10
Wraight fuhr in Orton Rise vor und parkte den Wagen. Der Garten war groß und gut gepflegt. Vermutlich haben sie einen Gärtner, dachte er. Das Haus ist auch nicht ohne, bestimmt gehört Orton Rise zu den teuersten Besitzungen in Harrington. Die Brissoms waren wohlhabend und führten ein Leben, das er nie kennengelernt hatte und auch nie kennenlernen würde. Er hatte immer Geldsorgen gehabt und mußte jeden Penny zweimal umdrehen. Warum genoß Harry Brissom nicht seinen Reichtum, den Luxus und die Sicherheit? Warum schätzte man nie das, was man hat, sondern nur das, was einem fehlt? Und warum, fragte Wraight sich belustigt, philosophiere ich um zehn Uhr morgens wie ein halbwüchsiger Junge?
Er klopfte an die Haustür und wurde von der Aufwartefrau eingelassen. Sie führte ihn ins Wohnzimmer, dessen geschmackvolle, gemütliche Einrichtung ihm sofort gefiel.
Eine Minute später trat Harry ein. «Darf ich Ihnen einen Kaffee oder etwas Alkoholisches anbieten?»
«Einen Kaffee, Mr. Brissom.»
«Ich sage nur schnell Mrs. Harvey Bescheid.» Als Harry wiederkam, blätterte Wraight in einer Zeitschrift, die er sofort auf den kleinen Teewagen zurücklegte.
Harry setzte sich. «Gestern abend wurde bei meiner Braut angerufen. Wenn ich nicht den Mund halte, würde sie es bereuen, drohte der Mann.»
«Hat Miss Keighley etwas über die Stimme gesagt?»
«Rauh und ungebildet.»
«Sie hat sie nicht erkannt?»
«Wie sollte sie? Warum haben Sie gestern abend nichts unternommen, Inspektor?»
Die Reichen erwarten immer, daß man sich mit ihren Sorgen sofort und auf der Stelle befaßt, dachte Wraight. «Bei Ortsgesprächen kann man den Anrufer nicht eruieren, Mr. Brissom.» «Meine Braut wäre für jede moralische Unterstützung durch die Polizei dankbar gewesen. Sie hatte entsetzliche Angst.»
«Kein Wunder.»
«Ist das alles, was Sie dazu zu sagen haben?»
«Mr. Brissom, Ihre Mutter hat Ihnen sicher gesagt, daß einer meiner Leute gestern Ihre Mülltonnen durchsucht hat?»
«Ja, er soll eine Nummer des Daily Express gefunden haben, aus der Papierstreifen herausgeschnitten waren. Diese Papierstreifen …»
«… wurden sorgfältig untersucht», unterbrach ihn der Inspektor ruhig, «und stimmen genau mit den ausgeschnittenen Worten des Drohbriefes überein.»
«Wenn Sie glauben, daß ich mir den Brief selbst geschickt habe, sind Sie ein Esel.»
«Vielen Dank.»
«Es … es tut mir leid. Bitte, entschuldigen Sie», stotterte Harry verlegen.
«Mr. Brissom, ich bin einigermaßen vertraut mit Leuten, die die Polizei zum Narren halten wollen. Anscheinend finden Sie das komisch. Wir bekommen Berichte über Vergewaltigungen, Morde, Schlägereien und alles mögliche, die überhaupt nicht stattgefunden haben und uns nur die Zeit stehlen. Es handelt sich dabei meist um nicht sonderlich intelligente Menschen, für die mit Erstattung der Anzeige der Fall erledigt ist. Manchmal sind sie allerdings wesentlich intelligenter und versuchen sogar, ihre falschen Angaben durch Beweise zu untermauern …»
«Habe ich mich auf der Party etwa selbst angerufen? Und wie soll ich bitte mit meiner Braut telefoniert haben, während ich bei ihr im Hause war? Könnten Sie mir das wohl erklären?»
«Der Fanatiker ist ein intelligenter Mensch und hält es für ein besonderes Verdienst, die Polizei irrezuführen. Und wo ein Fanatiker ist, sind auch zwei.»
«Trauen Sie mir etwa zu, daß ich einen Freund veranlasse, meine Braut anzurufen, um sie zu Tode zu ängstigen?»
«Zugegeben, ich fände es erstaunlich.»
