7
In ihrem Schlafzimmer zog sich Heather Büstenhalter und Strumpfgürtel an, die sie aus dem zwei Meilen entfernten Zigarrenladen in der Whitelaw Road geholt hatte. Beide Wäschestücke paßten einigermaßen. Allerdings trug sie gewöhnlich nur Strumpfhosen. Als sie fertig angezogen war, prüfte sie erneut nach, ob der Hafenpaß tatsächlich in ihrer Handtasche steckte. Welchen Namen sollte sie nennen, wenn man sie im Hafen nach ihrem Boss fragte – Smith? Diesen Namen sollte sie auf das Päckchen schreiben, das sie später in dem Tabakgeschäft abliefern würde. Oder würde ein so gewöhnlicher Name Mißtrauen wecken? Vielleicht besser Orville-Smith? Ein Doppelname klang viel glaubwürdiger.
Sie sah auf die Uhr und zündete sich eine Zigarette an. Sie hatte ein komisches Gefühl im Magen, als müßte sie sich jeden Augenblick erbrechen. Angenommen, die andere Frau erschien nicht, hatte einen Unfall? Dafür konnte man sie nicht verantwortlich machen. Deshalb würde man doch nicht Fred die verfänglichen Fotos schicken? Im Geist sah sie die Szene wieder vor sich: Der nackte Mann, der lautlos hinter ihr aufgetaucht war, sein gieriges Gesicht.
Dann war es Zeit. Gewöhnlich war Heather eine gute, rücksichtsvolle Fahrerin, doch jetzt fuhr sie mit solchem Leichtsinn, daß zweimal entgegenkommende Fahrzeuge scharf bremsen mußten. Die Fahrer hupten wütend.
Als sie vor dem Tor zum Kai 32 hielt, war ihr Mund trocken, die Zunge fühlte sich rissig an, und das Herz klopfte ihr bis in den Hals. Der Hafenpolizist trat aus seiner Holzhütte und fragte: »Zu welchem Schiff, Lady?«
»Zur Southern Planet«, antwortete sie, während sie mit ihrer Handtasche kämpfte, die sich plötzlich nicht öffnen wollte.
»Kai 32 A. Fahren Sie den Schienen dort nach, dann sehen Sie es gleich: schwarzer Rumpf und grüner Schornstein.«
Schließlich war die Handtasche offen, und sie holte den Hafenpaß heraus. Doch der Polizist hatte sich schon abgewandt und ging wieder auf sein Häuschen zu.
Sie fuhr durch das Tor und folgte den Schienen, bis sie zu einem riesigen Betonschuppen kam, auf dem in zwei Meter großen grünen Ziffern die Zahl 32 stand, daneben ein A. Sie parkte hinter einer Reihe von etwa ein Dutzend Wagen.
Das Schiff war ein großer Frachter, aus dem gerade Gefrierfleisch ausgeladen wurde. Während sie auf die Gangway zuschritt, musterten die Stauer sie mit bewundernden Blicken und machten anzügliche Bemerkungen, die weder sehr fein noch sehr phantasievoll waren. Sie hörte kaum hin. Als sie das Ende der Gangway erreichte, stieß sie auf einen Matrosen in Pullover und Jeans, der bei ihrem Anblick die Zeitung sinken ließ und aufstand.
»Ich bin mit …« Ihr fiel der Name nicht mehr ein, den sie sich zu Hause für ihre Ausrede ausgedacht hatte. Sie geriet in Panik und sagte: »Ich bin mit Mr. Fusil verabredet.« Sie fischte den Hafenpaß aus ihrer Handtasche.
