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Erst war es geheim, und nur ein paar Leute wußten Bescheid, dann unterhielten sich alle darüber, meistens verlegen und hastig: Einer der Polizeibeamten, die bei der Lagebesprechung dabei gewesen waren, sollte bestochen worden sein und den Mob von dem geplanten Großeinsatz unterrichtet haben, so daß er fehlgeschlagen war. Es war unvermeidlich, daß alle Polizisten Partei ergriffen, was sich bereits bei der Konferenz mit dem Polizeichef deutlich abgezeichnet hatte. Die Beamten der Abteilung Ost glaubten, daß der Verräter nur bei der Abteilung West oder der Grafschaftspolizei sein konnte und umgekehrt. Jede Abteilung verdächtigte die andere, der CID die uniformierte Truppe und die Uniformierten den CID. Immer neue Gerüchte schossen aus dem Boden. Die Männer waren gereizt, ein Constable von der Abteilung West und ein Kriminalbeamter prügelten sich und erhielten einen scharfen Verweis, obgleich ihre Vorgesetzten jeweils fanden, daß man sie eher loben als tadeln sollte. Der Polizeichef verlangte von Kywood und den Superintendenten der uniformierten Polizeieinheiten, daß sie diese Welle der Erbitterung und des Hasses eindämmten, doch die beiden Beamten waren nicht nur buchstäblich machtlos dagegen, sie standen sich nun selbst feindlich und mißtrauisch gegenüber.
Am Dienstag morgen sah Fusil die eingegangenen Berichte durch – der Strom der Verbrechen versiegte nie, ganz gleich, was passierte –, als jemand an seine Tür klopfte. Ein uniformierter Constable schob sich ins Zimmer.
»Ja?« sagte Fusil kurz.
Der Constable schloß die Tür und stand stramm, den Helm in der Rechten, als sei er auf dem Exerzierplatz. »Constable einundvierzig, Sir.«
Fusil nahm seine Pfeife und versuchte, sie anzuzünden, doch sie zog nicht richtig. Er schraubte den Stiel ab und blies hindurch. Insgeheim spottete er über sich, weil er so kindisch war, Zeit schinden zu wollen, trotzdem schraubte er den Stiel umständlich wieder auf, denn das Benehmen des Polizisten verhieß nichts Gutes.
Der Constable hüstelte.
»So reden Sie schon, Mann!« befahl Fusil.
»Ich habe etwas zu berichten, Sir.« Elegant trat der Constable zwei Schritte vor. »Ich habe die Sache Sergeant Green erzählt, und er meinte, ich sollte es Ihnen direkt melden.«
Vor ein paar Wochen hatte er mit dem Sergeanten eine Auseinandersetzung gehabt, überlegte Fusil. Offenbar hatte Green das weder vergeben, noch vergessen. »Wie wäre es, wenn Sie anfingen?«
»Das Schwierige dabei ist, daß ich nicht genau weiß, wie wichtig es ist oder ob ich es überhaupt melden soll, da ich nicht …«
»Verschwenden Sie keine Zeit damit, Ihr Gewissen zu beruhigen!«
Der Polizist errötete. »Ich war bei Ihrer Lagebesprechung«, sagte er mit starrem Gesicht.
Fusil riß ein Streichholz an und hielt die Flamme an den Pfeifenkopf. Der Tabak brannte. Der Rauch war beizender als je, weil er die Pfeife seit langem nicht gesäubert hatte.
»Nach der Besprechung, Sir, wollte ich nach Hause gehen, denn mein Dienst war zu Ende und Sergeant Braddon hatte für den Großeinsatz einen andern Dienstplan aufgestellt. Also, ich lief die Tidemouth Road entlang, zum Geschäftsviertel, und da fiel mir ein Typ auf.«
Fusil biß ärgerlich auf das Ende des Pfeifenstiels.
»Er trat in eine Telefonzelle bei den Geschäften und rief jemand an. Und das fand ich komisch, weil er doch zu uns gehörte. Warum rief er nicht vom Büro aus an?«
»Vermutlich war es ein Privatgespräch!« meinte Fusil kalt.
Der Constable zuckte bedeutungsvoll mit den Schultern.
»Der Name?« fragte Fusil.
