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Die TSS Western Sand war ein zweiundzwanzigtausend Tonnen großes Passagierschiff, das noch ein Jahr im Dienst bleiben würde und nur deshalb Gewinn abwarf, weil die Sand-Dampfschiffahrtsgesellschaft vor fünf Jahren einen günstigen Vertrag über Postbeförderung ausgehandelt hatte. Während der dreißig Jahre, die sie schon die Meere befuhr, war sie einmal modernisiert worden. Man hatte ihr einen schlanken, geraden Bug gegeben, einer der beiden Schornsteine war weggefallen und Fock- und Hauptmast waren erneuert worden. Sie besaß jetzt eine Anmut, die sie als neues Schiff nicht gehabt hatte.
Pilgrim mochte weder das Meer noch Schiffe, modernisiert oder nicht. Schon wenn die Wellen nur ein wenig höher gingen, wurde er seekrank, und bei dem schweren Sturm vor drei Tagen – im Logbuch war allerdings nur von mittlerem Seegang die Rede – hatte er beinahe geglaubt, sterben zu müssen.
Er saß an der Bar und bestellte noch einen Whisky mit Eis. Der Barmann goß ihm ein. Die Musik aus der Diskothek ein Deck unter ihm war fast nicht zu hören. Er hatte versucht, mit einer flotten Blonden anzubändeln, doch sie hatte ihm deutlich zu verstehen gegeben, daß sie einen jungen Stier lieber mochte als ein altes Rindvieh. Verdammt, dachte er leicht angetrunken, er war schließlich erst fünfunddreißig, aber man lernte eben nie aus.
»Hallo, hallo!« klang es aus dem Lautsprecher. »Wir rufen Mr. Pilgrim! Bitte, kommen Sie ins Büro des Zahlmeisters auf Deck C! Wir haben eine Nachricht für Sie!«
Plötzlich spürte Pilgrim einen unangenehmen Knoten im Magen. Er trank seinen Whisky aus, verließ die Bar und ging zum Lift, der vor Altersschwäche so laut ratterte, daß er sich bei jeder Fahrt fragte, ob er überhaupt ein Sicherheitsseil besaß.
Das Büro des Zahlmeisters ging von einer kleinen Halle ab. Es bestand aus einem sechs mal drei Meter großen Arbeitsraum, der durch eine Theke vom Publikumsverkehr abgetrennt war. Dahinter lag ein winziger Raum für den Oberzahlmeister, der angeblich dort täglich zwei Flaschen Whisky trank. Hinter der Theke saßen ein junger, glatter Zahlmeister mit zwei Streifen am Ärmel und eine energische Brünette mit einem Streifen. Er stellte sich bei ihr vor und fragte, wieso er sie nicht schon früher auf seiner Reise getroffen habe. Mit einem etwas gezwungenen Lächeln antwortete sie, daß sie leider sehr viel zu tun gehabt habe. Sie reichte ihm ein Schiffstelegramm.
Er riß es auf und las: BEDAUERN ABBOT GESTERN ABEND VERSCHIEDEN STOP ALLE PLÄNE FALLENLASSEN UND SOFORT NACH HAUSE KOMMEN STOP ANNE
Er knüllte es zusammen und steckte es in die Tasche. Er merkte, wie ihn das brünette Mädchen aufmerksam ansah, aber er achtete nicht auf sie. Er fuhr mit dem Lift wieder hinauf und kehrte in die Bar zurück, wo er einen neuen Whisky mit Eis bestellte. Zwei Bargäste schlugen ihm vor, Poker zu spielen, doch er lehnte ab. Er fühle sich nicht besonders wohl. Die Männer lachten und meinten, er solle künftig lieber an Land bleiben. Dann gingen sie.
Nachdenklich schlürfte Pilgrim seinen Whisky. Irgend etwas war schiefgegangen, er zitterte innerlich vor Entsetzen. Tausend Pfund hatte man ihm für die Fahrt versprochen. Alles würde glattgehen, keine Probleme! Es hatte geklungen wie ein Geschenk des Himmels. Keine Probleme? Plötzlich hatte er das Gefühl, daß er sich die tausend Pfund sehr sauer verdienen mußte.
