17

Die Boswell war kein Supertanker, doch groß genug, um rentabel zu sein. Sie hatte einen ziemlichen Tiefgang und mußte an der Flußmündung ankern, bis die Flut stark genug war.

Drei Stunden später gab der Lotse das Zeichen zur Weiterfahrt. Der Anker wurde gelichtet. Als die Ankerkette aufgerollt war und der Anker über der Wasseroberfläche erschien, hing ein großes Paket daran. Das Schiff hatte bereits Fahrt aufgenommen, das Wasser preßte das Paket gegen den Anker und die Schnur rieb sich an einer Ankerschaufel. Dann riß sie, und die Verpackung ging auf. Der wachhabende Offizier und ein Matrose, die über der Reling lehnten, sahen gerade noch die Leiche in ihrer Plastikhülle, bevor sie im Meer versank.

Verstohlen – so glaubte er wenigstens – sah Rowan auf die Uhr. Kurz nach zehn. Noch eine Stunde bis zum Aufbruch, noch vier Stunden bis zu seinem Einbruch ins Tranmere House.

»Bitte, Fred«, sagte Heather, und ihre Stimme klang bekümmerter denn je, »du mußt mir einfach sagen, wohin du gehst.«

»Das habe ich dir doch erzählt: herumhorchen und Fragen stellen, bei allen Spitzeln, die ich kenne.«

»Warum bist du dann so nervös?«

»Du hast einfach zuviel Phantasie!«

Eine Viertelstunde vorher hatte sie ihn das gleiche gefragt und die gleiche Antwort bekommen. Sie hatte ihm nicht geglaubt und glaubte ihm auch jetzt nicht. Er war nervös und hatte irgend etwas vor. Am liebsten hätte sie versucht, ihn von seinem Vorhaben abzubringen, denn sie spürte ganz instinktiv, daß es etwas Gefährliches war, doch sie wußte, daß dann das Unglück unvermeidbar war.

Die Türglocke läutete. »Wer, zum Teufel, kann das sein?« murmelte Rowan ärgerlich. Er stand auf, ging in die Halle hinaus und öffnete. Arm in Arm standen Helen und Kerr auf der Schwelle.

»Dürfen wir einen Augenblick reinkommen, Fred?« fragte Helen. »Wir waren zufällig in der Gegend, und da dachten wir, wir schauen mal rein. Wie geht’s Heather?«

Zufällig in der Gegend, dachte Rowan zweifelnd. Wahrscheinlich wollten sie ihn und Heather nur etwas aufmuntern, denn sowohl Kerr wie Helen gehörten zu den Leuten, die zu ihren Freunden standen, ganz gleich, was passierte. Doch durch ihr Erscheinen waren seine Pläne für den Abend in Gefahr …

Heather kam in die Halle gelaufen, sie hatte Helens Stimme gehört, und begrüßte sie mit offensichtlicher Freude. Sie gingen ins Wohnzimmer, und Rowan machte Drinks zurecht, wobei er sich ständig fragte, wie lange sie bleiben würden.

Anfangs unterhielten sie sich über unverfängliche Dinge wie hohe Preise und knappes Haushaltsgeld, über Inflation und die neuesten Filme. Der im Kino Zentral war die reinste Pornographie.

»Wirklich ekelhaft«, meinte Kerr. »Empörend.«

»Ich weiß nicht recht«, antwortete Helen, »du bist bis zum Ende geblieben.«

Der arrogante Yarrow hatte versucht, Weir auszuhorchen, erzählte Kerr, und hatte eine solche Abfuhr gekriegt, daß es sogar ihm die Sprache verschlagen hatte. Angeblich hatte die Polizeigewerkschaft eine Lohnerhöhung für alle Dienstgrade bis zum Inspektor gefordert, als Ausgleich für die ständig steigenden Lebenshaltungskosten.