»Es war Constable Rowan, Sir.«
»Und ist das alles?«
»Ja, Sir. Man hat uns gesagt, wir sollten alles berichten, was wir auch nur im geringsten für wichtig hielten, und ich fand es so seltsam, warum er nicht von hier aus telefoniert hat … normalerweise telefoniert doch jeder vom Dienstraum aus, Sir, obwohl es laut Vorschrift nicht gestattet ist.«
»Danke, daß Sie es mir gesagt haben. Sie werden mit niemand darüber reden, ist das klar?«
»Ja, Sir!« Der Polizist starrte Fusil beleidigt an, weil er ihn wie irgendeinen Schuljungen abgekanzelt hatte, dann machte er kehrt, marschierte mit stampfenden Schritten hinaus und warf die Tür hinter sich ins Schloß.
Guter Gott, dachte Fusil erbittert, konnte man nicht einmal einen privaten Anruf erledigen, ohne verdächtigt zu werden? Rowan war launisch und unberechenbar – Eigenschaften, die ihn daran hinderten, ein wirklich guter Kriminalbeamter zu werden, denn seine Arbeit litt darunter –, aber er würde sich nicht bestechen lassen. Genauso wenig wie Braddon, Kerr, Welland oder Yarrow.
Fusil machte sich wieder an seine Arbeit, prüfte nach, welche Fälle Braddon bearbeitete und welche er an die uniformierte Abteilung weitergeleitet hatte, und zog in einem Fall die Weiterleitung zurück, weil es sich bei dem Opfer um einen ortsansässigen Rechtsanwalt mit einem großen Mundwerk handelte, den er durch bevorzugte Behandlung beschwichtigen wollte.
Fusil legte den Kugelschreiber hin. Ihn plagte irgendein Gedanke, den er nicht zu fassen bekam. Er versuchte, sich genau zu erinnern, es gelang ihm nicht, und er wandte sich wieder den Akten zu. Sofort fiel es ihm ein. Da war doch ein Brief der spanischen Polizei gekommen, wegen einer Anfrage von Interpol. Es handelte sich um einen Mann, der in Palma festgenommen worden war. Der Brief hatte ihm nichts gesagt – er hatte genau gewußt, daß er nicht mit einem der laufenden Fälle zusammenhing –, und er hatte ihn einfach weggeworfen, weil er glaubte, es sei ein Irrläufer. Aber angenommen, er hatte sich getäuscht? Angenommen, Rowan steckte dahinter und hatte angefragt, weil …
Er fluchte. Er war nicht besser als die andern, die überall Gespenster sahen. Trotzdem plagte ihn sein Gewissen. Er würde doch lieber überprüfen, um was es sich bei der Anfrage gehandelt hatte.
Er drückte auf den Summerknopf, und Miss Wagner kam herein, munter und adrett wie immer. Es war schwer zu glauben, daß sie sich bei ihrer Arbeit mit Dingen befassen mußte, über die viele moderne Mädchen, die über das Leben Bescheid zu wissen glaubten, entsetzt gewesen wären.
»Miss Wagner«, sagte Fusil, »kürzlich ist doch ein Bericht aus Palma gekommen, über einen Engländer, der dort in Schwierigkeiten geraten ist. Sie wissen nicht zufällig, wo er …«
»Sie haben ihn in den Papierkorb geworfen«, antwortete sie und sah ihn vorwurfsvoll an. Sie betete Fusil an, auf eine ganz unerotische Weise.
»Tatsächlich? Verdammt! Ich wollte nämlich …«
»Natürlich habe ich ihn gerettet und abgelegt. Wenn Sie ein wenig gelassener …«
»Was täte ich ohne Sie!« rief Fusil hastig.
Miss Wagner errötete.
Jeden Morgen mußte Fusil Superintendent Passmore ausführlich über die Verbrechen Bericht erstatten, die sich in den letzten vierundzwanzig Stunden ereignet hatten, was ihn ziemlich verdroß, weil er seiner Meinung nach mehr als fähig war, die Abteilung selbständig zu leiten. Doch gelegentlich erschien er auch freiwillig bei Passmore, um schwierige Fälle mit ihm zu besprechen. Passmore stand kurz vor der Pensionierung und hatte deshalb keine beruflichen Ambitionen mehr. Er besaß einen scharfen, analytischen Verstand, dazu Humor und Menschenkenntnis. Sein Rat war gewöhnlich sehr wertvoll.
Aufmerksam lauschte er Fusils Worten. Dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück. Auf einmal sah sein rundes Gesicht sehr ernst aus. Er legte die Fingerspitzen aneinander und meinte: »Sehr schwach, sehr schwach!«
»Ich weiß«, antwortete Fusil, der nur zu gern an die Unwahrscheinlichkeit der Geschichte glauben wollte.
