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Inspektor Fusil malte auf seinem Schmierblock herum, kleine Strichmännchen, die sich an den Händen hielten. Wieder sah er auf den Kalender und stellte wohl zum sechstenmal, seit er die Information erhalten hatte, fest, daß es erst der zwölfte war. Noch acht Tage bis zum zwanzigsten.
Anonyme Hinweise spielten bei der Polizeiarbeit eine wichtige, häufig aber auch eine sehr enttäuschende Rolle. Die echten von den falschen zu unterscheiden, die manchmal nur Vernebelungsversuche waren, war sehr schwierig. Jeder Polizist, der sein Geld wert war, entwickelte mit der Zeit einen Instinkt dafür, ob so ein Tip stimmte oder nicht, doch nur ein Dummkopf würde behaupten, daß er sich nie irrte.
Fusil hielt den Hinweis auf die Heroinlieferung für wahr. Dafür sprach die Ungenauigkeit, ein ärgerlicher aber sehr typischer Punkt: Die Fragen wie, woher, wann, blieben offen. Wieviele Möglichkeiten, das Heroin nach Fortrow zu transportieren, gab es eigentlich? Da Fortrow einen großen Hafen hatte, dazu einen Flugplatz, war es unwahrscheinlich, daß das Rauschgift erst woanders verladen und dann mit einem Wagen weitertransportiert würde. Jedes Umladen bedeutete zusätzliche Gefahr und zusätzliche Kosten. Das Flugzeug war schneller, das Schiff sicherer, weil die Übergabe auf See erfolgen konnte; wenn Gefahr drohte, konnte man das Zeug einfach über Bord werfen.
Wieviel Flugzeuge landeten am zwanzigsten, wieviel Schiffe kamen herein? Er mußte feststellen, wo sie zuletzt angelegt hatten. Meistens wurde das Heroin von Hongkong oder Marseille aus versandt, wo sie Fachleute und Ausrüstung besaßen, um das Heroin aus der Morphinbase herzustellen. Schiffe oder Flugzeuge, die von diesen beiden Orten eintrafen, waren automatisch verdächtig und wurden genau durchsucht, also würden die Gangster nicht die direkte Methode wählen. Das Heroin konnte von Hongkong nach Kapstadt verschifft werden, ehe es nach England abging, oder von Marseille nach den Azoren. Ausschließen konnte er die Möglichkeit, daß es zuerst nach Amerika versandt wurde und von dort über den Atlantik zurückkam. Alle Schiffe aus Süd- oder Nordamerika konnten deshalb ausgenommen werden, dazu alle Schiffe und Flugzeuge aus Hongkong oder Marseille, obwohl die paradoxerweise automatisch überprüft würden. Verdächtig waren auch Schiffe oder Flugzeuge, die unplanmäßig im letzten Moment eingesetzt wurden, so daß ihre Route zuvor nicht bekannt war … Fusil zog einen dicken Strich durch die Männchen, die er gemalt hatte. Selbst wenn sie alle unwahrscheinlichen Transportrouten außer acht ließen, würden noch so viele Flugzeuge und Schiffe übrigblieben, noch so viele Passagiere und Mannschaften überprüft werden müssen, daß die ganze Operation sie schon entmutigte, ehe sie überhaupt anfingen. Darauf würde er seine Pension verwetten.
Sowohl bei der Grafschafts- wie bei der Stadtpolizei war es üblich, die unteren Ränge erst im letzten Augenblick über ein größeres Unternehmen zu informieren, damit nichts nach draußen durchsickern konnte. Man zweifelte nicht an der Ehrenhaftigkeit der Leute, doch man wußte aus Erfahrung, wie leicht ein unbedachtes Wort Schaden anrichten konnte. Die Polizei erhielt viel zu viele Hinweise durch Bemerkungen, die ein Gangster nebenbei in einem Gespräch fallen ließ, als daß man nicht besorgt gewesen wäre, umgekehrt könnte dies auch der Fall sein.
Fusil, Braddon, Inspektor Harris und Sergeant Pierce von der uniformierten Abteilung und Inspektor Plumrose von der Grafschaftspolizei – er operierte als Verbindungsmann, da die Grafschaft fünfzig Mann und zwei Hunde abgestellt hatte – sprachen stundenlang alle Möglichkeiten durch, prüften Ankunftszeiten der Schiffe und Flugzeuge und entschieden, welche Routen man unbeachtet lassen konnte. Sie entwarfen den Einsatzplan, legten fest, wo die fahrbaren Kantinen aufgestellt und die Meldestellen eingerichtet werden sollten. Am Mittwoch um Viertel nach neun Uhr abends waren sie fertig und gingen ins nächste Pub, um sich bei einem Bier ein wenig zu erholen. Als er sein zweites Glas trank, schlug Fusil vor, die Mannschaft am Donnerstag um vier Uhr nachmittags zu informieren. Alle waren einverstanden. Danach waren es nur noch neun Stunden und fünfundzwanzig Minuten, bis das erste Flugzeug eintraf, das durchsucht werden sollte.