«Können Sie sich denn nicht vorstellen, daß ich wirklich nicht weiß, wer der Urheber dieser Drohungen ist?»
«Aber Sie geben zu, daß die zerschnittene Zeitung in Ihrer Mülltonne gefunden wurde?»
«Das kann ich wohl kaum abstreiten, oder? Haben Sie sich eigentlich schon mal überlegt, ob es sich nicht um ein Manöver handeln könnte, um Ihnen weiszumachen, ich hätte mir selbst den Brief geschickt?»
«Natürlich. Aber können Sie mir erklären, warum jemand soviel Mühe auf sich nehmen sollte?»
«Keine Ahnung.»
«Ich möchte ganz offen mit Ihnen sprechen, Mr. Brissom. Wir kennen den Fahrer des Hillman so gut wie sicher. Wir haben ihn und seine Umgebung genau überprüft und keinerlei Anhaltspunkte dafür gefunden, daß er versuchen könnte, Sie durch Drohungen einzuschüchtern. Er ist ein absoluter Durchschnittsmensch, der in betrunkenem Zustand eine Frau überfahren hat. Nun komme ich zu der zweiten Überlegung. Sie haben zugegeben, daß Sie für die Demonstration waren, die letzten Sonnabend stattfand – eine Demonstration, die sich unmittelbar gegen die Polizei richtete.»
«Ich habe ebenfalls ‹zugegeben›, daß ich für Recht und Gerechtigkeit bin. Es dürfte also unsinnig sein, mir daraus einen Strick drehen zu wollen.»
«Gerechtigkeit ist ein vielschichtiger Begriff. Für Sie ist es vielleicht ausgleichende Gerechtigkeit, wenn man die ganze Polizei zum Narren hält, weil zwei Polizisten freigesprochen wurden.»
«Da müßte ich ja verrückt sein.»
«Keineswegs, nur ein bißchen verdreht.»
«Sie glauben also nicht an die Drohung?»
«Die Zeitung in Ihrem Mülleimer läßt sich schwer ignorieren.»
«Die hat jemand reingeworfen.»
«Das würde einen ausgeklügelten Plan voraussetzen. Halten Sie es für wahrscheinlich, daß ein völlig durchschnittlicher Mensch etwas so Raffiniertes ausheckt und obendrein Helfershelfer findet, die genau wissen, daß sie sich damit strafbar machen?»
«Der Mann ist vermutlich verzweifelt. Wenn er schuldiggesprochen wird, muß er mit Gefängnis rechnen.»
«Das ändert nichts an der Tatsache, daß das Ganze organisiert worden sein müßte.»
Es klopfte, und Mrs. Harvey trat ein. Sie stellte das Tablett auf den kleinen Tisch und entschwand wieder.
«Ich habe Ihnen erklärt, wie wichtig mir Recht und Gerechtigkeit sind, stimmt’s?» fragte Harry eindringlich.
«Allerdings.»
«Und aus diesem Grund hielt ich den Freispruch für Unrecht.»
«Obwohl das Verfahren absolut fair war?»
«Fair ist ebenfalls ein vielschichtiger Begriff. Habe ich Ihnen nicht ferner erklärt, daß ich trotz aller Drohungen meine Aussage machen würde, weil nur so der Gerechtigkeit Genüge geschehen kann?»
«Ja.»
«Wenn ich nun bereit bin, das Risiko einzugehen, und trotzdem meine Zeugenaussage mache …»
«Risiko, Mr. Brissom? Wenn es keine Drohungen gibt, gibt es auch kein Risiko.»
«Warum wollen Sie denn nicht sehen …»
«Ich sehe nur eins, und das deutlich: Sie können falsche Behauptungen aufstellen und trotzdem unbesorgt Ihre Verpflichtungen als Zeuge erfüllen.»
«Verdammt noch mal!» schrie Harry. «Ich würde doch Mary nicht halbtot ängstigen!»
