16

Es war zehn Minuten nach sechs Uhr morgens, und die Vögel sangen, als würden sie bei einer Wagner-Oper auftreten. Ein leichter Wind bewegte die Blätter an den Bäumen, und die Sonne warf lange Schatten über den Rasen und die sauberen Blumenbeete.

Murphy, im Pyjama und Morgenmantel, drehte sich um, und nur ein genauer Beobachter hätte die Spannung bemerkt, die er hinter einer Maske der Gelassenheit verbarg.

»Das ist die ganze Geschichte, Ed!« sagte Goater. »Ehrlich! Ich wachte auf, und da stand der Kerl an meinem Bett und hat mich bewußtlos geschlagen. Als ich wieder zu mir kam, hatte er mich verschnürt wie ein verdammtes Paket. Ich habe Stunden gebraucht, bis ich mich befreien konnte. Mich und dann Pete.«

Murphy ging zum Kamin, öffnete eine silberne Zigarettendose, nahm eine Zigarette heraus und zündete sie sich an. Ein Pakistani kam mit einem Tablett mit drei vollen Kaffeetassen herein, jeder der Männer nahm eine. Murphy bemerkte, daß Faraday sehr hastig trank. Der Pakistani ging hinaus.

»Hast du keine Ahnung«, sagte Murphy zu Faraday, »für wen der Kerl arbeitet?«

»Er hat sich durch nichts verraten, Ed«, antwortete Faraday ernst, »obwohl ich versucht habe herauszufinden, ob er zu einem andern Mob gehört oder was.« Er hatte lange nachgedacht, ehe er zu Murphy gekommen war. Am vernünftigsten wäre es gewesen, sofort zu verschwinden, da Murphy auf irgendeine Weise die Wahrheit erfahren konnte. Aber er hatte sich so daran gewöhnt, viel Geld zu haben, zu kaufen, worauf er Lust hatte, und ein großer Mann in einer großen Organisation zu sein, daß er auf die Stimme der Vernunft nicht hören wollte und auch nicht konnte. Er redete sich ein, daß er mit seiner Lügenstory schon durchkommen würde.

»Und alles, was er von dir wissen wollte, war mein Name?« fragte Murphy.

»Genau. Und als ich ihm von Harry Chambers erzählte und ihn beschrieb, war er zufrieden.«

Plötzlich lachte Murphy. »Das gefällt mir, Pete! Daß du Harrys Namen genannt hast.«

»Das dachte ich mir, Ed.«

Sie hatten Harry Chambers begraben, vor mehr als sechs Monaten, in einem kleinen Wald in Herfordshire.

»Es war sehr klug von dir«, meinte Murphy.

»Ich habe nichts verraten.«

»Ich weiß … trotzdem wirst du für einige Zeit untertauchen müssen – bis wir den Typ erwischt haben.«

»Ja. Ich dachte, ich fahr ein bißchen weg, nach London, bis du ihn gefunden hast.«

»Gute Idee!« Murphy kam zu dem Schluß, daß Faraday ihn verraten hatte. »Am besten, du bleibst hier bis heute nachmittag, dann fährt dich Nath nach London. Wir bleiben in Verbindung, und sobald die Luft wieder rein ist, kommst du zurück.« Er wandte sich an Goater. »Du machst die Bude zu und ziehst zu Bill und Andy.« Seine Stimme klang nach wie vor ruhig. Er ließ sich nicht anmerken, daß ihm die ganze Geschichte nicht gefiel, denn nichts paßte zusammen. Die Konkurrenz wäre nicht auf diese Weise vorgegangen, noch dazu nur mit einem einzigen Mann. Außerdem würde er es längst erfahren haben, wenn sich ein Neuer hier hätte breitmachen wollen. Warum war es nur ein einziger Mann gewesen? Falls es sich um eine Ein-Mann-Show handelte, wie es im Augenblick den Anschein hatte, war es das beste, so zu tun, als wäre nichts geschehen. Faraday war ein geldgieriger Hund. Sonst wäre er abgehauen, ohne jemand irgend etwas zu erzählen. Goater wäre mit ihm gegangen. Der große Unbekannte konnte durchaus so verrückt sein, hier im Tranmere House einbrechen zu wollen. Sie würden ihn erwarten, ihn in die Mangel nehmen und erfahren, was dahintersteckte. »Also, Pete«, sagte Murphy jetzt kühl, »du gehst nach oben, und bleibst in einem der Schlafzimmer, bis wir eine Fahrgelegenheit für dich organisiert haben. Und du, Jim, ziehst um!«