Am Donnerstag morgen nahmen sie mit dem leitenden Beamten von der Wasserpolizei Kontakt auf, der sofort ein großes Geschrei erhob. Warum die Heimlichtuerei? Warum hatte man ihn nicht eher unterrichtet? Glaubte die Polizei etwa, seine Männer seien nicht vertrauenswürdig? Schließlich waren es seine Leute, die auf Drogenschmuggel spezialisiert waren – was wußte ein Stadtpolizist schon von den dafür erforderlichen besonderen Techniken? Braddon wurde beauftragt, ihm begreiflich zu machen, daß die Hafenpolizei nicht anders behandelt würde als die eigene Mannschaft. Braddon war für solche Aufträge besonders gut geeignet, vielleicht weil er so sehr einem Bluthund ähnelte, daß alle Leute ihm sofort glaubten.
Mit großen Schritten lief Kywood in Fusils Büro auf und ab. Plötzlich blieb er vor Fusils Schreibtisch stehen und fragte, die Hände auf die Platte gestützt: »Läuft alles, Bob?«
»Ja, Sir!« Kywood hatte sich diesmal großartig benommen, dachte Fusil. Er hatte nicht wie üblich auf irgendwelchen Kleinigkeiten herumgehackt und Maßnahmen angezweifelt, bloß um allen zu zeigen, daß er der große Boss war. Er hatte Fusil die ganze Organisation des Coups überlassen und ihm nur den Rücken gestärkt, wo es notwendig war. Angesichts einer Bedrohung der Stadt, wie er sie noch nie erlebt hatte, war Kywood über sich hinausgewachsen.
»Ich frage mich, ob wir es schaffen, eine richtige Spur zu finden!« meinte Kywood, richtete sich auf und bohrte die Hände in die Jackentaschen.
Fusil zuckte mit den Schultern. »Dafür möchte ich nicht die Hand ins Feuer legen, das steht fest. Der Tip könnte falsch sein, oder der Kurier uns durch die Finger schlüpfen, trotz allem, oder wir erwischen ihn und kriegen nichts aus ihm raus, weil sie die Sache zu geschickt organisiert haben.«
»Aber vielleicht weiß er doch was und singt, und wir können sofort zuschlagen.«
»Ich bezweifle es. Ein so gut organisierter Mob wie dieser hier erfährt so was sofort und löst sich in Dunst auf.«
Kywood nahm die Hände aus den Taschen. Er mußte auf dem Boden der Tatsachen bleiben, überlegte er, offenbar war die Phantasie mit ihm durchgegangen. »Auf unserer Seite darf es kein Leck geben«, meinte er deshalb.
»Ausgeschlossen«, antwortete Fusil angriffslustig.
Langsam schüttelte Kywood den Kopf, als ob er da gewisse Zweifel habe. Er teilte Fusils absolutes Vertrauen in seine Mannschaft, doch in einer kleinen Ecke seines Hirns saß ein Rest von Zweifel. Wenn sie einen Mann wie Brigadekommandeur Row umdrehen konnten, durfte man die Möglichkeit nicht ausschließen, daß auch ein Polizeibeamter seine Schwächen hatte.
Donnerstag nachmittag um vier Uhr informierte Fusil seine Leute, die sich in einem Vorführraum versammelt hatten. Obwohl alle Fenster offen standen, roch es kräftig nach menschlicher Ausdünstung. Er berichtete ihnen genau, was sie beabsichtigten, denn er war überzeugt, daß die Leute besser arbeiteten, wenn sie über das Wie und Warum genau Bescheid wußten. Danach las Sergeant Braddon den Einsatzplan für das Unternehmen vor. Ein paar Leute baten unter den verschiedensten Vorwänden, von den Überstunden befreit zu werden, doch Inspektor Harris, ein mürrischer Schotte, blieb hart und machte nur bei einem Mann eine Ausnahme, dessen Frau schwer krank war.
Um Viertel vor fünf Uhr war die Besprechung zu Ende.