Penelope Farrow wohnte in einem abgelegenen Doppelhaus in Tresserley, einem südlichen Vorort. Sie lebte mit ihrer hypochondrischen Mutter zusammen, die sich um die dreijährige Sandra kümmerte, während Penelope im Büro war. Mrs. Farrow liebte Sandra, hatte aber nie begreifen können, warum Penelope den Vater ihres Kindes nicht geheiratet hatte. Sie genierte sich so, eine uneheliche Enkelin zu haben, daß sie lieber eine wirre, unglaubwürdige Geschichte verbreitete, in der sie Penelope zur Witwe eines Schiffsoffiziers machte. Penelope mußte oft an das alte Sprichwort denken, daß man alles tun kann, wenn man sich nur nicht erwischen läßt. Da ihr Vater ein erfolgreicher Geschäftsmann gewesen war, hatte sie eine «gute» Schule besucht, war immer zu den «richtigen» Partys eingeladen worden, wo sie die «richtigen» Leute kennenlernte. Ihr Vater hatte nach der Devise gelebt, Geld sei nur zum Ausgeben da, und ihnen bei seinem plötzlichen Tod nichts als das hübsche Haus in Harrington und ein paar Aktien hinterlassen, die er versehentlich erworben haben mußte. Sie hatten das Haus verkauft und waren nach Tresserley gezogen.
Obgleich ihre Freunde Armut als etwas Abscheuliches, Furchteinflößendes betrachteten, luden sie Penelope weiter zu ihren Partys ein, und auf einer lernte sie Richard kennen. Sie hatten sich leidenschaftlich und kompromißlos ineinander verliebt. Penelope gab sich ihm hin – das war das kostbarste Geschenk, das sie ihm machen konnte. Als sie schwanger wurde, geriet Richard außer sich. Er hatte Angst, seine stockkonservative Mutter könnte ihn wegen dieser «Schande» enterben und alles seiner Schwester hinterlassen. Das gab er Penelope überdeutlich zu verstehen, als er ihr anbot, sie zu heiraten. Außerdem spielte er immer wieder darauf an, wie einfach sich das heutzutage regeln ließ. Sie lehnte beide Vorschläge ab, was Richard ungemein erleichterte. Mrs. Farrow wollte das Kind sofort nach der Geburt adoptieren lassen und war peinlich berührt über Penelopes schroffes Nein. Tränenüberströmt prophezeite sie ihr, daß alle ihre Freunde und Freundinnen sie schneiden würden. Bei Penelopes Freundinnen behielt sie damit recht. Vor allem bei denen, die jeden Monat mit einem anderen Mann schliefen, jedoch gewitzter waren als Penelope. Ihre männlichen Freunde dagegen rissen sich darum, mit ihr auszugehen und sie großzügig zu traktieren. Als Gegenleistung für ihre Menschlichkeit und Toleranz verlangten sie nur eine winzige Kleinigkeit.
Ihr Haus war mit Möbeln eingerichtet, die sie auf Versteigerungen erworben hatten. Aber obgleich kein Stück zum anderen paßte und fast alles dringend reparaturbedürftig war, herrschte eine warme, gemütliche Atmosphäre.
Penelope saß im Wohnzimmer und füllte das Preisausschreiben einer Suppenfabrik aus. Als ersten Preis gab es fünftausend Pfund und eine Reise nach Spanien. Während sie die sieben angeblichen Vorzüge der Suppe in die richtige Reihenfolge zu bringen versuchte, begann sie zu träumen. Mit fünftausend Pfund konnte man soviel anfangen …
Es klingelte.
Mrs. Farrow sah auf die Uhr auf dem Kaminsims. «Für einen Besuch ist es eigentlich schon ziemlich spät.»
«Wahrscheinlich hat die alte Mrs. Brixom mal wieder keinen Zucker im Hause», meinte Penelope, stand auf, reckte sich und gähnte. Als Sekretärin eines Fernsehproduzenten mußte sie oft Überstunden machen.
Sie ging in die kleine Diele und öffnete die Tür. Als sie Harry erkannte, war sie sichtlich überrascht.
«Entschuldige, daß ich dich so spät störe», sagte er. «Aber ich konnte das Haus nicht finden.»
«Das ist auch nicht so einfach. Komm rein.» Was mochte Harry wohl hergeführt haben?
Sie führte ihn ins Wohnzimmer und stellte ihn ihrer Mutter vor.
«Leider haben wir nichts zu trinken da, Harry. Wie wär’s mit einer Tasse Nescafé?»
«Wenn’s dir nicht zuviel Mühe macht, furchtbar gern.»