Goater ging, ganz offensichtlich erleichtert, welchen Verlauf die Sache genommen hatte. Faraday wirkte sogar noch erleichterter als er. »Ed«, sagte er, »der Kerl hat keinen Augenblick daran gezweifelt, daß es Harry ist.«

»Ja, das hast du sehr geschickt gemacht.«

»Ich nahm einfach an, es wäre besser, ihm was zu erzählen, das er mir auch abkaufen würde.«

»Ja. Bevor du dein kostbarstes Etwas verlierst auf jeden Fall. War eine schlimme Geschichte, Pete! Ich hätte genauso gehandelt.«

Faraday war beruhigt. Murphy klingelte nach einem Pakistani, gab ihm ein paar kurze Befehle, und dann verließen der Pakistani und Faraday das Zimmer.

Kaum war Faraday gegangen, da rief Murphy Jarrold an. »Titch«, sagte er, »wir sitzen in der Tinte. Mach dich drauf gefaßt, bald abzuhauen!«

Er legte den Hörer auf die Gabel. Heute abend, überlegte er, mußte es aussehen, als wäre das Haus vollkommen unbewacht. Man durfte nicht merken, daß sie in höchster Alarmbereitschaft waren. Am besten würden ein oder zwei Fenster offen bleiben. Dann, wenn der Kerl kam, würde er nicht lange zögern, einzubrechen …

 

Kriminalchefinspektor Weir war sehr höflich. »Sie haben also tatsächlich nichts dagegen, Mrs. Rowan«, sagte er, »uns Ihre Finanzen in allen Einzelheiten zu erklären?«

Sie sah ihn offen an, dann warf sie einen hastigen Blick auf den Sergeanten an seiner Seite, einen ziemlich knöchern wirkenden Mann. »Habe ich denn eine Wahl?« fragte sie bitter.

»Es ist nur zu Ihrem eigenen Besten, das sehen Sie doch ein?«

»Alles, was wir besitzen, ist von dem Geld gekauft, das mein Mann und ich verdienen«, erklärte sie heftig.

Er nickte. »Davon bin ich überzeugt. Aber leider ist es meine Pflicht, das nachzuprüfen. Die einfachste Lösung wäre, daß Sie Ihre Bank informieren, damit wir uns Ihre Konten ansehen können. Wenn wir irgendwelche Zweifel haben, melden wir uns.«

»Wir haben ein gemeinsames Konto, und ich habe außerdem noch ein eigenes. Sonst haben wir nur noch in eine Bausparkasse eingezahlt. Sicherlich wollen Sie diese Abrechnung auch sehen?«

»Es wird notwendig sein, ja.«

Sie ging zum Telefon, schlug die Nummer ihrer Bank nach und wählte. Weir sah sich im Zimmer um. Die Möbel waren teuer, ein Farbfernseher war auch da. Ein gewöhnlicher Constable konnte sich solche Dinge nicht leisten. Aber sie hatte erzählt, daß sie sehr viel mehr verdiente als ihr Mann. Weir war überzeugt, daß alle Dinge im Haus auf legalem Weg erworben worden waren. Immer mehr sprach dafür, daß Rowans Motive für den Verrat – falls er der Täter war – nichts mit Geld zu tun hatten.

Mrs. Rowan hatte ihr Telefongespräch beendet und berichtete, daß sie die Bank gebeten habe, ihm alle Unterlagen zu zeigen, die er sehen wollte. Weir bedankte sich freundlich. »Sie haben keine Idee«, meinte er, »wo Ihr Mann heute vormittag stecken könnte?«

»Nein, leider nicht.«

»Wenn er zurückkommt, bitten Sie ihn doch, mich anzurufen. Ich würde mich gern mit ihm unterhalten.« Er stand auf. »Übrigens würden wir gern bei den Leuten vorbeischauen, für die Sie arbeiten, Mrs. Rowan. Könnten Sie uns eine Liste mit den in Frage kommenden Namen und Adressen aufstellen? Vielleicht bis zu unserem nächsten Besuch?«

»Selbstverständlich«, antwortete sie niedergeschlagen.

Er verbeugte sich. »Vielen Dank für Ihre Hilfe, Mrs. Rowan!«

»Er ist ein anständiger Kerl!« rief sie plötzlich. »Er ist ehrlich, verstehen Sie!«

Sie hatte nicht geleugnet, daß er ein Verräter war, überlegte Weir … Sie hatte nur darauf bestanden, daß er ein anständiger Kerl ist. War das eine Bestätigung seiner Vermutung, daß es bei dieser Sache nicht um Geld ging?

 

Gegen halb ein Uhr kam Rowan nach Hause. Heather erzählte ihm von Weirs Besuch und fragte, wo er gesteckt hätte.