Der Matrose ließ seinen Blick über Heather wandern. »Wie schade, Lady! Ich hatte schon gehofft, sie wären wegen mir gekommen.«
Es gelang ihr, ihm freundlich zuzulächeln. »Er ist auf dem C-Deck. Wo ist das, bitte?«
»Am liebsten würde ich Ihnen das ganze Schiff zeigen, aber der Alte muß bald zurückkommen, und der reißt mich in Stücke, wenn ich nicht auf meinem Platz bin. Sehen Sie die Leiter dort? Gehen Sie durch die Tür daneben, dann weiter nach vorn, die Kajütentreppe hinunter, und Sie sind da. Wie wär’s, wenn wir uns später …?«
Heather hörte ihn nicht mehr. Sie hastete davon. Am Fuß der Kajütentreppe wußte sie einen schrecklichen Augenblick nicht mehr, auf welcher Seite die Toiletten lagen. Dann fielen ihr die Worte des Mannes am Telefon wieder ein, und sie wandte sich nach steuerbord. Sie entdeckte das Schild Ladies in blauer Schrift auf weißem Grund und ging hinein. Es gab vier Toilettenzellen und drei Waschbecken mit Spiegeln. Der Raum war bis zur halben Höhe gekachelt, der Rest mit Ölfarbe gestrichen. Alle Abteile waren leer. Heather ging in das zur rechten und schloß hinter sich ab. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es waren noch zehn Minuten Zeit. Sie zog sich aus, hängte Büstenhalter und Strumpfgürtel über die Türklinke, zögerte kurz und streifte sich das grüne Kleid wieder über. Dann setzte sie sich auf den Toilettenrand, spielte nervös mit dem Handtaschenriemen und zündete sich schließlich eine Zigarette an. Die Eingangstür draußen ging mit leisem Zischen auf, und Absätze klapperten über den Fliesenboden. Die Frau blieb kurz in der entfernteren Eckzelle und verschwand wieder.
Wieder kam eine Frau herein. Sie wählte die Nachbarzelle. Heather hörte Stoffgeraschel, etwas wurde an die Trennwand gehängt, und dann pfiff jemand entsetzlich falsch die ersten Takte von ›Tipperary‹. Heathers Mund war immer noch trocken. Es gelang ihr mit Mühe und Not, die erste Zeile von »God Save the Queen« zu singen.
»Na, dann her damit«, sagte eine tiefe Stimme.
Heather hängte Büstenhalter und Strumpfgürtel über die etwa zwei Meter hohe Trennwand. Die Wäschestücke verschwanden, und nach einem kurzen Augenblick erschienen die Gegenstücke. Heather nahm sie voll Abscheu in Empfang und zog sich um.
Als sie sich das Kleid über den Kopf streifte, hörte sie, wie die Tür nebenan geöffnet wurde, Absätze klapperten über die Fliesen, dann zischte der automatische Türschließer, und es herrschte wieder Stille.
Heather verließ die Zelle und betrachtete sich kurz im Spiegel. Dann lief sie auf den Gang und stieß beim Verlassen des Schiffs wieder auf den Matrosen, der »Wollen wir uns später gemeinsam hier ein bißchen umsehen?« sagte, doch sie hastete weiter, ohne ihn zu beachten.
Als sie wieder im Wagen saß, ließ ihre Betäubung allmählich nach. Alles war glatt gegangen, trotz aller Ängste und Schrecknisse, die sie sich im Geist ausgemalt hatte. Ihr fiel ein, daß sie ja noch die Hafenzone verlassen mußte, und ihre Nervosität kehrte zurück.
Derselbe Polizist stand am Tor. Er beugte sich zum Wagenfenster und blickte ins Innere. »Nichts geschmuggelt, hm? Keinen Schnaps?« Er richtete sich wieder auf.
Sie schüttelte den Kopf, und er winkte sie durch. Sie fuhr auf die Straße und dachte dabei, wie einfach alles gewesen war. Was sie auch getan hatte – und daß es etwas mit Schmuggel zu tun hatte, konnte auch der Dümmste erkennen –, es war hieb- und stichfest organisiert worden. Sie begann zu summen, als sie die gerade New Dock Road entlangfuhr, vorbei an Hafenbecken, die für teures Geld auf Container-Fracht umgestellt worden waren und jetzt wegen der ständigen Dockarbeiterstreiks stillagen.
Fred würde heute nicht zum Mittagessen nach Hause kommen. Heather lief ins Schlafzimmer hinauf und zog sich um. Sorgfältig packte sie Büstenhalter und Strumpfgürtel in braunes Packpapier, verschnürte das Päckchen, versiegelte den Knoten mit rotem Siegelwachs und schrieb auf die Ober- und Unterseite: Für Mr. Smith. Wird abgeholt.
Sie kehrte zu ihrem Wagen zurück und fuhr an dem kleinen Park mit den Kastanienbäumen vorbei, in dem die Kinder im Herbst immer die Kastanien auflasen, und durch ein Geschäftsviertel zur Whitelaw Road. In der Nähe des Zigarrenladens war ein Parkplatz frei.