«Ich übernehme das», sagte Mrs. Farrow. «Zu dumm, daß uns ausgerechnet heute der Sherry und der Gin ausgegangen sind.»
Penelope sah ihrer Mutter nach. Wenn sie doch endlich aufhören würde, den Schein wahren zu wollen, dachte sie deprimiert.
«Penny», sagte Harry, «ich möchte dich um einen Gefallen bitten.»
«Na, und?»
«Erinnerst du dich an den Anruf, den ich auf der Party bekam?»
«Klar. Was ist denn daraus geworden?»
«Ich bin auf der Polizei gewesen, aber die halten das Ganze für einen Schwindel von mir. Inzwischen habe ich einen Drohbrief gekriegt – die Worte waren aus einer Zeitung ausgeschnitten. Und Mary wurde telefonisch bedroht.»
«Wie kommt die Polizei bloß auf die blödsinnige Idee, daß du was damit zu tun hast?»
«Weil die zerschnipselte Zeitung in unserer Mülltonne gefunden wurde. Außerdem hat der Kriminalinspektor erfahren, daß ich bei der Demonstration letzten Sonnabend ein paar Worte mit Walter gesprochen habe, und hält mich für genauso verdreht wie ihn. Ich stehle der Polizei ihre kostbare Zeit, um mich so für den Freispruch der beiden Polizisten zu rächen.»
«Aber das ist doch idiotisch!»
«Manche Leute reagieren anscheinend so.»
«Mag sein, aber dir würde das doch nicht im Traum einfallen.»
«Wirklich schlimm wurde es erst mit der Zeitung. Natürlich war das eine abgekartete Sache, doch das wollen sie nicht glauben.»
«Und warum nicht?»
«Sie behaupten, den Fahrer des Wagens zu kennen. Soll ein ganz unbedarfter Knabe sein, der sich bloß einen angetrunken hat. Um mich zu bedrohen, müßte er aber bis zum Hals in der Tinte sitzen und außerdem einen Haufen Desperados als Helfershelfer haben – meint die Polizei. Und da ist eben Fehlanzeige.»
«Das klingt allerdings einleuchtend.»
«Für andere ja, aber nicht für mich. Ich weiß nur eines: das mit den Drohungen stimmt. Mary ist schon halb wahnsinnig … und ich … na ja, ich bin ein bißchen nervös.»
«Kann ich mir vorstellen.»
«Ich muß die Polizei davon überzeugen, daß ich die Wahrheit sage. Dabei brauche ich deine Hilfe.»
«Ich werde alles tun, was ich kann, Harry, aber wie …»
«Hör zu. Wenn du mit mir zum Inspektor gehst und ihm erzählst, was Sonnabend nacht passiert ist, und wie überrascht und erschrocken ich war, wird er mir vielleicht glauben.»
«Das tue ich gern.»
«Tausend Dank.» Er war sichtlich erleichtert. «Und wann hättest du Zeit?»
«Morgen nachmittag?»
«Großartig.»
«Wir haben gerade einen Film abgedreht, da könnte ich schon gegen vier weg.»
«Soll ich dich im Studio abholen?»
«Nein, im Büro.»
Er bot ihr eine Zigarette an, und sie begannen zu rauchen.
«Und womit haben sie gedroht, Harry?»
«Nur ganz allgemein, aber immer das gleiche. Ich soll vergessen, was ich bei dem Unfall gesehen habe, sonst machen sie Mary oder mir Scherereien. Sie ist so verängstigt, daß sie sogar …» Er stockte.
«Daß sie dich sogar gebeten hat, nachzugeben.»
«Woher weißt du?»
«Ach, ich kann mir vorstellen, wie Mary zumute ist», entgegnete sie ausweichend. Für Mary muß eine Welt zusammengebrochen sein, überlegte sie. Vermutlich war das ihre erste Begegnung mit der rauhen Wirklichkeit.
Er sah sie unsicher an. «Das hat sie bestimmt nicht ernst gemeint.»
«Natürlich nicht. Und du willst nicht nachgeben?»
«Nein.»
«Das hatte ich auch erwartet. Ich habe dich von jeher für eine Kämpfernatur gehalten.» Sie lächelte. «Auch wenn du bisher nie die Gelegenheit dazu hattest.»
«Ich muß einfach … Nein, ich will keine großen Worte machen.»