»Ich bin nur herumgelaufen und habe nachgedacht«, antwortete er, während er sich im Wohnzimmer in einen Sessel warf. Er sah wieder die Szene vor sich, die er von seinem geparkten Wagen aus beobachtet hatte. Das große Haus in der feinen Straße, umgeben von einem gepflegten Garten, in dem ein Gärtner arbeitete. Vor der Tür hatte ein Rover gestanden, ein unauffälliger, teurer Mittelklassewagen. Ein dunkelhäutiger Mann war aus dem Haus getreten und hatte sich mit dem Gärtner unterhalten, sonst war weiter niemand zu sehen gewesen. Allem Anschein nach war die Villa einfach das Haus eines wohlhabenden und erfolgreichen Geschäftsmannes, nicht der geringste Hinweis, daß dort irgendwelche Verbrecher wohnten. In den letzten Jahren hatten viele der Topgangster eingesehen, wie nützlich es sein konnte, sich eine ehrbare Fassade zuzulegen. Mehr denn je hatten Äußerlichkeiten nicht viel zu bedeuten.

Es würde nicht schwierig sein, ins Haus zu kommen. Es hatte eine Menge Türen und Fenster. Außerdem glaubte ein Verbrecher, der ehrbar geworden war, seltsamerweise häufig, daß die Gesetze ihn genauso wirksam beschützten wie alle anderen braven Bürger: die Metamorphose des Verbrechens, hatte es irgendein kluger Kollege mal genannt. Murphy – falls er es war – würde deshalb ebenso wenig wie seine Nachbarn glauben, daß gerade in sein Haus eingebrochen werden würde.

Irgendeine Tür oder irgendein Fenster im Erdgeschoß würde sich bestimmt öffnen lassen, vielleicht war die Nacht auch warm, und man würde dieses oder jenes Fenster gar nicht schließen. Vermutlich gab es mehr Angestellte, als nur jenen einen dunkelhäutigen Mann, aber das war weiter kein Problem. Und Murphy? Die Behandlung, die er Faraday hatte angedeihen lassen, würde bestimmt auch bei Murphy wirken, denn offenbar war er sehr hinter den Frauen her …

»Fred!«

Er schreckte aus seinen Gedanken auf. »Was ist, Liebling? Was gibt’s?«

»Wo bist du gewesen?« fragte sie noch einmal. Es klang sehr besorgt.

»Wovon redest du denn bloß?«

»Du sitzt nur da und starrst Löcher in die Luft! Schon seit Minuten! Was hast du vor? Was willst du unternehmen? Du hast mir erzählt, daß du eine Frau erpreßt hast. Was kommt nun als nächstes? Ich habe entsetzliche Angst, was du noch alles anstellen wirst.«

»Das ist völlig überflüssig!« antwortete er, und bemühte sich, seine Stimme glaubwürdig klingen zu lassen.

»Ich weiß genau, daß du lügst! Hör auf, Fred, laß es sein – egal, was du vorhast! Du hast selbst gesagt, daß der Chefinspektor in unseren Bankauszügen nichts Belastendes finden wird. Wenn er feststellt, daß du keine Bestechungsgelder angenommen hast, wird er aufgeben müssen. Wenn dann immer noch jemand glaubt, daß du der Informant gewesen bist, ist es egal! Man wird dir nichts beweisen können!«

»Vielleicht!« Begriff sie nicht, daß die Polizei sich nicht nur auf dieses eine Motiv beschränken würde? Wenn sie zu dem Schluß kamen, daß es nicht um Geld gegangen war, würden sie nach anderen Gründen suchen. Sie würden jeden Namen auf der Liste, die Heather gemacht hatte, überprüfen. Raymond würde nicht einmal einen Anfänger fünf Minuten lang täuschen, geschweige denn einen erfahrenen Inspektor. Dann hatten sie das Motiv, und damit war alles aus. Heute nacht war die letzte Chance, die Fotos und das verhängnisvolle Päckchen zurückzuholen. Danach sah die Sache anders aus. Er konnte Raymonds Aussage abstreiten, und die Gangster waren nicht mehr in der Lage, irgend etwas zu beweisen.

 

Wie gewöhnlich gehorchte Jagannath Parasad Murphys Anordnungen aufs Wort. Er brachte Faraday ein Tablett mit einem Teller voll Brathuhn, Pommes frites und grünen Erbsen, dazu eine Karaffe Beaune.