Sie brachte das Päckchen in den Laden und fragte: »Kann ich es hierlassen? Es wird abgeholt.«
Der Alte hinter der Theke nahm das Päckchen in Empfang und beäugte es über den Rand seiner Brille. Dann sah er Heather an und erklärte: »Es macht fünf Pence.« Seine Stimme krächzte, als hätte er starke Halsschmerzen.
Sie reichte ihm das Geldstück, grüßte freundlich und verließ das Geschäft mit einem solchen Hochgefühl, als hätte sie das große Los gezogen.
Als Fred Rowan, hungrig und durstig und müde, etwa eine halbe Stunde zu Hause war, klingelte das Telefon. Er wollte aufstehen, doch Heather kam ihm zuvor und meinte, sie würde einfach sagen, daß er nicht da sei, falls man ihn sprechen wolle. Fred blieb dankbar sitzen, ein Glas Gin-Tonic in der Hand.
»Hallo, Mrs. Rowan!« sagte der Anrufer. »Wir haben das Päckchen abgeholt und freuen uns, daß Sie genau das getan haben, was wir Ihnen befohlen hatten.« Heather wandte ihrem Mann den Rücken zu und suchte nach unverfänglichen Worten, um die eine, wichtige Frage zu stellen. »Haben Sie …« Sie brach ab.
»Ob wir die Fotos und die Negative abgeschickt haben? Nein, das haben wir nicht. Und offen gestanden haben wir es auch nicht vor. Jedenfalls jetzt noch nicht.«
»Aber Sie wollten …«
»Erst, wenn Sie uns noch einen Gefallen getan haben! Bitten Sie Ihren Mann festzustellen, warum Harry Longman in Palma auf Mallorca verhaftet wurde. Das war am fünfzehnten letzten Monats.«
»Ich begreife nicht …«
»Er weiß Bescheid. Vor allem, wenn Sie ihm erzählen, daß wir das Päckchen bei der Polizei abliefern, falls er uns die Information nicht zukommen läßt. Wissen Sie, was in dem Büstenhalter und in dem Strumpfgürtel war? Zwei Unzen reines Heroin, eingenäht in die Säume. Und Ihre Fingerabdrücke sind überall, Ihre Schrift ist auf dem Einwickelpapier! Ihr Mann wird sich schon seinen Vers drauf machen! Vergessen Sie nicht: Harry Longman, Palma, der fünfzehnte letzten Monats. Wir geben ihm achtundvierzig Stunden Zeit, das wär’s!«
»Ich kann doch nicht …«, begann sie verzweifelt, doch da hörte sie bereits das Freizeichen.
Langsam legte sie den Hörer auf die Gabel zurück. Verzweifelt überlegte sie eine Lüge.
»Wer war das? Eine sehr einseitig geführte Unterhaltung!« meinte Rowan.
»Das war Raymond«, antwortete sie. Automatisch hatte sie seinen Namen genannt, weil ihn das zum Schweigen bringen würde.
»Diese Krämerseele«, murmelte Rowan.
Sie starrte auf die gemusterten Vorhänge. Es war alles so schnell gegangen, daß sie die volle Bedeutung des eben Gehörten noch nicht ganz erfaßte, aber sie begriff sehr genau, daß sie in einer Falle saß. »Ich … ich mache dir was zu essen«, meinte sie mit unsicherer Stimme.
Neugierig sah er sie an. »Was wollte er denn?«
»Mir nur sagen, daß ich morgen nicht kommen muß.«
»Morgen ist Sonntag!«
Verzweifelt suchte sie nach einer Ausrede. »Es ging um einen eiligen, sehr wichtigen Auftrag. Ursprünglich sollten morgen Aufnahmen gemacht werden.« Sie lief aus dem Zimmer.
Die Küche war klein, doch mit vielen arbeitsparenden Maschinen eingerichtet. Im Backrohr stand ein »steak-and-kidney-pie«, das in zehn Minuten fertig war, die Kartoffeln kochten, und das Wasser für die Bohnen war heiß. Sie schüttete ein Paket Tiefkühlbohnen hinein.