»Wenn man bloß an die Fleischpreise denkt«, sagte Helen zu Heather, und kehrte damit zum Thema Lebensmittel zurück. »Wir hatten soviel zu tun«, meinte Kerr zu Rowan, »daß ich heute nachmittag nicht mal Zeit für eine Tasse Tee hatte.«

»Erzähl das jemand anders«, antwortete Rowan mit einem heimlichen Blick auf die Uhr, »so was kannst du mir nicht weismachen!«

»Ungelogen, Fred, so war es!« beteuerte Kerr. »Zwei Zeugenaussagen, und beidemal wohnten die Typen ganz woanders. Der eine hatte sich krankschreiben lassen und war nicht zur Arbeit erschienen, während seine Frau behauptete, er wäre munter wie ein Fisch und wie immer morgens weggegangen. Dann ein Fall von Fahrerflucht mit fünf Zeugen und fünf verschiedenen Aussagen über den Wagen. Ein paar Rentner wurden überfallen, vom Täter fehlt jede Spur. Und dann, gerade als ich nach Hause gehen wollte, hatte so ein verdammtes Schiff ’ne Leiche am Anker, die ihnen aber wieder ins Wasser fiel. Sie hatten sich die Position genau gemerkt, und ein paar Froschmänner zogen los und fanden die Leiche nach einer halben Stunde. Der Kerl war erwürgt und mit ein paar Eisenteilen versenkt worden. Gerade erst reingeworfen, allem Anschein nach.«

»Hast du eine Ahnung, wer es ist?«

»Noch nicht. Der Alte meint, er könnte was mit den Gangstern zu tun haben.«

»Wieso?«

»Du kennst ihn doch – er sagt einem nie, was er denkt. Aber ein paar Punkte an dem Fall sind interessant. Zum Beispiel hatte der Typ über hundert Pfund in der Brieftasche, und sein Anzug war bestimmt nicht von der Stange. Aber man fand keine Briefe, keine Kreditkarte, keinen Führerschein oder irgendeinen Ausweis. Natürlich lassen wir seine Fingerabdrücke überprüfen, aber du weißt wie die Leute vom Labor sind: Die sterben nicht an Überarbeitung.«

»Wie sah er denn aus?«

»Du meinst, bevor er ins Wasser gefallen ist und anschwoll?« Kerr grinste. Wie viele seiner Kollegen versuchte er, die unangenehmen Seiten seines Berufs mit Ironie zu überspielen, die ein Außenseiter ziemlich makaber finden konnte. »Er war ein hübscher Kerl, regelmäßige Gesichtszüge, dunkles Haar, einsachtzig groß.«

»Hatte er irgendein besonderes Merkmal? Am Mund, zum Beispiel?« fragte Rowan so unbefangen wie möglich.

»Besonderes Merkmal? Nein, eigentlich … doch, da fällt mir ein, daß er eine Narbe am rechten Mundwinkel hatte.« Kerr starrte Rowan forschend an. »Wie kommst du auf so was?«

»Ich bin kürzlich einem Burschen begegnet, der sich für gerissen hielt, und der hatte eine Narbe am Mund – aber ich habe keine Ahnung, wie er heißt.«

»Oder warum man ihn erwürgt hat?«

»Genau.«

Kerrs Zweifel waren offensichtlich – was ganz normal war, denn Rowan hatte seine Bestürzung nicht verborgen. Doch ausnahmsweise war er so taktvoll, keine Bemerkung darüber zu machen. Ja, er wechselte sogar das Thema.

Zehn Minuten später meinte Helen, daß sie nun gehen müßten, und weitere zehn Minuten danach machten sie sich zum Aufbruch bereit. In der Halle gab es noch einen langen Abschied, und dann gingen Kerr und Helen Hand in Hand weg. Ob sie wohl immer so unbeschwert und glücklich sein werden, überlegte Rowan. Vielleicht schafften sie es, denn Helen war ein unglaublich selbstloses und hilfsbereites Geschöpf und Kerr hatte die Gabe, allen Dingen eine gute Seite abzugewinnen, und verbreitete Optimismus, wohin er kam. Rowan beneidete sie mit einem bitteren und traurigen Gefühl im Herzen.

Er starrte durch die leere Halle und versuchte verzweifelt, vernünftig zu denken. Der Ermordete war Faraday, darüber gab es keinen Zweifel, auch wenn die Identifizierung auf schwachen Beinen stand. Faraday war ein Dummkopf gewesen. Statt die Füße unter die Arme zu nehmen, solange er noch konnte, hatte er versucht, Murphy einen Bären aufzubinden, und Murphy war nicht auf ihn hereingefallen. Das bedeutete, daß Murphy Bescheid wußte. Dann hatte er entweder das Haus verlassen und war irgendwo untergetaucht, oder – und das war viel wahrscheinlicher –, er war dageblieben und hatte eine Falle gestellt. Im Geist sah Rowan die Szene vor sich: wie er in das Haus einstieg, ohne Verdacht zu erregen, und wie er seinen Irrtum entdeckte, als es bereits zu spät war … Er hätte nur auf eine Art und Weise Tranmere House wieder verlassen: mit den Füßen voraus, zu Tode gequält, um ihn zum Sprechen zu bringen. Er konnte es also nicht riskieren.

