4

Rowan saß im Wachraum des CID und zeichnete einen genauen Plan der Szene des Verbrechens. Da trat Kriminalsergeant Braddon ein. Braddon war ein erstklassiger Mann, doch er würde es nie bis zum Inspektor schaffen, weil er nicht genug Initiative und Phantasie besaß.

Braddon sah sich im Zimmer um. »Wo steckt Kerr?« fragte er. »Als ich ihn zuletzt sah, Sergeant, mußte er gerade einen Botengang für den Inspektor machen«, antwortete Rowan geschickt. Natürlich war es eine Lüge.

»Immer ist er gerade irgendwo beschäftigt, wenn man ihn sucht«, beschwerte sich Braddon resigniert. Ihm fiel ein, daß er als junger Constable sehr viel mehr Zeit bei seiner frisch angetrauten Ehefrau verbracht hatte, als sein Inspektor geahnt hatte. »Der Erkennungsdienst hat rausgekriegt, wer der Tote ist: Vincent Wraight, einmal wegen bewaffnetem Raubüberfall verurteilt, ohne Adresse.« Braddon legte Rowan ein mit handschriftlichen Notizen bedecktes Blatt Papier auf den Schreibtisch. »Da können Sie jetzt weitermachen.«

»Schicken sie uns seine Akte her?«

»Spätestens heute abend müßte sie da sein – sie bringen sie mit einem Streifenwagen.«

Rowan nahm den Bogen und las ihn. »Was sagen die in der Registratur dazu?«

»Nicht viel. Wraight hat sich nach seiner Entlassung aus der Strafanstalt sechs Monate lang treu und brav wöchentlich beim Revier gemeldet, wie er das sollte, dann ist er verschwunden. Wir haben ein paar hundert Pfund in seiner Brieftasche gefunden. Am Verhungern war er also nicht.«

»Okay. Ich mach’ mich dran, wenn ich den Plan hier fertig habe. Der Alte wartet schon ungeduldig darauf.«

»Ja, ja! Nur keine Übereilung«, antwortete Braddon mit leicht sarkastischem Unterton, obwohl er genau wußte, daß sie alle doppelt soviel zu tun hatten, als sie in der zur Verfügung stehenden Zeit schaffen konnten. Er verließ den Raum.

Rowan zeichnete den Plan fertig, überprüfte ihn noch einmal und trug ihn ins Zimmer des Inspektors, das leer war. Er deponierte den Plan auf dem Schreibtisch.

Dann fuhr er mit seinem Wagen – er bekam Spesengelder für die Dienstfahrten – zum Ascrey Cross und hielt vor dem Five Feathers, einem ehemals ziemlich schäbigen, altmodischen Wirtshaus, das kürzlich modernisiert worden war und einen frischen Anstrich erhalten hatte.

Der Wirt schenkte ihm ein Glas Bier ein und wollte es sich nicht bezahlen lassen. Vor ein paar Monaten hatte es in der Kneipe eine schwere Prügelei gegeben. Als der Wirt einzuschreiten versuchte, hatte ihn jemand niedergestochen. Wenn die Polizei nicht rechtzeitig eingetroffen wäre, hätte man ihn vermutlich umgebracht.

Rowan trank sein Bier und sah sich unauffällig im Raum um. »Kann ich Ihnen nützlich sein?« fragte der Wirt mit leiser Stimme.

»Ist Mick Grasby heute abend schon hier gewesen?«

»Noch nicht. Aber es kann nicht mehr lange dauern. Immer durstig, dieser Mick.« Der Wirt ging ans Ende der Theke, um einen andern Gast zu bedienen.

Rowan starrte in den Spiegel hinter der Theke und beobachtete einen Mann und eine Frau, die gerade eintraten. Die Frau trug einen grellroten Minirock. Er überlegte, was Heather jetzt, genau in diesem Augenblick, trug, und zwang sich hastig, nicht mehr daran zu denken, denn die mögliche Antwort würde ihn nur mit einer verrückten, hilflosen Wut erfüllen.

Zwanzig Minuten später betrat Mick Grasby die Kneipe, ein großer, kräftiger Mann, dessen Kopf für seinen Körper eine Nummer zu klein war. Auf der Flucht nach einem Raubüberfall vor zwei Jahren hatte er einen schweren Autounfall gehabt, und als er schließlich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, war er ein anderer Mensch. Jetzt arbeitete er als Bauhilfsarbeiter, und auf irgendeine verdrehte Weise glaubte er, daß seine Kumpel, die an dem damaligen Überfall beteiligt gewesen waren, an seinen geistigen und körperlichen Unzulänglichkeiten schuld hatten. Um sich zu rächen, war er zum Spitzel geworden.