Was sollte sie tun, überlegte sie voll Entsetzen. Wie kam sie aus der Patsche? Es gab kein Entrinnen! Konnte sie selbst die Informationen über Longman beschaffen? Nein, das war verrückt! Konnte sie Fred darum bitten, ohne ihm einen Grund zu nennen? Fred würde nie ein Dienstgeheimnis verraten. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Trotzdem würde er seinen Prinzipien untreu werden müssen, es sei denn, sie stand zu ihrer schrecklichen, dummen Tat. Dann mußte er logischerweise die Wahrheit erfahren …
Fred kam in die Küche. »Ist das Essen fertig?« fragte er. »Ich bin am Verhungern …« Er brach plötzlich ab, als er ihr Gesicht sah. »Heather«, begann er zögernd, und in seinen Zügen spiegelten sich Sorgen und Schreck, »irgend etwas ist passiert, etwas Schreckliches!«
»Nein.«
»Ist was mit Tracy?«
»Es ist nichts, so glaub mir doch! Ich fühl mich einfach nicht gut. Wollen wir eine Flasche Wein zum Essen trinken, Fred?« Mit in die Hüften gestemmten Armen stand er vor ihr und sagte: »Du lügst!«
»Ich schwöre dir …«
»Schwöre, soviel du willst, aber sag mir, was los ist!«
»Nichts!«
Die Eifersucht ließ ihn das Schlimmste befürchten. Er packte Heather an den Schultern und schüttelte sie.
Sie schrie auf, denn er hatte fester zugegriffen, als er wollte. Seine Finger gruben sich in ihr Fleisch. Dann ließ er sie mit einem wütenden Ausdruck auf dem Gesicht wieder los, und Heather begann zu weinen. Sie hatte erkannt, daß es keinen Ausweg gab. Große Tränen rollten ihr über die Wangen.
»Mein Gott«, sagte er, erschüttert über soviel hilflose Verzweiflung. »Was ist denn bloß passiert?«
Sie schüttelte nur den Kopf.
Er trat auf sie zu und legte den Arm um sie. »Beruhige dich doch!« sprach er auf sie ein. »Wein nicht so! So schlimm kann es doch nicht sein. Wir werden es schon wieder hinkriegen!« Sie vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter. Er roch nach abgestandenem Zigarettenrauch und Schweiß, was sie unendlich tröstlich fand.
»Ist es – hast du Probleme wegen einem andern?«
Sie spürte, wie er sie fester hielt. Früher hatte er sie dies schon öfter gefragt, immer mit steinernem Gesicht. Jetzt konnte sie zwar sein Gesicht nicht sehen, doch seine Stimme klang sanft und zärtlich.
Er zog sie zu einem Stuhl, setzte sich und nahm sie auf die Knie. »Hör mal«, sagte er. »Wir haben uns oft gestritten. Gott weiß, wie oft, und ich habe Dinge gesagt, für die ich ein Vermögen ausgeben würde, um sie zurücknehmen zu können. Doch wenn der Augenblick der Wahrheit kommt, bist du der einzige Mensch auf der Welt – außer Trancy natürlich –, der für mich zählt. Ganz gleich, was passiert ist, ich halte zu dir!«
»Du wirst … du wirst …«
»Ich schwöre dir: Was es auch ist, ich werde dir helfen! Einfach helfen! Wenn da ein anderer ist und du dich …«
»Nein«, rief sie heftig. »Darum geht es nicht. Da war nie jemand anders. Verstehst du denn nicht? Aber …«
»Aber was?«
Da erzählte sie ihm die Geschichte mit den Fotos.
Fassungslos hörte er zu. In seiner lebhaften Phantasie sah er alles genau vor sich. Seine Eifersucht wurde immer stärker, doch dann erinnerte er sich an ihre Worte von eben, daß es nie einen andern gegeben hatte, sie hatte es so überzeugt gesagt, daß er beschloß, ihr zu glauben. Plötzlich war er ungeheuer erleichtert. »Was wollen sie für die Bilder haben?« fragte er. »Geld?«
Sie berichtete ihm von ihrer Fahrt zu dem Schiff am Nachmittag, von dem Wäschetausch und dem versiegelten Päckchen, das sie in dem Tabakgeschäft abgegeben hatte. Da begriff er, daß die Gangster es von Anfang an nur auf ihn abgesehen und ihren Plan sorgfältig ausgedacht hatten.