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Wraight untersuchte die Nummer des Daily Express. Die ausgeschnittenen Worte waren tatsächlich in dem Drohbrief an Harry Brissom verwandt worden, daran war nicht zu rütteln.
Er zündete sich eine Zigarette an und dachte über den Unfall nach. Der Barmixer hatte Simon als den Mann identifiziert, der am Sonnabend vormittag im Flying Horseman mehrere doppelte Whiskys konsumiert hatte. Und schließlich hatte Simon zugegeben, daß er vielleicht dort gewesen war und ein Glas getrunken hatte, aber bestimmt nicht mehr als eins.
Vieles, wenn nicht sogar alles, würde von Harry Brissoms Aussage abhängen.
Brissom behauptete, daß jemand ihn bedrohe, um ihn an der Identifizierung des Fahrers zu hindern. Praktisch bedeutete das, daß der Fahrer des Hillman entweder ein straffällig gewordener Verbrecher war oder daß er aus zwingenden Gründen zu den verzweifeltsten Mitteln griff, um einer Gerichtsverhandlung zu entgehen. In beiden Fällen mußte er Verbündete haben, die bereit waren, ihren eigenen Hals zu riskieren. Was war Simon für ein Mensch? Ein Schwindler, ein Phantast, ein Großsprecher – aber kein Krimineller. Seine Fingerabdrücke waren überprüft worden. Seit einundzwanzig Jahren arbeitete er für dieselbe elektrotechnische Firma. Man hielt ihn für eine gute Fachkraft, jedoch keinesfalls für eine Spitzenposition geeignet. Er wohnte in einem kleinen Haus, besaß einen uralten Wagen, zog sich billig an und war mit einer Xanthippe verheiratet. Er spielte, aber der Besitzer des Spielklubs behauptete, daß er dort keine Schulden hätte. Keine seiner Beziehungen ließ darauf schließen, daß irgend jemand tatsächlich ein Interesse daran haben könnte, Brissom seinetwegen zum Schweigen zu bringen. Außerdem war das Exemplar des Daily Express in Brissoms Mülltonne gefunden worden.
Harry fuhr durch Reppleton nach Grange Lodge. Mary, die am Wohnzimmerfenster gestanden hatte, drehte sich um, als er hereinkam.
«Harry, es tut mir schrecklich leid wegen heute vormittag. Ich … ich hatte eben einfach Angst.»
«Ich weiß. Aber das ist wirklich nicht nötig.»
«Ehrlich?»
«Du kannst mich köpfen, wenn’s nicht stimmt.»
Sie lächelte. «Was für ein scheußlicher Gedanke!»
«Wieso? Solange mein Hals gewaschen ist …»
«Das will ich doch hoffen. Im Ernst, Harry – möchtest du lieber hierbleiben oder ausgehen? Pam hat uns auf einen Drink eingeladen.»
«Wenn mich Gregory bloß nicht dauernd an zerlaufenes Erdbeereis mit Schlagsahne erinnern würde!»
«Bloß weil er Ballettänzer ist, mußt du natürlich gleich sonst was denken.»
«Für meinen Geschmack pudert er sich einfach zuviel.»
«Harry Brissom, Sie sind einer der unhöflichsten Männer, die ich kenne.» Sie ging zu ihm, legte ihm die Arme um den Hals und küßte ihn. «Und einer der nettesten. Ich wünschte, ich hätte einen Zauberstab, mit dem ich die nächsten drei Monate wegzaubern könnte.»
Sie küßten sich noch mal und setzten sich auf das Sofa. Nach einer Weile knöpfte er ihr Kleid auf und ließ seine Hand hineingleiten. Sie wollte ihn wegstoßen und gab dann nach.
In der Diele klingelte das Telefon.
Harry fluchte.
«Da rettet jemand meine Tugend gerade noch rechtzeitig», spöttelte sie und knöpfte ihr Kleid wieder zu.
«Schönen Gruß von mir, und er soll sich zum Teufel scheren.»
Sie lachte, ging in die Diele zum Telefon und nahm den Hörer ab. «Ja, bitte?»
«Ist dort Mary Keighley?»
«Am Apparat. Mit wem spreche ich?» Die Stimme war mißtönend und fremd.
«Namen tun nichts zur Sache. Passen Sie gut auf. Bringen Sie Ihren Freund dazu, daß er vergißt, was er gesehen hat, oder Sie werden’s bereuen. Verstanden?» Es klickte, und Mary hörte nur noch das Freizeichen.
Ihre Hand begann zu zittern. Sie hielt den Hörer immer noch ans Ohr, das Freizeichen schrillte lauter und lauter und drohte ihren Kopf zu zersprengen. «Harry, Harry!» schrie sie.
Er stürzte in die Diele. «Was ist los?»
«Harry, der Mann … am Telefon … Er hat mir gedroht, Harry!»
«Was hat er gesagt?»
«Bitte, Harry, tu etwas. Bitte!»
Er nahm ihr den Hörer aus der Hand und legte ihn auf. «Was hat er genau gesagt?» frage er heiser.
«Ich habe Angst, Harry. Bitte, tu, was sie sagen. Du mußt es tun.»