Er mochte im Kopf nicht ganz in Ordnung sein, doch seine Bauernschläue hatte er nicht verloren. Als er Rowan entdeckte, tat er, als kenne er ihn nicht, denn er wußte sehr wohl, daß in dem Pub auch eine Menge Gangster verkehrte, und wenn einer von ihnen Verdacht schöpfte, war er dran, ganz gleich, ob er einen kleinen Dachschaden hatte oder nicht.

Rowan trank noch ein Bier und ging dann hinaus zu seinem Wagen, der im Schatten einer alten Kastanie am entfernteren Ende des Parkplatzes stand. Er lehnte sich gegen die Motorhaube des Mini und wartete mit wachsender Ungeduld.

Schließlich trat Mick Grasby aus der Tür und schlenderte leicht schwankend über den Parkplatz, als hätte er einen zuviel getrunken. Beim Mini blieb er stehen und hielt sich an ihm fest.

»Ich brauch’ ein paar Fakten«, sagte Rowan. »Vermutlich kannst du mir helfen.« Mit Grasby mußte man so klar und deutlich reden wie zu einem Kind. »Ich möchte Näheres über Vincent Wraight erfahren.«

Der Autounfall hatte auch Grasbys Stimme geschadet. Sie war hoch und quiekend. »Den sie umgelegt haben?« fragte er.

»Genau den.«

»Sie haben ihm den Schädel eingeschlagen, nicht wahr?«

»Stimmt.«

Grasby saugte an der Unterlippe. Als er sie losließ, gab es ein zischendes Geräusch. »Er war ein Zuhälter«, sagte er.

»Von welchem Mädchen?«

Grasby saugte wieder an seiner Unterlippe, spielte mit seinem Ohrläppchen und trottete plötzlich davon.

Rowan fluchte in sich hinein, während er beobachtete, wie Grasby um die Ecke des Pubs verschwand. Was, zum Teufel, hatte ihn verscheucht? Auf einem leeren Grundstück gegenüber hatten ein paar Kinder zu spielen begonnen. Sie wirkten in keiner Weise verdächtig. Rowan sah auf seine Armbanduhr.

Zehn Minuten später gab er auf. Grasby würde nicht mehr zurückkommen. Er stieg in den Mini ein, ließ den Motor an und fuhr rückwärts aus der Parklücke. In diesem Augenblick tauchte Grasby auf, den Kopf zur Seite gelegt. Er marschierte am Mini vorbei und quiekte, als er mit Rowan auf gleicher Höhe war: »Violet!« Dann schlurfte er davon, ohne für die spärliche Information kassiert zu haben.

Rowan fuhr vom Parkplatz. Wieviel Violets gab es in Fortrow?

 

Am Donnerstag schlug das Wetter um. Der südwestliche Wind trieb Wolken über den blauen Himmel, und um Viertel nach neun begann es zu regnen. Der Regen fiel so gleichmäßig, daß er wahrscheinlich den ganzen Tag andauern würde.

In der Leichenhalle, einem Gebäude beim Hafen, welches sogar nach Meinung des Stadtrates abbruchreif war, nahm der Pathologe – in grünem Kittel, grünen Gummihandschuhen und orangefarbenen Nylonstiefeln – die Autopsie an dem toten Vincent Wraight vor. Außer am Kopf wies die Leiche keine Verletzungen auf. Diese waren Wraight mit dem üblichen stumpfen Gegenstand beigebracht worden, der einen etwa zweieinhalb Zentimeter großen Durchmesser gehabt hatte und glatt und aller Wahrscheinlichkeit nach leicht biegsam gewesen war. Mehr konnte der Arzt nicht finden.

 

Es hatte gerade vier Uhr geschlagen, als Murphy am Nachmittag den Telefonhörer auflegte und sich mit dem gekrümmten rechten Finger immer wieder über den Schnurrbart strich. Er wirkte, als wollte er etwas sagen, schwieg aber beharrlich.

»Waren das die Amerikaner?« fragte Faraday, den einer der Pakistani ins Zimmer geführt hatte. Im Gegensatz zum schwergewichtigen Jarrold hatte er keine Angst, Fragen zu stellen.