Der Whisky beruhigte ihn, statt sein Gehirn zu trüben. Allmählich kehrte sein Selbstvertrauen zurück. Vielleicht gab es beim Anlandgehen Schwierigkeiten, aber das ging ihn nichts mehr an, weil sie mehrere genaue Pläne gemacht hatten. Wenn er so ein Telegramm bekam wie eben, sollte er den einen anwenden, das heißt, er sollte die Lieferung auf Höhe der ersten der Leuchtbojen – alle zehn Sekunden drei Signale –, die die Untiefen bei der Mündung des Fort-Flusses markierten, über Bord gehen lassen.
Er widerstand der Versuchung, noch einen Whisky zu bestellen, und fuhr mit dem Lift zum B-Deck hinunter, wo seine Kabine lag.
Er hatte seine Koffer in einem Fach beim Schott neben dem Waschbecken verstaut. Er öffnete den blauen und holte ein gut verpacktes Päckchen heraus, das er irgendwann vor dem Einlaufen ins Meer geworfen hätte, wenn das Telegramm nicht gekommen wäre.
In dem Päckchen steckten ein aufblasbarer Gummibehälter, eine kleine Gasflasche, eine Leine und eine wasserdichte Taucherlampe mit Batterie. Dazu ein Wecker, der fünfzehn Minuten nach dem Aufziehen das Licht einschalten würde.
Er steckte das Päckchen wieder in den blauen Koffer, in welchem zusammen mit seinen andern Sachen zwei Jacketts lagen – von zwei verschiedenen Konfektionsfirmen –, in deren Schultern und Säumen reines Heroin in Plastik verpackt eingenäht war. Ein drittes Jackett lag in seinem anderen, braunen Koffer. Normalerweise hätte niemand Verdacht schöpfen können, daß mit ihnen etwas nicht stimmte.
Die gründlichen Untersuchungen durch Polizei- und Zollbeamte verursachten beträchtliche Störungen, es kam zu einer Menge Beschwerden, Verzögerungen und ärgerlichen Zwischenfällen. Bei neun Passagieren eines Flugzeugs aus Kopenhagen entdeckte man Pornozeitschriften. Eine blonde Frau, die mit einem Flugzeug aus Istanbul eintraf, stellte sich als Mann heraus, und die Einwanderungsbeamten hatten Schwierigkeiten mit ihrem beziehungsweise seinem Paß. Zwei blinde Passagiere, illegale Einwanderer aus Indien, wurden im Lagerraum eines Frachters gefunden, und siebzehn Männer und siebenunddreißig Frauen auf einem Postdampfer hatten mehr zollfreie Ware bei sich, als offiziell erlaubt war. Eine Frau aus Nizza versuchte, mit dem Flugzeug einen Chow-Chow einzuschmuggeln, und wurde hysterisch, als man ihn entdeckte. Vier Studenten mit einem schäbigen alten Wagen, die von einer Reise aufs Festland zurückkehrten, benahmen sich verdächtig. Es wurden vierundfünfzig Pfund Haschisch bester Qualität bei ihnen sichergestellt, in Platten zu je einem halben Kilo, die sie in ihrem Auto versteckt hatten. Als man sich eingehend mit einem kleinen Koffer beschäftigte, geriet dessen Besitzer auffallend ins Schwitzen. Wie sich bei näheren Nachforschungen herausstellte, war der Mann vor zehn Monaten aus England geflüchtet; die Polizei war ihm bereits dicht auf den Fersen gewesen. Ein Paar war besonders nervös, doch wie sich ergab, hatten sie nichts angestellt. Sie waren nur nicht verheiratet.
Gegen halb acht Uhr abends kehrten Fusil und Kywood ins Büro zurück. Es hatte gerade zu nieseln begonnen. Erschöpft ließen sie sich in den Stuhl fallen. Nach einer Weile raffte sich Fusil auf und bestellte telefonisch etwas zu essen. Als er die Antwort des diensttuenden Sergeanten hörte, fluchte er. »Was«, rief er, »die Kantine ist geschlossen?«
»Ja. Die Leute von der Tagschicht sind um sechs Uhr gegangen, und die beiden vom Spätdienst haben sich krank gemeldet. Es lagen noch ein paar alte Sandwichs herum, die sind aber gegessen worden. Der Kaffeeautomat ist auch leer.«
»Was für ein herrliches Leben«, schimpfte Kywood, holte ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche und zündete sich eine Zigarette an. »Es bleiben noch knapp viereinhalb Stunden«, meinte er nachdenklich.
