16

Inspektor Wraight verließ Penelopes Haus und ging zur Rob’s Lane, wo ein Kriminalbeamter und zwei Polizisten mit zwei Scheinwerfern alles gründlich absuchten. Der Kriminalbeamte stand auf und reckte sich.

«Na, wie steht’s?» erkundigte sich Wraight.

«Nichts, Sir.»

«Tja, in solchen Fällen findet man leider nie was.»

«Ist das Mädchen tatsächlich überfallen worden?» fragte der Kriminalbeamte.

«Ja. Die blauen Flecken am Hals werden morgen so groß wie Suppenteller sein.»

«Da hat sie noch mal Glück gehabt!»

«Sie hat einen klaren Kopf behalten und ihre Fäuste gebraucht.» Wraight fluchte. «Wie konnte der Kerl bloß so rasch türmen? Im Wagen vermutlich?»

«Wie gehabt – die reine Generalstabsarbeit.» Der Kriminalbeamte kratzte sich den Kopf. «Kastrieren sollte man sie, diese Schweine!»

«Dazu müssen wir sie erst mal erwischen!» Wraight schob die Hände in die Hosentaschen. «Ich knöpfe mir jetzt mal unseren Freund Brissom vor.»

«Sie glauben doch nicht etwa …»

«Das sind vorläufig alles Theorien. Werdet ihr hier allein fertig?»

«Ja, Sir. Ist eine Suchmeldung durchgegeben worden?»

«Ja, im Rundfunk. Fabelhafte Beschreibung: Regenmantel, Hut und einen Nylonstrumpf über dem Gesicht. Aus. Der kann längst über alle Berge sein und friedlich im Bett liegen.»

«Na, dem wird aber ziemlich übel sein.»

«Hoffentlich.» Wraight ging zu seinem Wagen und fuhr davon.

Es war kaum noch Verkehr, und er brauchte nach Orton Rise nur etwas über eine Viertelstunde. In zwei Zimmern im ersten Stock brannte noch Licht, im Parterre war alles dunkel. Er läutete.

In der Diele wurde Licht angeknipst und die Tür so weit geöffnet, wie es die Kette zuließ. «Wer ist da?» fragte eine Männerstimme.

«Kriminalinspektor Wraight, Sir. Ich hätte gern ein paar Worte mit Mr. Harry Brissom gesprochen.»

«Ihren Ausweis bitte.»

Wraight reichte ihn hinein. Kurz darauf wurde die Kette entfernt und die Tür geöffnet.

Charles Brissom war in Schlafanzug und Morgenmantel. «Ist etwas passiert! Worum handelt es sich?»

«Miss Farrow …»

Wraight wurde von Harry unterbrochen, der auf dem Treppenabsatz stand. «Was ist passiert?»

«Eine häßliche Geschichte, Sir.»

«Mit Penny?»

«Ja, Sir.»

Harry rannte die Treppen herunter. «Was ist ihr passiert?» fragte er aufgeregt.

«Sie wurde auf dem Nachhauseweg überfallen, Sir.»

«Wie geht es ihr? So reden Sie doch, Mann!»

«Sie hat heftige Würgemale davongetragen, sonst nichts, zum Glück.» Wraight beobachtete Harry scharf und gelangte zu dem Schluß, daß sein Erschrecken echt war.

«Wollte er sie vergewaltigen?»

«Vermutlich.»

«Mein Gott! Wo ist es denn passiert?»

«Miss Farrow ist mit dem letzten Bus vom Studio nach Tresserley gefahren. Den Weg von der Haltestelle nach Hause kann man abschneiden. Und an diesem Durchgang wurde sie überfallen. Es gelang ihr, den Mann außer Gefecht zu setzen. Eine couragierte Person, Mr. Brissom.»

«Ich fahre sofort zu ihr.»

«Der Arzt sagt, sie soll …»

«Der Arzt kann mir gestohlen bleiben!» Harry raste die Treppe hoch, rannte in sein Zimmer und zog sich an.

«Soll ich Sie hinbringen, oder nehmen Sie Ihren Wagen?» fragte Wraight, als Harry wieder nach unten kam.

«Danke, ich fahre mit meinem. Haben Sie den Mann erwischt?»