Wenn er es sein ließ, würde Weir sich Raymond vorknöpfen und von ihm das Motiv erfahren. Bald darauf würde er ganz offiziell angeklagt werden und Murphy dafür sorgen, daß die letzten belastenden Beweise auftauchten. Natürlich konnte er erklären, daß Murphy der Boss der Gangsterorganisation war, doch er hatte keine Beweise und Murphy hatte die Stadt schon zu fest in der Hand, als daß irgend jemand den Mund aufmachte. Für ihn, Rowan, gab es nur einen Ausweg, und damit war er wieder beim Anfang: Er mußte ins Tranmere House einsteigen. Und genau das konnte er nicht mehr.

Heather erschien mit einem Tablett schmutziger Gläser in der Tür. »Es war wirklich sehr nett von ihnen, uns zu besuchen«, meinte sie, »findest du nicht auch?«

Er nickte.

»Fred …« Betroffen schwieg sie, als sie sein Gesicht sah.

»Was ist passiert?« fragte sie dann.

»Ich gehe heute nicht mehr weg.«

»Gott sei Dank! Aber warum? Hat eine Bemerkung von John deinen Sinn geändert? Geht es um den Toten, den man ins Meer geworfen hat?« Ihre Lippen begannen zu zittern. »Hör, Fred, es ist mir gleich, wie schlimm alles noch kommt, aber ich möchte nicht erleben, daß man dich aus dem Meer zieht – tot!« Sie stellte das Tablett ab, lief zu ihm hin und schüttelte ihn. »Verstehst du? Es ist mir gleich! Ich kann viel aushalten!«

Das werden wir wohl beide müssen, dachte er.

 

Er lag im Bett. Wie viele Nächte wälzte er sich jetzt schon schlaflos in den Kissen und versuchte, eine Lösung zu finden? Wie lange würde er noch durchhalten?

Hätte er den Einbruch riskieren sollen? Vielleicht hatte Murphy Faraday doch geglaubt und ihn nur aus Sicherheitsgründen umgebracht, da man ihn jetzt kannte. Doch der Boss einer solchen Organisation war clever, und clevere Leute übersahen gewöhnlich nicht, was offensichtlich war.

Ihm fielen seine ersten Unterrichtsstunden als Constable der Kriminalabteilung ein: Die Kunst des Verhörs. Ein Polizist sollte Mitgefühl mit dem Verdächtigen zeigen, ihm nicht drohen, ihn nicht fertigmachen, sondern bei Laune halten, sich sein Vertrauen erwerben, immer den guten Kumpel spielen. Ein Polizist mußte die Stärken und Schwächen des Gegners erkennen und die Schwächen ausnützen …

Wo war Murphys schwache Stelle? War es seine Organisation? Doch die war beinahe vollkommen, denn inzwischen mußte er sich auch politischen Schutz erkauft haben, oder erpreßt. Kein unbedeutendes Mitglied des Mobs konnte ihm etwas anhaben, weil er keine Beweise hatte. Wichtigere Leute in der Organisation würden nur unter hartem Druck aussagen, wie ihn die Polizei nicht anwenden durfte. Vor der Polizei war er so gut wie sicher – eine fette, giftige Spinne, die in ihrem Netz saß und ihre Beute fraß. Auch körperlich konnte man ihm nichts anhaben. In dem Augenblick, als er beschloß, Faraday zu töten, mußte er erkannt haben, daß er eine Leibwache brauchte. Bestimmt hatte er inzwischen derartige Sicherheitsmaßnahmen getroffen, daß ihm nur noch mit einem polizeilichen Großeinsatz beizukommen war. Wenn man ihm also auf keine Weise an den Kragen konnte … und plötzlich fiel Rowan wieder ein, wie Faraday zu Tode erschreckt dagelegen und von Murphy erzählt hatte: Murphy hatte eine schwache Stelle, einen wunden Punkt! Und er kannte jemand, der so verzweifelt war, daß er alles riskieren würde, um Murphy fertigzumachen. Er selbst würde auch mitspielen, auch wenn er dadurch die Entdeckung gerade der Dinge beschleunigte, die er verbergen wollte.