Fusil begann, mit den Fingern auf die Schreibtischplatte zu klopfen. Aller Wahrscheinlichkeit nach, würden noch zwei Schiffe und ein halbes Dutzend Flugzeuge bis Mitternacht ankommen.
»Wir hatten keine Wahl«, sagte Kywood plötzlich. »Wir mußten Großalarm geben!«
Fusil war leicht erstaunt. Gewöhnlich ging Kywood bei einem solchen Stand der Dinge in Deckung, damit man ihn nicht für den negativen Ausgang einer Operation oder für begangene Fehler verantwortlich machen konnte. In diesem Fall war es vor allem ein finanzielles Problem: Sie mußten Überstunden bezahlen, außerdem die Leute, die die Grafschaftspolizei abgestellt hatte. Offenbar hatte Kywood diesmal nicht die Absicht, sich zu drücken. Eigentlich war er gar kein so schlechter Kriminalbeamter, dachte Fusil: kein Mann konnte von Grund auf schlecht sein, der sich mit seiner ganzen Kraft für die Polizeieinheit einsetzte, in der er diente.
Pilgrim starrte durch das Bullauge seiner Kabine in die Nacht und wartete auf die Lichtsignale der Boje. Da kamen sie: eins, zwei, drei. Er sah auf seine Armbanduhr. Nach genau zehn Sekunden wiederholte sich das Signal. Das war die erste Boje, die die Untiefen bei der Flußmündung markierte. Das Schiff änderte seine Richtung und nahm Kurs auf die ausgebaggerte Flußrinne zum Hafen.
Er wandte sich ab und ging zu dem Sofa, auf dem die wasserdicht verpackten Heroinpäckchen lagen. Sorgfältig legte er sie in den aufblasbaren Gummibehälter, überprüfte das Lichtkabel und den Wecker und öffnete den Hahn an der Gasflasche. Der Gummibehälter wurde zu einer zylindrischen Form aufgeblasen, nicht zu einer Kugel. Bei einer bestimmten Druckhöhe schloß sich das Ventil am Behälter. Falls er irgendwo ein Loch hatte, würde sich das Ventil automatisch öffnen und den Druck über die Gasflasche ausgleichen.
Er trug den Behälter zum Bullauge. Sein Durchmesser war genau drei Zentimeter kleiner als der des Bullauges, was bewies, wie gründlich sie den Coup geplant hatten. Er schaltete die Beleuchtungsautomatik ein und warf das Ganze in hohem Bogen hinaus. Sie hatten das Gewicht des Päckchens genau kalkuliert, damit es eine glatte, ruhige Flugbahn beschrieb.
Dann zerschnitt er mit einem Taschenmesser die drei Jacketts und warf die Stücke ebenfalls ins Meer.
Der Dritte Offizier stand auf der Brücke und starrte nach achtern. Der Kapitän tauchte aus dem Ruderhaus auf und fragte: »Wann haben Sie das letztemal gelotet?«
»Vor zwei Minuten, Sir. Wir halten genau Kurs und machen sieben Knoten.«
»Wer hat das Radar geändert?«
»Ich. Um die Entfernung zur dritten Boje besser überprüfen zu können.«
»Hm!« machte der Kapitän, der sich immer aufregte, wenn sie in einen Hafen einfuhren.
Der wachhabende Rudergänger meldete, daß sie laut Radar noch fünf Meilen von der Boje entfernt waren.
Vor ihnen änderte ein kleines Schiff seinen Kurs, sein grünes Steuerbordlicht war nicht mehr zu sehen. Sie passierten die beiden weißen Ankerlichter eines Schiffes, das vermutlich auf einen Liegeplatz wartete oder die Flut.
»Ich habe etwas Seltsames gesehen, Sir«, sagte der Dritte Offizier zum Kapitän. »Als ich eben nach achtern Ausschau hielt, hat jemand eine Menge Lumpen oder Kleider aus einem Bullauge geworfen.«
»Wieso sehen Sie nach achtern? Halten Sie lieber ordentlich Wache! Wie lange dauert es noch, bis wir den Lotsen an Bord nehmen?«
»Zwanzig Minuten, Sir, bei der jetzigen Geschwindigkeit.«
»Hm!« machte der Kapitän, der nicht erwartet hatte, daß der Dritte Offizier es genau wußte.