Murphy, dessen Augen im trüben Tageslicht mehr grau als blau wirkten, bejahte. Das Telefongespräch war sehr einseitig verlaufen. Eigentlich hatte nur er geredet. Er hatte versucht zu erklären, warum er die im voraus bezahlten »Plastikspielzeuge« nicht liefern konnte, die ihm vom Hersteller versprochen worden waren. Für die Verzögerung hatte er eine glaubhafte, unwichtige Erklärung genannt, doch die Amerikaner waren mißtrauisch gewesen. Offenbar überlegten sie, ob es in seinem Bereich Schwierigkeiten gab, die er nicht eingestehen wollte. Wenn er die Sache nicht sehr bald regelte, hatten sie gesagt, wäre es besser, daß er zu ihnen nach New York käme, um den Vertrag zu besprechen. Wenn es tatsächlich dazu kam, überlegte er, und den Amerikanern seine Erklärungen nicht gefielen, waren sie imstande, seinen Laden dichtzumachen. Dann wären die hunderttausend Pfund Kaution zum Teufel, dazu die unzähligen Tausender, die er ins Geschäft und in die Organisation gesteckt hatte.

»Die reißen immer den Mund weit auf«, meinte Faraday. »Obwohl sie auch nicht klüger sind als wir. Warum sagst du ihnen nicht mal die Meinung?«

»Sei nicht blöde«, antwortete Murphy kurz.

Faraday war beleidigt. »Du bist der Chef!« sagte er und grinste gezwungen.

Murphy lief durch das Wohnzimmer und klingelte. Sekunden später stand einer der beiden Pakistani im Türrahmen. Faraday starrte ihn voller Abneigung an. Keiner von den beiden erwies ihm den Respekt, der ihm als Nummer zwei der Organisation zukam. Irgendwann würde er ihnen noch mal beibringen, daß sie ihre dunklen Nasen in den Dreck zu stecken hatten, wenn er um die Wege war. Murphy verlangte Kognak, den der Pakistani kurz darauf in tulpenförmigen Gläsern brachte.

Murphy wärmte das Glas in seinen Händen und genoß das Aroma. »Trink nicht zu hastig, Pete! Das ist ein ganz großartiger Franzose. Wenn du davon ein Dutzend Flaschen in deinem Keller hast, bist du auf dem Weg, ein reicher Mann zu werden.«

Während Faraday seinen Kognak schlürfte, dachte er, daß es schönere Dinge gäbe, für die er Geld ausgeben würde.

»Wie steht’s bei dir, Pete?« fragte Murphy und trank einen Schluck.

»Die Zuhälter stehen stramm, Ed, wie der Spargel. Die Geschichte mit Wraight hat in der Stadt die Runde gemacht, und jetzt hat keiner mehr den Mut, aus der Reihe zu tanzen. Erinnerst du dich, daß ich dir von dem kleinen griechischen Großmaul erzählt habe, der unseren Jungs gedroht hat? Zwei von ihnen haben ihn heute morgen noch mal besucht, und da konnte er gar nicht schnell genug unterschreiben!«

Murphy verriet keine Überraschung, daß die Aktion so glatt verlaufen war.

»Letzte Woche haben wir beinahe zehntausend Pfund abkassiert, Ed!« sagte Faraday begeistert.

Ob sich Faraday je überlegt hatte, wieviel Geld man brauchte, damit so eine Organisation wie die seine funktionierte, überlegte Murphy. Seltsamerweise kamen Murphy plötzlich Zweifel an Faraday. Versteckte der hinter seiner übertriebenen Selbstsicherheit etwa eine Gerissenheit, die er, Murphy, bis jetzt nicht bemerkt hatte? »Wie steht’s mit dem Bullen, den wir brauchen?« fragte er.

Faraday verzog die dicken Lippen. »Wir bemühen uns, doch es sieht nicht vielversprechend aus, Ed. Bisher haben wir bloß einen Kontaktmann, der vor einem Jahr in den Norden verzogen ist …«

»Wozu dann drüber reden?« fragte Murphy spöttisch, weil er wissen wollte, wie schnell Faraday explodieren würde.

Doch Faraday zuckte nur mit den Achseln. »Wir haben einen Burschen namens Armstrong, der regelmäßig bei den Mädchen auftaucht. Er ist bei der Fürsorge.«

»Versuch rauszukriegen, ob er was taugt.«

Faraday nickte.

»Willst du behaupten, daß es in der ganzen Stadt keinen einzigen bestechlichen Bullen gibt?« fragte Murphy.

»Es könnte möglich sein. Offenbar haben alle Schiß vor dem CID

Auch den würde er noch kaufen, beschloß Murphy, wie noch ein paar andere Behörden. Die Stadt würde nicht mehr lange so unschuldig weiß bleiben …

 

Rowan betrat das Causeway Apartmenthaus und ging an dem achteckigen Blumenbeet vorbei durch die Halle zur Portiersloge. Der Portier betrachtete ihn prüfend und gähnte; der schäbige Anzug von der Stange und das am Kragen ausgefranste Hemd waren nicht zu übersehen.