«Nein. Offen gestanden habe ich auch nicht viel Hoffnung.»

«Sie haben Penny immer und immer wieder bedroht, aber Sie wollten es ja nicht glauben! Und dann passiert so was. Wie leicht hätte er sie vergewaltigen können …»

«Allerdings, Mr. Brissom.»

«Glauben Sie mir denn wenigstens jetzt?»

«Ich weiß, daß Miss Farrow überfallen worden ist.»

«Sie haben sie überfallen.»

«Bisher ist uns lediglich bekannt, daß es sich um einen Mann handelte.»

«Sie glauben also immer noch nicht an die Drohungen?»

«Mr. Brissom, dieser Überfall könnte sehr wohl von einem Sittlichkeitsverbrecher verübt worden sein und mit der anderen Sache in keinerlei Zusammenhang stehen.»

«Was wollen Sie denn noch als Beweis? Pennys Leiche? Oder werden Sie dann behaupten, es könnte sehr wohl ein gewöhnlicher Mord gewesen sein, und wir brauchten uns weiter keine Gedanken zu machen?»

«Wir werden da gründlich nachhaken, verlassen Sie sich darauf, Mr. Brissom!» erklärte Wraight gereizt.

Harry unterdrückte eine wütende Entgegnung. «Ich gehe jetzt», sagte er, eilte hinaus und holte den Triumph aus der Garage.

Er war von Zorn und Furcht gepeinigt: Furcht vor dem, was hätte passieren können, und davor, daß man ihm nicht die volle Wahrheit gesagt hatte. Er hielt das Steuerrad so fest umklammert, daß er kaum lenken konnte, und entspannte sich.

Er raste durch die Straßen, ohne auf die Geschwindigkeitsbegrenzung zu achten. Als er bei Penelope ankam, brannte noch Licht, und vor dem Haus parkten drei Wagen. Ein Reporter versuchte ihn auszufragen, doch er stürzte wortlos an ihm vorbei.

Mrs. Farrow machte ihm auf.

«Wie geht es ihr?» fragte er.

«Sie ist natürlich furchtbar erschrocken, Harry. Nicht auszudenken, was ihr hätte passieren können, so allein und ohne jede Hilfe. Was es heutzutage …»

«Kann ich sie sehen?»

«Sie liegt in ihrem Zimmer. Der Arzt hat ihr ein Schlafmittel gegeben. Heutzutage ist man ja nicht mal in seinem eigenen Bett sicher, und die Polizei kann anscheinend auch nichts …»

«Wo ist ihr Schlafzimmer?»

«Die erste Tür rechts, aber der Arzt meint …» Sie verstummte, als sie ihn die Treppe hinaufrasen sah.

Penelope lag im Bett, die Nachttischlampe brannte. Er setzte sich neben sie, und sie ergriff seine Hand.

«Ich hab mir so gewünscht, daß du kommst, Harry. Woher weißt du denn davon? Wer hat es dir erzählt?»

«Inspektor Wraight. Sag mal, Penny, ist es … ist es sehr schlimm?»

«Mein Hals tut ganz schön weh. Der Arzt sagt, ich werde in allen Regenbogenfarben schillern. Siehst du die blauen Flecke?»

Er starrte auf die häßlichen Druckstellen, die sich bereits dunkelrot verfärbten.

Sie drückte seine Hand. «Versprich mir eins, Harry.»

«Was?»

«Du darfst nicht nachgeben. Nicht deswegen.»

«Aber …»

«Kein Aber. Versprich’s mir.»

Als er schwieg, wiederholte sie drängender: «Bitte, versprich es mir, Harry.»

«Na gut», murmelte er.

«Das klingt ja ungeheuer begeistert.»

«Penny, wenn sie dich …»

«Du hast mir eben etwas versprochen, vergiß das nicht. Seitdem du da bist, geht’s mir gleich viel besser.» Sie gähnte.

«Weiß der Himmel, was der Arzt mir gegeben hat, aber ich schwebe auf rosaroten Wolken mit Geigenbegleitung …»

«Ich überlasse dich jetzt deinem Konzert.» Er beugte sich über sie und küßte sie flüchtig. «Gute Nacht, Penny.»