«Das liegt dir auch gar nicht.»
«Angeblich doch, sobald ich auf Recht und Gerechtigkeit komme. Das sind nun mal für mich die wichtigsten Dinge. Wer sich durch Drohungen zum Lügen verleiten läßt, gefährdet nicht nur Recht und Gerechtigkeit, sondern auch die Freiheit. Mit solchem Mangel an Zivilcourage leistet man jeder Art von Terror Vorschub. Natürlich klingt das pathetisch, aber …»
«… es ist deine ehrliche Überzeugung, also können es auch keine hohlen Phrasen sein.»
«Du hast verstanden, was ich damit ausdrücken wollte?»
«Hast du das denn nicht erwartet?»
«Ich weiß nicht. Weil nämlich …» Er beendete den Satz nicht, weil er Mary nicht bloßstellen wollte – Mary, die nichts davon begriffen hatte und wahrscheinlich nie begreifen würde.
Mrs. Farrow kam mit dem Kaffee zurück. «Sie wohnen doch in Orton Rise? Ein herrlicher Besitz», begann sie Konversation zu machen. «Wir hatten ein ganz ähnliches Haus. Es geht eben nichts über Harrington, finden Sie nicht? So ruhig und vornehm, und lauter gutklassige Leute.»
Harry empfand tiefes Mitleid mit Mrs. Farrow.
Am nächsten Nachmittag fuhr Harry an der Kathedrale vorbei zu dem großen Platz, der von dem Television Centre beherrscht wurde, einem großen, achtstöckigen Bau in Form eines Y, der von schlanken Betonpfeilern getragen wurde und zu Beginn bei der Bevölkerung einen Sturm der Entrüstung hervorgerufen hatte. Harry stellte seinen Wagen ab und ging hinein. Penelope wartete bereits in der Halle. Gemeinsam fuhren sie durch die Stadt zum Northern Division Headquarters.
Wraight empfing sie sofort.
«Miss Farrow war letzten Sonnabend auf der Party», erklärte Harry.
«Das sagten Sie mir bereits am Telefon, Mr. Brissom.»
«Vielleicht akzeptieren Sie die Wahrheit von ihr.»
«Ich würde gern hören, was Miss Farrow zu sagen hat», entgegnete Wraight unverbindlich.
Penelope begann: «Wir tanzten gerade miteinander, da rief jemand, daß Harry am Telefon verlangt würde. Wir gingen in die Diele. Er muß schlechte Nachrichten bekommen haben, dachte ich.»
«Woraus schlossen Sie das?»
«Er war so verstört, auch wenn er das Ganze als Witz abtun wollte.»
«Hat er ausdrücklich von einem Witz gesprochen?»
«Ja, aber ohne daran zu glauben.»
«Sie sagten, er sei verstört gewesen. Inwiefern?»
Sie sah unsicher von Harry zu dem Inspektor. «Das ist so schwer zu erklären, weil es eine Gefühlsreaktion war, nichts Handgreifliches. Ich meine, er fiel natürlich nicht in Ohnmacht oder so was.»
Wraight lächelte flüchtig. «Ich verstehe.»
«Wirklich?»
Wraight sah sie verblüfft an.
«Glauben Sie überhaupt ein Wort von dem, was ich Ihnen erzählt habe?» fragte sie. «Harry hat sich über den Anruf furchtbar aufgeregt. Ich kann Ihnen nicht die einzelnen Symptome schildern, aber er war völlig außer sich. Er konnte nichts von dem Anruf gewußt haben.»
«Haben Sie damals diese Möglichkeit erwogen?»
«Nein, natürlich nicht.»
«Aber seitdem schon, nicht wahr?»
«Nein, Harry hat mir nur erzählt, wie Sie die Sache betrachten.»
«Und er hat Sie gebeten, herzukommen und mich vom Gegenteil zu überzeugen?»
«Ich habe Miss Farrow gebeten, Ihnen die Wahrheit zu sagen», fuhr Harry ihn an.
«Aber ohne jemand wehe zu tun, stimmt’s?»
«Warum sollte ich Ihnen etwas vorlügen?» fragte sie.
Wraight spielte mit seinem Bleistift. «War eigentlich Ihre Braut auf der Party, Mr. Brissom?»
«Ja, natürlich.»