Er rief das Fernsprechamt an und erkundigte sich, ob man feststellen könne, woher der Anruf kam. Die Telefonistin verband ihn mit der Aufsicht, die sämtliche Einzelheiten wissen wollte. Als er sie in seiner Ungeduld und Nervosität anbrüllte, daß es dringend sei, entgegnete sie spitz, daß sie nicht taub sei. Im übrigen könne man bei Ortsgesprächen den Anrufer sowieso nicht ausfindig machen.
Dann versuchte er Wraight zu erreichen. Der Inspektor war zu Hause, und bei der Kriminalpolizei meldete sich niemand. Schließlich wurde Harry mit dem Inspektor vom Dienst verbunden, der aufmerksam zuhörte und Wraight zu unterrichten versprach.
Sobald Harry aufgelegt hatte, führte er Mary ins Wohnzimmer zurück und schenkte ihr einen steifen Whisky ein.
«Woher wissen sie, wo ich wohne?» fragte sie mit zitternder Stimme. «Harry, sie wissen alles. Es ist hoffnungslos. Der Mann sagte, wenn du nicht vergißt, was du gesehen hast, wird mir etwas Schreckliches passieren.» Sie trank hastig. «Harry, bitte tu, was sie sagen. Du mußt es tun, sonst geschieht ein Unglück.»
«Das kann ich nicht.»
«Aber du brauchst doch nur zu sagen, daß du den Mann nicht wiedererkennst.»
«Eine Frau wurde überfahren und starb.»
«Jedes Jahr gibt es Tausende von Verkehrstoten.»
«Wahrscheinlich war der Fahrer betrunken.»
«Aber er hat doch niemand überfahren, den du kennst. Warum bist du bloß so dickköpfig?»
«Er war betrunken und überfuhr eine Frau. Deshalb muß er vor Gericht.»
«Zum Teufel mit dem Gericht! Und was ist mit mir? Ist es etwa gleichgültig, ob mir was passiert? Ich kann Todesängste ausstehen, das berührt dich überhaupt nicht. Ich bin ja nicht wichtig.»
«Du benimmst dich töricht.»
«Wenn ich Angst habe und dich bitte, mir zu helfen, bin ich töricht? Das einzige, wofür du dich interessierst und woran dir etwas liegt, sind deine verdammten Grundsätze.»
«Mary, ich war Augenzeuge bei einem tödlichen Unfall und habe die Pflicht, auszusagen. Wenn ich mich einschüchtern lasse, dann …»
«Wie mir zumute ist, kümmert dich überhaupt nicht!»
Er ergriff ihre Hände, doch sie riß sich sofort los. Als sie wieder zu sprechen begann, klang ihre Stimme schrill. «Du hast mir doch erzählt, was der Kriminalbeamte sagte. Daß du nur was von Theorien verstehst, aber von der Praxis keine Ahnung hast. Er hat ja so recht.»
«Das war in einem völlig anderen Zusammenhang.»
«Der Zusammenhang ist mir gleichgültig. Jetzt gelten die Drohungen mir. Ich lasse mich nicht umbringen, nur weil du so dickköpfig und unvernünftig bist.»
«Mary, bisher bist du mit solchen Dingen nie in Berührung gekommen. Deine Mutter ist reich, du hast ein geborgenes Zuhause, dein Leben verläuft glatt und reibungslos …»
«Ist das etwa ein Verbrechen?»
«Verstehst du denn nicht, worauf ich hinaus will? Du hast das Glück gehabt, von den Schattenseiten des Lebens verschont zu bleiben, aber Zehntausenden von Menschen ist das nicht vergönnt. Denk an den Krieg! Denk an all die Unterdrückten, die nicht vor der Gewalt kapituliert haben, weil sie sich damit selbst aufgegeben hätten.»
«Warum mußt du eigentlich so große Worte machen?»
«Entschuldige», sagte er kalt, «ich wollte dir etwas erklären.»
«Und wie willst du’s mir erklären, wenn ich tot bin?»
«Sie haben nicht gedroht, dich umzubringen.»
«Und wenn sie mich so schlagen, daß ich gerade noch am Leben bleibe, dann ist wohl alles in Ordnung?»
Er trank sein Glas leer, ging zu der kleinen Schrankbar und schenkte einen neuen Whisky ein. Als er sich umdrehte, sah er, daß sie weinte. «Mary, bitte …»
«Du machst dir überhaupt nichts aus mir.»
«Ich mache mir mehr aus dir als aus allen anderen Menschen.»
«Dann tu bitte, was sie wollen.»
«Das kann ich nicht.»
«Und warum nicht?»
«Schluß der Debatte. Die Polizei wird feststellen, von wem die Anrufe und die Briefe kommen, und damit ist die Sache erledigt. Ich mache keine großen Worte mehr, und du kannst das Ganze vergessen.»
«Und wenn die Polizei versagt?»
«Ausgeschlossen!» Warum hatte der Inspektor noch nicht zurückgerufen? Die Nachricht mußte ihn längst erreicht haben. Dann erinnerte Harry sich an den Daily Express, der in seiner Mülltonne gefunden worden war, und plötzlich überfiel auch ihn die Angst.