Rowan besaß einen gewissen Sinn für Humor, doch weil er privat so viele Probleme hatte, bekamen ihn die Leute nur selten zu spüren. Das beleidigende Verhalten des Portiers amüsierte ihn mehr, als es ihn ärgerte. Er zeigte ihm seinen Ausweis. »Draußen in den Hügeln ist jemand ermordet worden.« Er starrte den Portier übertrieben ernst an. »Was wissen Sie darüber?«

Die Hochnäsigkeit des Portiers fiel in sich zusammen. »Mein Gott!« rief er erschrocken. »Ich habe keine Ahnung! Sie können hier jeden fragen! Mit so was habe ich noch nie zu tun gehabt!«

»Deswegen brauchen Ihnen nicht gleich die Haare zu Berge stehen!« sagte Rowan, eine taktlose Bemerkung, denn der Portier war völlig kahl. »Wo wohnt Miss Violet Carter?«

»In 3B.« Die Angst und Bestürzung auf dem Gesicht des Portiers verwandelten sich in Ärger, als er erkannte, daß Rowan ihn an der Nase herumgeführt hatte.

Rowan fuhr mit dem Lift hinauf und drückte bei 3B auf die Klingel. Dabei stellte er wieder einmal fest, daß sich Unehrenhaftigkeit und Unmoral häufig besser bezahlt machten als Ehrbarkeit und Ehrlichkeit. Nicht viele Leute konnten es sich leisten, in so einem feinen Kasten zu wohnen.

Als Violet Carter die Tür öffnete, wußte er sofort, daß seine Informationen stimmten. Ihre Augen waren geschwollen und gerötet, und auf ihrem Gesicht lag ein müder Ausdruck, der verriet, daß sie großen Kummer hatte. Das hatte er eigentlich nicht erwartet. »Miss Carter?« fragte er freundlich. »Ich bin Constable Rowan vom CID. Ich hätte Sie gern kurz gesprochen, wenn es geht.«

Sie stand nur da, und die Tränen liefen ihr über das Gesicht. Rowan trat ein, schob sie zur Seite und schloß die Wohnungstür. Mit einem raschen Blick erfaßte er die Einrichtung des Flurs: teurer Teppich, ein eleganter antiker Tisch mit Intarsien, der sicherlich nicht so echt war, wie es den Anschein hatte, ein Garderobenständer, an dem nur leere Bügel hingen, zwei goldgerahmte alte Londoner Stiche.

Sie führte ihn ins Wohnzimmer, das mit modernen Ledersesseln eingerichtet war. An der Wand hing das Bild eines Schwans, in einer Ecke stand eine Bar, ein Bücherregal war halb voll mit Büchern, auf dem kleinen Couchtisch stand eine Vase mit Blumen. Gewöhnlich wohnten Prostituierte nicht in einer solchen Umgebung. Kein Wunder, daß Wraight versucht hatte, seine Ansprüche auf sie zu verteidigen. »Sie haben Vincent Wraight gekannt?« Seine Frage war eher eine Feststellung.

Sie nickte. Allmählich gewann sie ihre Fassung wieder, und der traurige Ausdruck verschwand von ihrem Gesicht. Sie hatte aufgehört zu weinen. »Wir waren ein Team!« sagte sie trotzig. Für die übrige Welt war er nur ihr Zuhälter gewesen, doch für sie würde er immer die andere Hälfte des Teams bleiben.

»Mein Beileid, Miss Carter. Ich störe Sie nur ungern in Ihrem Kummer. Könnten Sie mir etwas über ihn erzählen …?«

Sie war überrascht, weil er sich fast wie ein Freund benahm, nicht wie ein Kriminalbeamter. Erst stockend, dann immer fließender, als fände sie darin Erleichterung, erzählte sie ihm von Wraight. Vor drei Jahren hatten sie sich kennengelernt, und das hatte ihr ganzes Leben verändert. Er hatte sie geliebt, sie beschützt und ihr alles gegeben, was sie vom Leben erwartete. »Ich verkaufe mich.« Ihre Stimme wurde höher. »Doch das hat ihn nicht gestört. Wir waren wie ein – ein …«

»Ein Ehepaar?« – »Genau!«

Sie fanden den Vergleich nicht absurd. Violet Carter kannte keine konventionellen Moralbegriffe, und Rowan hatte in seinem Beruf erfahren, daß solche Ansichten ein Luxus waren, den sich nicht jeder leisten konnte.

