen beim Warten unruhig hin und her rutschen. Mein Herzschlag passt sich den verrinnenden Sekunden an. Der Bildschirm flackert. Das nächste Symbol erscheint.
Meins.
Tomas saugt die Luft ein, und da fällt es mir wieder ein. Wir tragen beide dieses Zeichen auf unseren Armbändern. Obwohl ich mir sicher bin, dass Tomas uns andere in der Prüfung ausstechen wird, bin ich so froh und dankbar, dass er mit mir kommt. Er ist eine Erinnerung an zu Hause. Ich werde besser abschneiden, weil ich weiß, dass er in meiner Nähe ist.
Wir stehen auf und schließen uns den anderen an. Unwillkürlich bemerke ich, dass unsere Gruppe viel kleiner als die der anderen ist. Kaum dass wir draußen auf dem Gang sind, zähle ich. Zehn. Halb so viele Prüflinge wie im ersten Team. Ist das gut oder schlecht? Die zwei Prüfer in ihren hellroten und purpurnen Anzügen lassen mir keine weitere Zeit zum Grübeln. Die blonde Frau fordert uns auf, ihr zu folgen. Sie biegt nach links in den Gang ein, und wir anderen gehen ihr nach. Der dunkelhaarige Mann bildet das Schlusslicht.
Eine Frau an der Tür fordert uns auf, einzutreten und uns an einen der Tische zu setzen. Die Tür ist schmal. Tomas geht als Erster.
Ich bin als Nächste dran. Nach zwei Schritten bleibe ich stehen. Meine Füße scheinen am Boden festgewurzelt zu sein, und bittere Gallensäure steigt in mir auf.
Ich kenne diesen Raum.
Weiße Wände.
Weißer Boden.
Schwarze Tische.
Dies ist der Prüfungsraum aus den Albträumen meines Vaters.