 

Rowan parkte vor dem Causeway Apartmenthaus, neben einem riesigen Buick. Das Wetter war wechselhaft. Gerade kam die Sonne hinter einer dunklen Wolke hervor, die Regen verheißen hatte. Ein leichter Ostwind wehte und es war ziemlich kühl.

Er betrat die achteckige Halle mit dem achteckigen Blumenbeet in der Mitte, das noch trostloser und staubiger aussah als beim letztenmal.

»Zu wem möchten Sie?« fragte der Portier aus seiner Loge. Rowan kannte ihn nicht.

»Polizei! CID«, antwortete Rowan kurz.

Der Portier zögerte. Offensichtlich überlegte er, ob er einen Ausweis verlangen sollte. Doch dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und starrte den andern nur neugierig an.

Rowan stieg in den Lift und drückte auf den Knopf für den dritten Stock. Leise fuhr der Aufzug hinauf. Im Korridor war niemand zu sehen, alles war still. Rowan klingelte bei 3B.Violet Carter öffnete sofort. Sie erkannte ihn wieder, und ihr berufsmäßiges freundliches Lächeln verschwand schlagartig.

Rowan trat ein und schloß die Tür hinter sich.

»Was wollen Sie?« fragte Violet.

»Ich wollte nur wissen, wie’s Ihnen geht.«

»Gut.«

»Der Mob läßt Sie also in Ruhe?«

Sie verzog den Mund. »Vermutlich glauben sie, daß es genügt hat, Vince umzubringen.«

»Das hört sich ja an, als würden Sie ihn immer noch vermissen.«

Sie beschimpfte ihn, weil seine Bemerkung geklungen hatte, als könnte eine einfache Prostituierte keine echte Trauer um ihren ermordeten Zuhälter empfinden.

Rowan klimperte mit den Münzen in seiner Hosentasche. »Ich frage mich, ob Sie vielleicht inzwischen erfahren haben, wer der Boss ist?«

»Glauben Sie, ich wäre dann noch hier?«

»Ich wiederhole, was ich schon beim letztenmal gesagt habe: Lassen Sie einen privaten Rachefeldzug sein.«

»Und was habe ich davon? Was haben Sie herausgefunden? Erzählen Sie doch! Verdammt noch mal, wissen Sie überhaupt was?«

»Ich bin der Meinung«, sagte er langsam, »daß wir seinen Namen und seinen Aufenthaltsort kennen, aber wir sind nicht sicher.«

Sie starrte ihn fassungslos an. »Sie wissen also Bescheid?«

»So ungefähr.«

»Warum haben Sie ihn dann nicht festgenommen?«

»Ich habe keine Beweise. Nicht die Art Beweise, die ein Gericht anerkennen würde.«

»Verdammt! Beweise! Er hat Vince umgebracht, reicht das nicht?«

»Wir können ihn nicht festnehmen, wenn wir diese Dinge vor Gericht nicht beweisen können.«

»Also: Wie heißt er?« rief sie wütend.

»Lassen Sie die Finger davon!«

»Scheren Sie sich zum Teufel, mit all Ihren Beweisen! Wie heißt er?«

»Sie haben gegen ihn keine Chance. Außer …«

»Außer?«

»Außer er denkt, daß Sie das Mädchen sind, welches man ihm zur abendlichen Unterhaltung geschickt hat.«

Da erkannte sie den wahren Grund, warum er gekommen war.

 

Rowan betätigte den Blinker, und im dunklen Wageninnern blinkte das grüne Lämpchen auf.

»Ist es hier?« fragte Violet.

»Das Haus dort drüben mit dem Gartentor«, sagte Rowan und wendete.

»Ganz schön groß.«

Die Wagenscheinwerfer beleuchteten den Eingang und die sich daneben hochrankende Klematis.

»Wissen Sie eigentlich«, sagte Violet und drückte ihre Zigarette aus, die sie sich eben erst angezündet hatte, »daß Sie mir noch gar nicht erzählt haben, warum Sie mitmachen?«

»Das stimmt.« Er bremste und hielt genau vor dem Eingang. »Vergessen Sie nicht: Schlagen Sie ein Fenster ein und schreien Sie!«

»Ich werde schreien, Mister, als wäre ich wieder dreizehn und ein Kerl wollte mich vergewaltigen!« Sie stieß die Wagentür auf und stieg aus. Rowan beobachtete, wie sie auf die Haustür zuging und läutete und fuhr los.