»Ein Telefonat von einer Telefonzelle aus, kurz nach der Besprechung – da kann er auch seine Frau angerufen haben, daß es später werden würde.«
»Normalerweise hätte er von hier aus angerufen, Vorschriften hin oder her.«
Passmore schüttelte den Kopf, nicht so sehr aus Protest über Fusils Worte, sondern um daran zu erinnern, daß ein privates Telefongespräch so persönlich sein konnte, daß man es lieber nicht in Anwesenheit von Kollegen führte.
Fusil, der in der unglücklichen Situation war, gegen den Strom schwimmen zu müssen, obwohl ihm sein Instinkt davon abriet, zog den Brief aus Palma aus der Tasche, der ziemlich zerknittert aussah. »Diesen Bericht erhielten wir von der spanischen Polizei. Ich habe in London angefragt. Rowan hat die Sache veranlaßt.« Er reichte ihn Passmore.
Passmore überflog ihn. »Sind Sie ganz sicher, daß wir nie an diesem Longman interessiert waren?« fragte er dann.
»Ganz sicher. Ich habe es selbst überprüft.«
Mit abgezirkelten Bewegungen zündete sich Passmore eine Zigarette an. »Vielleicht ist der Name nur nicht offiziell aufgetaucht. Rowan hatte einfach Grund, sich nach ihm zu erkundigen, stellte fest, daß es nicht weiter wichtig war, und ließ die Sache fallen.«
»Möglich«, antwortete Fusil kühl. Er begann, das Gespräch zu hassen. »Doch die Vorschriften sind da ganz eindeutig. Keine Anfrage bei Interpol ohne Genehmigung des Inspektors oder eines höheren Dienstgrades. Sergeant Teesdale in London hätte die Anfrage nie weiterleiten dürfen, aber offensichtlich dachte er, Rowan hätte den Fall mit mir besprochen. Wenn dies nur eine einfache Routineangelegenheit war, warum hat Rowan mich nicht informiert? Und wieso kann Longman mit irgendeinem Fall zu tun haben, der über meinen Schreibtisch gegangen ist, ohne daß ich auch nur das geringste von ihm wußte?«
»Ich wiederhole, was ich vorhin schon sagte, Bob: Sehr schwach, sehr schwach.« Passmore streifte die Asche von seiner Zigarette. »Aber selbstverständlich müssen Sie der Sache weiter nachgehen, und zwar sofort, denn es werden bald die wildesten Gerüchte herumschwirren.«
»Ich habe dem Constable befohlen, den Mund zu halten.«
»Sie glauben wohl noch an Wunder?«
Fusil fluchte.
Ursprünglich war das Gefängnis klein gewesen. Auf einer kleinen Insel passieren gewöhnlich nicht viele Verbrechen, und die Bewohner von Mallorca sind von Natur aus ehrliche Leute. Sie haben nur den einen Fehler, daß sie schnell die Beherrschung verlieren. Doch als die Touristeninvasion begann, mußte das Gefängnis vergrößert werden. Unglücklicherweise nahm mit der Zahl der Fremden auch die Zahl der Verbrechen zu, und manche waren zu schwer, als daß man sie hätte übergehen oder den Täter hätte abschieben können.
Der Gefängnisdirektor war ein kleiner, fast kahler Mann, mit einem feinen Gesicht und scharfen blauen Augen. Er hielt viel von internationaler Zusammenarbeit, und als er die Anfrage wegen Longman erhielt, war er sehr empört, daß man so wenig über ihn wußte. Er beschloß, den Mann genau auszukundschaften.
Anfangs hatte man Longman in Einzelhaft gesteckt. Er durfte die Zelle nur zum Essen und zum täglichen zweimaligen Spaziergang von je einer halben Stunde verlassen, und auch da wurde er sorgfältig von jedem Mitgefangenen ferngehalten, der Englisch sprach. Longman fühlte sich erbärmlich, er war deprimiert und wütend, als er entdeckte, daß auf Mallorca ein Gefängnis tatsächlich noch eine Strafe war.
Als er seinen seelischen Tiefpunkt hatte, steckte man einen anderen Gefangenen zu ihm in die Zelle, und zu seiner Freude stellte er fest, daß dieser Mann – mit Namen Suarez – Englisch verstand. So hatte er jetzt wenigstens jemand, bei dem er sich beklagen konnte. Die Polizei hatte kein Recht, ihn einzusperren, erzählte er Suarez, man hätte ihn längst freilassen, der englische Konsul hätte sich um ihn kümmern müssen; das Leben im Gefängnis war fürchterlich, das Essen zu fett, und wenn er geahnt hätte, was ihm bevorstehe, bloß weil er bereit gewesen war, einen Aktenkoffer nach England zu transportieren, hätte er sich geweigert, und wenn man ihm zehnmal mehr als tausend Pfund geboten hätte.