»Wissen Sie, warum er getötet wurde?« fragte er.

»Der neue Mob wollte mich zwingen, für sie zu arbeiten. Man hat ihm Geld angeboten, damit er mitspielte, aber ich wollte nichts davon hören. Ich sagte zu ihm, daß es nur ihn und mich gäbe und niemand sonst das was anginge. Ich konnte doch nicht ahnen, was passieren würde!« Einen Augenblick schien sie die Fassung zu verlieren, ihre Lippen zitterten.

Rowan konnte sich die Szene vorstellen. Sie und Wraight hatten den neuen Leuten verächtlich erklärt, sie sollten sich zum Teufel scheren – ohne zu begreifen, auf was für ein gemeines und böses Spiel sie sich einließen.

Sie hob den Kopf und sagte voll Haß: »Wer hat ihn erschlagen wie einen gemeinen Hund? Wer steckt dahinter?«

»Das wissen wir noch nicht.«

Sie verzog den Mund. »Ich werde ihn umbringen!« rief sie.

»Lassen Sie das lieber! Wenn Sie was Wichtiges erfahren, benachrichtigen Sie uns. Wir werden uns um die Leute kümmern!«

»Sie? Die Bullen? Sie glauben, Sie kriegen den Mann an der Spitze? Den Kerl, der den Befehl gegeben hat, Vince zu ermorden?«

Was sollte er ihr darauf antworten? Die Polizei tat ihr möglichstes, aber es brauchte mehr als Geschick und Erfahrung, einen Verbrecherring zu knacken. Die großen Tiere hatten das Geld, um sich Starverteidiger zu leisten, die das Gesetz verdrehen konnten, Zeugen bestachen oder ihnen so drohten, daß sie lieber schwiegen. Meistens kamen nur die kleinen Fische ins Gefängnis. Die Hechte im Karpfenteich schlüpften ihnen immer wieder durch die Maschen des Gesetzes.

Plötzlich stand sie auf und starrte durch das große Blumenfenster hinunter in den Garten. Als sie wieder sprach, klang ihre Stimme beinahe ruhig. »Wissen Sie, was seltsam ist? Sie verstehen mich!« Sie drehte sich um und starrte ihn an. »Die meisten Bullen würden mich bloß auslachen. Ein Callgirl wie ich weint über ihren Freund, weil’s ihn erwischt hat! Aber Sie verstehen mich! Wieso eigentlich?«

Er bemühte sich, ihr eine Antwort zu geben, die vernünftig klang, ohne herablassend zu sein. »Vielleicht habe ich begriffen, daß es jeden erwischen kann, auch den Mann, der jeden Sonntag in die Kirche geht und sich beim Beten die Knie wundscheuert.«

Sie kehrte zu ihrem Sessel zurück und ließ sich hineinfallen.

»Können Sie mir sagen, was am Abend vor seinem Tod passiert ist?« fragte er.

Voll Haß und Trauer sah sie ihn an. Sie erinnerte sich genau. Er hatte gesagt, er müßte noch mal weggehen, und sie hatte versucht, ihn mit weiblicher List zurückzuhalten. Beinahe wäre es ihr gelungen. Vielleicht, wenn sie ihn noch ein wenig mehr gereizt hätte – vielleicht wäre er geblieben. »Doch er ging,« erklärte sie mit ausdrucksloser Stimme, »mehr weiß ich nicht. Wenn ich was gesehen oder gehört hätte, ich würde es Ihnen erzählen. Ich würde alles drum geben, daß die Kerle gefaßt werden! Und was habe ich gemacht? Ich bin nur dagesessen und habe ferngesehen, und als es spät wurde, habe ich gedacht, daß er sich einen ansäuft. Doch als er auch am nächsten Morgen noch nicht kam … fing ich an, mir Sorgen zu machen … dann habe ich im Radio gehört …«

Er ließ ihr Zeit. Schließlich fragte er: »Haben Sie irgendwelche verdächtigen Gestalten im Haus rumlungern sehen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Wer hat Sie zu überreden versucht, für den neuen Mob zu arbeiten?«

»Zwei Kerle. Weder Vince noch ich haben sie vorher oder danach gesehen. Die waren ganz bestimmt nicht von hier!«

Außenseiter, dachte Rowan, Fremde, die sofort aus der Stadt verschwinden konnten, wenn bei ihrer Hilfsarbeit etwas schieflief. Diese Gangster wußten tatsächlich ganz genau, wie man neues Gebiet eroberte. Profis.