Eine Kreuzung weiter stand eine Telefonzelle. Er hielt davor an und sah nach, ob das Telefon funktionierte. Dann setzte er sich wieder in den Wagen und zündete sich mit zitternden Händen eine Zigarette an. Wer ihr wohl geöffnet hatte, überlegte er. War Murphy überrascht gewesen? Die größte Gefahr war, daß schon eine andere Frau gekommen war oder jemand im Haus Violet erkannte. Doch das war ein Risiko, das sie eingehen mußten. Lieber nicht mehr daran denken! Er mußte sich einfach auf sie verlassen. Sie war ein Profi und sicherlich unerhört gut in ihrem Job. Sie hatte geschworen, daß, falls nichts schiefging, sie Murphy die aufregendste Stunde seines Lebens bereiten würde. Rowan glaubte ihr. Haß war eine genauso gute Antriebskraft – wenn nicht sogar eine bessere – wie Liebe. Sie würde ihn zu ungeahnten Höhen führen, um ihn danach um so tiefer stürzen zu lassen. Weiß Gott, sie hatte ganz schön verrückt geklungen, als sie erzählte, was sie alles mit Murphy anstellen würde.

Endlich war es Zeit. Er trat in die Telefonzelle und wählte 99. Er verlangte die Polizei und berichtete, daß er im Tranmere House Schreie und verdächtige Geräusche gehört habe. Dann stieg er wieder in den Wagen und fuhr zu Murphys Villa. Jetzt würde der diensthabende Inspektor in der Telefonzentrale der Grafschaftspolizei eine Funkstreife in die Ashdowne Road beordern und der diensttuende Sergeant die Stadtpolizei informieren, damit sie einen Panda-Wagen und die nächsten Streifenpolizisten zum Schauplatz schickten.

Die Sekunden dehnten sich endlos, und seine Sorge, daß es ein Reinfall werden könnte, wuchs. Ein Vogel flatterte kurz in einem nahen Baum auf, und irgendwo in der Ferne schrie eine Eule dreimal. Ein leerer Lieferwagen ratterte vorbei. Eine Wolke schob sich vor den Mond.

Als er gerade glaubte, daß alles umsonst gewesen war, hörte er Scheiben klirren. Jemand schrie, so hoch und gellend, daß er beinahe glaubte, es wäre echt. Keine paar Sekunden später – er kletterte gerade aus seinem Mini – bog eine Funkstreife in die Ashdowne Road ein und hielt mit quietschenden Bremsen neben ihm.

»Los, kommen Sie mit!« befahl Rowan, während er auf die Haustür zurannte.

Der Fahrer der Funkstreife reagierte ganz automatisch. Er hielt Rowan für einen Kollegen von der Stadtpolizei, stieg aus und lief hinter ihm her. Der zweite Mann meldete sich über Funk ab und folgte ihnen ebenfalls.

Rowan hämmerte an die Haustür. Als man nicht sofort öffnete, schlug er das nächste Fenster mit einem Stein aus dem darunterliegenden Blumenbeet ein. Er langte hinein, öffnete den Riegel und schob das untere Schiebefenster hoch.

Während er sich über das Fensterbrett schwang, ging das Licht im Zimmer an. Parasad – in einer Art Nachthemd, das sehr exotisch aussah – kam hereingerannt, ein Messer mit einer langen Klinge in der Hand. Als er hinter Rowan den Polizisten in Uniform sah, ließ er den Arm sinken und blieb unsicher stehen.

»Halten Sie den Kerl hier fest!« rief Rowan. »Stellen Sie fest, was, zum Teufel, eigentlich los ist. Ich sehe oben nach. Ihr Kollege soll die Verbindung zum Präsidium halten!«

Die Treppenstufen waren sehr breit, er nahm immer drei auf einmal. Die Halle im ersten Stock war groß und rechteckig und mit vielen alten Porzellantellern geschmückt. In einem Gang stand Verna, die linke Hand erhoben, als wollte er gerade an eine Tür klopfen. In der rechten Hand hielt er etwas, das Rowan nicht erkennen konnte.