Suarez, der wegen Diebstahl saß und aus Spanien stammte, sagte dem Wärter Bescheid, und am nächsten Morgen, nach dem Frühstück, wurde sein Name aufgerufen. Er sollte sich im Büro des Gefängnisdirektors melden.
»Señor«, sagte Suarez und stand vor dem Schreibtisch stramm, »ich habe getan, was Sie befohlen haben!«
»Ich bin dir sehr dankbar«, antwortete der Direktor, ein Mensch von Höflichkeit. Der Oberwärter stand zu seiner Rechten.
»Ich habe ihm viel und lange zugehört. Er hat sich immer nur beklagt. Er hält uns Spanier für Barbaren!«
Der Direktor zuckte die Achseln. Seine Miene veränderte sich nicht, obwohl ihm die stillschweigende Annahme, er sei Spanier, mißfiel. Er war Mallorquine.
»Ein- oder zweimal war ich beinahe versucht, Señor, ihm sein großes Maul zu stopfen.«
»Es ist ein Glück für uns alle, daß du dich beherrschen konntest.«
Am Gesicht des Oberwärters erkannte Suarez, daß es besser war, bei den Tatsachen zu bleiben. »Er hat erzählt, daß er nur einen Aktenkoffer von einem Mann übernehmen sollte, den er in der Bar treffen würde. Den Koffer sollte er nach England bringen. Dafür kriegte er …« Suarez machte eine effektvolle Pause. »Eintausend Pfund!«
Der Direktor machte sich eine Notiz. »Hat er erwähnt, was in dem Aktenkoffer war?«
»Nein, Señor! Natürlich habe ich ihn gefragt, aber er wußte es nicht«, meinte Suarez einschmeichelnd. »Erlauben Sie mir, Señor, eine Vermutung darüber auszusprechen?«
»Das ist nicht nötig. Wir danken dir für deine Hilfe.«
»Vielleicht erlaubt man mir nun, in meine eigene Zelle zurückzukehren?«
»Ich finde, wir sollten dem Engländer noch eine Gelegenheit geben zu erkennen, daß ein Spanier wirklich kein Barbar ist. Deshalb bleibst du lieber noch eine Zeitlang mit ihm zusammen!« antwortete der Direktor. Er konnte Spitzel nicht leiden und besaß außerdem einen ausgeprägten Sinn für Humor.
Als wieder ein Brief aus Palma eintraf, las ihn Fusil sehr aufmerksam. Die spanischen Behörden, hieß es da, gaben sich die Ehre, die werten englischen Kollegen davon zu unterrichten, daß sie gewisse Informationen erhalten hatten, die sie angesichts der vor einiger Zeit eingegangenen Anfrage sofort weiterleiten wollten. Longman, der aus den im vorangegangenen Brief erwähnten Gründen bedauerlicherweise im Gefängnis säße, habe erzählt, daß er in jener Bodega gewartet habe, um einen Aktenkoffer in Empfang zu nehmen, den er nach England transportieren sollte. Als Bezahlung habe man ihm eintausend Pfund versprochen. Die werten Kollegen in England würden sicher beurteilen können, ob diese Information von Wichtigkeit für sie sei. Jedenfalls habe man sich sehr gefreut, den Angehörigen einer so berühmten Polizeitruppe gefällig gewesen zu sein.
Fusil starrte auf den sauber getippten Brief. Eintausend Pfund, um einen Aktenkoffer nach England zu bringen! Soviel konnten nur ganz bestimmte Gangster zahlen – Rauschgiftschmuggler. Longman war ein Zwischenträger. Er hatte sich betrunken, zwei Polizisten angegriffen, war ins Gefängnis gekommen und dadurch war die Verbindung abgerissen. Die Gangster hatten unbedingt herausfinden müssen, ob seine Verhaftung ein Zufall war oder die Polizei geglaubt hatte, die Übergabe sei erfolgt, und ihn mitnahm, um genaue Einzelheiten aus ihm herauszuholen. Deshalb hatte die Organisation einen Polizisten bestochen, der über Interpol den wahren Grund für Longmans Verhaftung feststellen mußte.
Fusils Gesicht wurde zu Stein.