«Und sie erfuhr erst hinterher von dem Anruf?»
«Woher hätte sie vorher davon wissen sollen? Wollen Sie etwa unterstellen …»
«Ich unterstelle gar nichts, das ist nicht meine Sache. Ich muß lediglich versuchen, die Wahrheit herauszufinden.»
«Die haben Sie eben gehört.»
«Und wie sieht die Wahrheit über die Zeitung in der Mülltonne aus?»
«Davon weiß ich nichts.»
«Und Miss Farrow?»
«Nein», fauchte Harry.
«Sehr bedauerlich.»
«Ich finde es noch bedauerlicher, daß Sie nichts gegen die Drohungen unternehmen wollen. Meine Braut stirbt beinah vor Angst, und ich soll zu einer falschen Zeugenaussage vor Gericht gezwungen werden. Das kann Sie doch nicht kalt lassen! Schließlich wird hier versucht, in ein schwebendes Verfahren einzugreifen und die Justiz zu behindern. Wenn Sie dagegen nicht angehen, können Sie bald einpacken! Ich frage mich, ob Sie diese Drohungen auch nur im geringsten beunruhigen?»
«Sogar sehr, Mr. Brissom. Und ich brenne darauf, den Urheber zu entdecken. Sofern es überhaupt einen gibt.»
«Das ist reine Zeitvergeudung», murmelte Harry und stand auf. «Komm, Penny, wir gehen.»
Sie erhob sich zögernd. «Es ist die Wahrheit», sagte sie eindringlich. «Ich schwöre Ihnen, das ist die Wahrheit!»
«Vielen Dank für Ihren Besuch, Miss Farrow», entgegnete er ruhig.
Sie verließen das Zimmer, ohne daß Wraight sie zur Tür begleitete, und eilten die Treppe hinunter zum Wagen.
«Dieser verdammte Idiot! Der sieht auch nicht über seine eigene Nasenspitze hinaus!» sagte Harry erbittert.
«Die Zeitung, Harry … Wer hat sie in eurem Mülleimer versteckt?»
«Ich nicht.»
«Das weiß ich doch. Ich meine damit, daß dich jemand genau beobachten muß. Ist dir was aufgefallen?»
Er steckte den Zündschlüssel ins Schloß. «Natürlich habe ich aufgepaßt und bin mir dabei wie der Held eines drittklassigen Thrillers vorgekommen, der den Gangstern auflauert. Und als ich keinen entdecken konnte, hab ich versucht, mich über mich selbst lustig zu machen, aber in Wirklichkeit …» Er verstummte.
«Hast du ein bißchen Angst?»
«Ja.»
«Solange du weiterkämpfst, brauchst du dich deswegen nicht zu schämen, Harry.»
«Hugh, ich habe gesprochen.»
«Warum lachst du mich aus?»
«Ich lache mich selber aus, vermutlich eine Art Kompensation. Penny, ich brauche dringend einen Tapetenwechsel. Laß uns schwimmen gehen, es ist noch warm genug.»
Sie zögerte.
«Komm schon, das wird uns gut tun. Um ganz ehrlich zu sein: ich brauche jemand, mit dem ich reden kann und der mich versteht.»
Sie lächelte. «Du redest wie ein unverstandener Ehemann.»
Harry lachte.
Am nächsten Morgen erschien Mary wie üblich um Viertel vor neun im Frühstückszimmer. Ihre Mutter begrüßte sie: «Niemand will den Trödelstand auf dem Wohltätigkeitsbasar übernehmen, Mary. Du mußt einspringen.»
«Das möchte ich lieber nicht, Mutter.»
«Unsinn. Wir müssen mindestens zweihundert Pfund zusammenkriegen, und der Trödelstand bringt immer am meisten ein.»
Mary sagte nichts weiter und sah ihre Post durch, die neben ihrem Gedeck lag. Der erste Brief kam von einer Freundin aus Wales, der zweite von einem großen Kaufhaus in Reppleton, und der dritte hatte keinen Absendervermerk. Die Adresse war mit der Maschine geschrieben. Sie riß ihn auf. Er enthielt einen Zeitungsartikel über einen Mann, der wegen Vergewaltigung verurteilt worden war. Am Rand stand in roten Blockbuchstaben: «Das könnte Ihnen auch passieren.»