Faraday war noch immer sehr beunruhigt, obwohl alles glattgegangen war. Nervös blickte er zum Fenster hinaus. Als der Pakistani eintrat, fuhr er herum und rief: »Das hat aber lange gedauert! Du hast mich wohl vergessen?«

Parasad senkte den Kopf, als hätte er ein schlechtes Gewissen. Doch in seinen dunkelbraunen Augen glitzerte es unheilvoll, während er auf den Wilton-Teppich starrte.

»Der Magen knurrt mir schon seit Stunden. Was ist los? Eßt ihr Kerle nicht zu zivilisierten Zeiten?«

Parasad stellte das Tablett auf einem niedrigen Glastisch ab und blickte auf. Seine Augen waren jetzt völlig ausdruckslos. »Haben Sie noch Wünsche?«

»Ja! Ich möchte gern wissen, wann’s nach London losgeht! Hier rumzusitzen ist schlimmer als im Gefängnis!«

»Der Wagen ist für vier Uhr bestellt.«

»Sorg dafür, daß er nicht zu spät kommt!«

»Er ist pünktlich auf die Minute.«

»Hoffentlich.«

»Was möchten Sie zum Nachtisch? Es gibt Pudding oder Erdbeerkuchen mit Schlagsahne.«

»Du kannst mir eine ordentliche Portion von beidem bringen! Mit viel Schlagsahne. Und warte damit nicht bis zur Teestunde!«

Parasad kehrte in die Küche zurück, die sehr groß und luxuriös eingerichtet war. Er aß ebenfalls, das gleiche wie Faraday, nur trank er Wasser statt Wein. Als er fertig war, nahm er Pudding und Kuchen aus dem Kühlschrank und füllte zwei Teller. Obenauf gab er ein paar Löffel Schlagsahne, wobei ihm das Makabre seines Tuns gar nicht bewußt wurde. Er stellte die beiden Teller aufs Tablett und legte zwei Löffel dazu. Mit einem Blick überprüfte er, daß nichts fehlte, zog eine Schublade unter der Arbeitsplatte auf und holte eine etwa zwei Meter lange dünne Schnur heraus.

Nath Verna kam durch die Hintertür in die Küche. Er blickte kurz auf die Schnur. »Bist du soweit?« fragte er. Auch wenn sie allein waren, machten sie selten viele Worte.

Mit der für ihn typischen Gründlichkeit verknotete Parasad die Enden, damit die Schnur nicht ausfranste, obwohl die Wahrscheinlichkeit, daß dies in den nächsten paar Minuten passieren würde, sehr gering war.

Gemeinsam gingen sie hinauf, Parasad trug das Tablett. Verna öffnete die Tür zu Faradays Zimmer.

Drohend starrte ihnen Faraday entgegen. »Das hat aber lange gedauert! Wieso kommt ihr alle beide? Seid ihr so faul, daß ihr das Tablett nur zu zweit tragen könnt?« Faraday saß in einem Stuhl mit hoher Lehne am Tisch.

»Ich komme wegen dem Wagen«, sagte Verna, während Parasad den leeren Teller, das benutzte Besteck, Glas und Karaffe einsammelte.

»Und was ist mit ihm?« fragte Faraday. »Du brauchst dich bloß darum zu kümmern, daß er pünktlich vor der Tür steht.«

»Ja.«

Parasad stand jetzt hinter Faraday. Er setzte das Tablett auf dem Bett ab, wobei er viel Lärm machte.

»Wo wollen Sie in London hin?« fragte Verna.

Parasad holte die Schnur aus seiner Hosentasche und wickelte die Enden um seine Hände, bis ein straff gespanntes Stück von etwa fünfzig Zentimeter Länge übrig blieb. Er überzeugte sich, daß Verna sprungbereit dastand, schlang Faraday mit einer kurzen Bewegung die Schnur um den Hals und zog sie zusammen.

Faraday zerrte mit den Händen an der Schnur, wobei er verzweifelt versuchte, Atem zu holen. Verna packte ihn an den Füßen und hob sie hoch, so daß Faradays Hals noch mehr Druck aushalten mußte.

Als er tot war, ließen sie ihn zu Boden gleiten. Parasad band die Schnur los und rieb sich die Hände, die er zur Vorsicht bandagiert hatte. Verna ging hinaus, um eine Plastikplane zu holen, mit der sie die Leiche zudeckten.

 

Die Motorjacht fuhr mit zwanzig Knoten aus der Flußmündung. Als die Küste am Horizont zu einem undeutlichen Strich geworden war und ein eventueller Beobachter an Land das Schiff nur noch als winzigen Punkt hätte ausmachen können, warfen zwei Männer ein in Sackleinwand verpacktes Bündel über Bord. Man hatte eine Menge Eisen an der Leiche befestigt, so daß sie ziemlich schnell sank.