»Polizei!« schrie er.

Verna ließ den Gegenstand in seiner rechten Hand in der Tasche verschwinden und trat zurück.

»Wer ist noch im Haus?« fragte Rowan.

Verna zögerte. »Nur wir beide und … und er.« Er deutete auf die Tür. »Und das Mädchen«, fügte er hinzu.

»Gehen Sie hinunter, melden Sie sich beim Constable und warten Sie da!«

»Aber wenn was passiert ist …« Er deutete wieder auf die Tür.

»Damit werden wir schon fertig. Gibt es eine Hintertreppe?«

»Ja.«

»Wo?«

»Am anderen Ende vom Korridor.«

»Okay. Nun verschwinden Sie!«

Zögernd gehorchte Verna. Er zeigte ganz offen, daß er nur ungern ging.

Rowan hämmerte an die Tür und rief: »Machen Sie auf! Hier ist die Polizei!«

Ein Schlüssel drehte sich im Schloß, die Tür ging auf und Rowan trat ein. Murphy war tot. Im Zimmer sah es aus wie in einem Schlachthaus. Neben der nackten Leiche lag ein Messer mit Perlmuttgriff und einer zehn Zentimeter langen Klinge. Violet Carter stand keuchend daneben, ein geistesabwesender Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. Sie trug ein raffiniertes Etwas aus Leder und Handschuhe – sicherlich hatte Murphy erst im letzten tödlichen Augenblick erkannt, warum sie sie trug. Sie war über und über voll Blut.

»Haben Sie den Safe gefunden?« fragte er sofort. Als sie nicht antwortete, packte er sie am Arm und schüttelte sie. »Wo ist der Safe?« schrie er.

»Hinter dem Ölbild dort an der Wand«, antwortete sie endlich.

»Was für ein Modell ist es? Wo sind die Schlüssel?«

Sie schüttelte den Kopf.

Jetzt darf doch nichts mehr schiefgehen, dachte er wütend: nicht nach diesem entsetzlichen Mord! »Ziehen Sie sich an!« Er stürzte auf die Renoir-Kopie an der Wand zu und fluchte erleichtert, als er dahinter den Safe entdeckte. Aber wo war der Schlüssel? Er wirbelte herum. Violet streifte sich gerade ihr Kleid über. »Was für einen Anzug hatte er an?« fragte Rowan.

»Den grauen.«

»Verdammt! Nehmen Sie sich zusammen!« befahl er und riß eine Tür des Einbauschranks auf. Drei verschiedene graue Anzüge hingen da. »Welcher?« fragte er.

Allmählich schien sie ihre Fassung wenigstens teilweise wiederzugewinnen. Sie deutete auf einen und sagte: »Dieser hier.«

Rowan durchsuchte die Taschen, fand aber keine Schlüssel. Trotzdem – sie mußten doch hier irgendwo sein, irgendwo … In der einen Ecke des Zimmers neben einer Tür, die ins Bad führte, stand ein schöner kleiner Schreibtisch mit Intarsien. Er hatte zwei große Schubladen und rechts und links eine Menge kleinere, aber nur die oberste rechte war verschlossen. Vermutlich lag der Schlüssel dazu in einer der unverschlossenen, doch er hatte keine Zeit mehr, nach ihm zu suchen. Er sprengte die Schublade mit dem blanken Messingfeuerhaken vom offenen Kamin, und trotz aller Eile und Aufregung zuckte ihm dabei der Gedanke durch den Kopf, daß es barbarisch war, ein so schönes Stück zu demolieren. Zwei Schlüssel, einer mit einem sehr kompliziert wirkenden Bart, lagen in der Schublade.

Er probierte den komplizierten am Safe aus. Er paßte, die schwere Tür ließ sich öffnen. Drinnen lagen ein riesiger Haufen Banknoten, sorgfältig nach ihrem Wert geordnet, ein schäbiges ledernes Juwelenkästchen, ein großer, unverschlossener brauner Umschlag und ein in braunes Packpapier gewickeltes Päckchen mit Heathers Schrift darauf. Er blickte in den Umschlag. Es lagen Negative und Abzüge darin, die er in seine Tasche gleiten ließ.