Langsam ging Rowan den engen, dunklen Gang entlang und trat auf den Hof. In der Sonne stand er da und versuchte, klar zu denken, doch in seiner Panik konnte er keinen Gedanken fassen. Die Polizei hatte also einen Tip bekommen, und deshalb rollte jetzt diese Großaktion an. Wenn sie Erfolg hatte und ein Kurier erwischt wurde, handelte es sich entweder um einen Amateur, der wegen der guten Bezahlung so verrückt gewesen war, sich auf so was einzulassen, oder um einen Profi, der ihnen bekannt war. Der Amateur konnte wissentlich und der Profi unwissentlich einen Hinweis geben, der schließlich zur Identifizierung der Hintermänner führte. Und die Gangster hatten ihm versichert, daß sie ihn in so einem Fall mit in den Abgrund reißen würden … Nein, überlegte er dann, ein Kurier – Profi oder nicht – würde nichts Wichtiges wissen, eben weil man befürchtete, daß er gefaßt werden könnte. Deshalb würde dessen Aussage die Polizei nicht auf die Spur der Drahtzieher bringen … Doch angenommen, der Kurier hatte was erfahren und war bereit, gegen Straferleichterung auszusagen …
Rowan gehörte zu den Menschen, die schnell schwarzsahen. Er gestand sich zwar ein, daß aller Wahrscheinlichkeit nach der Kurier nichts Wichtiges wissen konnte, doch rein gefühlsmäßig war er überzeugt, daß zu seinem Pech der Mann diesmal ausnahmsweise genau informiert war. Die Gangster an der Spitze würden entdeckt, und das war auch ihr Untergang.
Er mußte die Organisation warnen, entschied er, denn er konnte die Folgen, die sein Schweigen haben würde, nicht riskieren. Irgendwie erschien ihm dieser neue Verrat viel logischer, viel unumgänglicher als der frühere. Er verließ den Hof und ging zu einer Telefonzelle, die ein paar hundert Schritte entfernt stand. Zwei-eins-zwei-drei-sechs-vier war die Telefonnummer. Er wiederholte sie immer wieder.
Fusil fluchte und schob einen Stoß Papiere zur Seite. Miss Wagner war wirklich eine zu perfekte Sekretärin. Er hatte ihr befohlen, diesen Haufen von Nebensächlichkeiten in den Papierkorb zu werfen. Im Präsidium der Grafschaftspolizei würde man sich gar nicht mehr erinnern, daß man ihm diese Akten überhaupt geschickt hatte, aber sie hatte seine Anordnungen mißachtet und ihn mit einer freundlichen, mit Schreibmaschine geschriebenen Notiz daran erinnert, daß er sie noch durchsehen müsse.
Fusil warf einen Blick auf die elektrische Uhr an der Wand. Josephine, seine Frau, würde ihn in Stücke reißen, wenn er wieder so spät nach Hause kam. Es war schon halb neun, und es würde bestimmt noch eine Stunde dauern, bis er sich durch den Papierkram gewühlt hatte. Und wenn er ihr dann erzählte, daß er um Mitternacht wieder wegmüßte und für mindestens vierundzwanzig Stunden wegblieb … eines Tages würde sie zum Chef gehen und ihm ihre Meinung sagen, wie er es zulassen könne, daß sich ihr Mann zu Tode arbeite.
Er nahm das nächste Blatt in die Hand – es war der Brief eines Kommissar Quijano von der Polizei in Palma de Mallorca. Er freue sich, seinen verehrten englischen Kollegen behilflich sein zu können, schrieb der Kommissar. Harry Longman, ein Engländer mit dem Paß Nummer 693249, ausgestellt in London, säße in Palma im Gefängnis, weil er zwei Polizeibeamte tätlich angegriffen habe und in der Bodega Tomir in der Calle Juan de Moyá Unruhe gestiftet habe. Er bedaure außerordentlich, daß man einen Engländer habe festnehmen müssen, da man doch wisse, daß alle englischen Gäste, die sich auf der Insel aufhielten, so freundlich seien, doch Longman sei so betrunken gewesen und so ausfallend geworden, daß man die Sache nicht habe übergehen können. Er, Kommissar Quijano, habe ausgedehnte Nachforschungen angestellt, jedoch seinem vorangegangenen Bericht nichts hinzuzufügen, außer der Tatsache, daß Longman bereits fünf Tage Ferien auf der Insel gemacht habe, ehe es zu diesem unerfreulichen Zwischenfall gekommen sei. Das englische Konsulat sei davon unterrichtet worden, doch dort habe man sich natürlich auf ein Verhalten beschränkt, das in einem solchen Fall angebracht sei. Er hoffe, daß mit diesem Brief alle Fragen der geschätzten Kollegen in England beantwortet seien, doch sollte sich noch ein Zweifel einstellen, so sei er gern bereit …
»Verdammt noch mal!« schimpfte Fusil und zerknüllte wütend den Brief. Wenn die Polizisten in Palma nichts Besseres zu tun hatten, als lange Briefe zu schreiben, wo eine kurze Notiz genügt hätte, dann sollten sie zur Abwechslung mal nach Fortrow kommen und hier arbeiten.