Vor dem Haus hielt ein Wagen, Türen wurden zugeworfen. Er hatte nicht mehr viel Zeit, überlegte Rowan. Mit vorsichtigen Bewegungen holte er ein paar Bündel Geldscheine und das braune Päckchen aus dem Safe und stopfte alles in seine Jackentaschen. Dann schloß er den Safe und steckte die Schlüssel in den grauen Anzug, nachdem er sie sorgfältig abgewischt und mit den Abdrücken des Toten versehen hatte. Zuletzt schob er das Bild wieder vor. Violet hatte ihn während der ganzen Zeit mit ausdrucksloser Miene beobachtet. Falls sie erriet, was vorging, ließ sie es sich nicht anmerken.

»Kommen Sie«, sagte er, »gehen wir!« Gehorsam folgte sie ihm.

Er öffnete die Schlafzimmertür. Stimmen drangen aus dem Erdgeschoß zu ihnen herauf. Plötzlich wurden sie lauter: Offenbar kamen Leute die Treppe herauf. Rowan ergriff Violets Hand und zog sie über den dicken Teppich des Korridors.

Zuerst konnte er die Hintertreppe nicht sehen, und er dachte schon, der Pakistani hätte ihn angelogen und ihm eine Falle gestellt. Gerade, als die Stimmen den Vorplatz im ersten Stock erreicht zu haben schienen, standen sie vor einer Tür, an der der Gang endete. Zu seiner Erleichterung ließ sie sich öffnen. Gerade noch rechtzeitig schlüpften sie hindurch. Dahinter entdeckte er die Treppe.

Er bat Violet, oben zu warten, und schlich hinab. Alles war ruhig. Leise rief er Violet zu, sie sollte herunterkommen. Küche und Speisekammer waren nicht beleuchtet. Er holte eine kleine Taschenlampe aus der Brusttasche und schaltete sie an. Die Hintertür war verriegelt und verschlossen. »Machen Sie die Tür auf«, sagte er, »so leise Sie können! Ich leuchte Ihnen.« Er beobachtete, wie sie vorsichtig den Riegel zurückschob und die Kette abnahm, auf der sie blutige Spuren von ihren Handschuhen zurückließ. Sie drehte den Schlüssel um.

Im Garten war es dunkel. Nur das Licht der Straßenbeleuchtung schimmerte matt durch das Laub der Bäume. Kein Mensch war zu sehen. Alle Aktivität beschränkte sich auf den Vordereingang oder das Hausinnere.

Rowan langte in die Tasche und holte die Notenbündel hervor. Er drückte sie Violet in die Hand und sagte: »Hier, nehmen Sie! Am besten verschwinden Sie wohl aus der Stadt und fangen irgendwo neu an. Da können Sie Geld brauchen. Haben Sie die Autoschlüssel?« Sie nahm sie aus einer Tasche ihres Kleides und zeigte sie ihm. Er nickte und schob sie auf das Tor zu, das beim Öffnen leise quietschte.

Sobald er ihren Wagen anfahren hörte – sie hatte ihn am Nachmittag in der Nähe abgestellt –, warf er das verräterische Päckchen in einen der vielen Büsche, rannte ums Haus und rief dabei nach Verstärkung.

 

Als Rowan nach Hause kam, lag Heather längst im Bett. Doch sie hatte nicht schlafen können. Besorgt blickte sie ihm entgegen. »Was hast du gemacht, Fred?« fragte sie leise.

Er ließ das braune Päckchen auf die Bettdecke fallen. »Es ist alles vorbei, Liebling! Du brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen.«

Sie starrte auf das Päckchen, als könne sie ihren Augen nicht trauen. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie endgültig begriff, daß die Gefahr vorüber war. Er holte die Fotos und Negative aus der Tasche und gab sie ihr.

Sie zögerte, blickte ihn an und zupfte an einer der Vergrößerungen. »Hast du … hast du sie dir … angesehen?« fragte sie.

»Nein.«

»Es ist nicht so gewesen, ich schwöre es dir! Es stimmt nicht. Ich wußte überhaupt nicht, daß der Kerl hinter mir stand. Raymond sagte bloß, ich sollte …«

»Reg dich nicht auf! Denk nicht mehr dran!« meinte er müde und küßte sie zärtlich. »Glaubst du denn, ich hätte das alles riskiert, wenn ich nicht von deiner Unschuld überzeugt gewesen wäre?«

Sie zerknüllte die Bilder, warf die Bettdecke zurück und sagte entschlossen: »Ich geh jetzt in den Keller und verbrenne sie.«