Sie lächelte mit so viel Wärme und Herzlichkeit, wie er es selten erlebt hatte. Auf Zehenspitzen schlich er hinaus.

 

Am nächsten Morgen um halb neun kam Harry zum Frühstück herunter. Sein Vater blickte von der Zeitung auf, sagte aber nichts. Harry nahm sich Schinken und Eier und setzte sich.

Betty goß ihm Kaffee ein. «Wie geht’s ihr, Harry?»

Er tat Zucker in den Kaffee und rührte um. «Als ich ging, begann das Beruhigungsmittel zu wirken, das der Arzt ihr gegeben hatte. Sie schien verhältnismäßig wohlauf zu sein.»

«Hoffentlich kommt sie bald darüber hinweg.»

«Wenn ich den Kerl nur erwischen könnte!»

Eine Zeitlang herrschte Schweigen. Charles beendete sein Frühstück und stand auf. «Heute abend wird’s spät.»

«Und wie ist es mit dem Abendbrot?» erkundigte sich Betty.

«Ich esse im Klub.»

«Bitte, nicht mit zuviel Portwein, ja? Erinnere dich nur an deine miserable Laune beim letzten Gichtanfall.»

Charles lachte in sich hinein. «Du glaubst mir wohl immer noch nicht, daß mir damals ein Tisch auf den Fuß gefallen ist?»

«Da müßte ich ja auf den Kopf gefallen sein, mein Freund. Oder hoffnungslos naiv.»

«Die Frau möchte ich sehen, die hoffnungslos naiv ist!»

Charles winkte ihr zärtlich zu und ging.

«Darf ich dir eine furchtbar indiskrete Frage stellen, Harry?» begann Betty zögernd.

«Und wenn ich nun nein sage?»

Sie überhörte seine Antwort. «Siehst du Penelope Farrow nicht reichlich oft?»

«Tue ich das? Ist es so ungewöhnlich, daß ich sie letzte Nacht besucht habe?»

«Für einen Mann, der mit Mary verlobt ist, eigentlich schon.»

«Ich bin über einundzwanzig.»

«Das sagt gar nichts. Alter bietet bei einem Mann erst ab einundachtzig eine gewisse Gewähr. Hast du was von Mary gehört?»

«Nein. Sie hat es nicht für nötig gehalten, sich zu melden.»

«Sie hat einen schweren Schock gehabt, vergiß das nicht.»

«Sie hat nicht mal versucht, das auszufechten.»

«Du bist sehr hart.»

«Die Welt ist nun mal kein Kinderspielplatz.»

«Du bist von jeher ein Dickkopf gewesen, Harry. Laß dich dadurch nicht zu etwas verleiten, das du später bereuen wirst.»

«Letztes Mal hast du es Stolz genannt.»

«Der Effekt ist der gleiche. Charles und ich waren über eure Verlobung sehr glücklich.»

«Weil es eine ideale Partie war? Einwandfreie Herkunft, eigene Einkünfte?»

«Mary ist ein reizendes Mädchen, und ich finde es lächerlich, jetzt an ihrer Herkunft herumzumäkeln. So unwichtig ist sie nun auch wieder nicht.»

«Ist das nicht ziemlich snobistisch?»

«Mag sein. Unter Snob versteht man so viele verschiedene Dinge. Ich will dir keine Vorträge halten, Harry, du würdest ja sowieso nicht zuhören. Nur eines: Ehen in den gleichen Kreisen sind auf die Dauer meist haltbarer.»

«Was willst du eigentlich – Penny stammt doch auch aus unseren Kreisen, wie du das so schön nennst.»

Betty zögerte. «Nicht ganz», sagte sie schließlich.

«Weil sie eine uneheliche Tochter hat?»

«Auch das.»

«Dagegen hätte sie ohne weiteres etwas unternehmen können.»

«Sicher.»

«Wärst du dann zufrieden gewesen? Hätte das alles in Ordnung gebracht?»

Betty seufzte. «Na schön, ich war mal wieder der Elefant im Porzellanladen.»

«Penny hat ihre Tochter bekommen und sich den Teufel darum geschert, ob nun ein verkalkter Pfaffe seinen Segen dazu gibt oder nicht. Trotzdem hatte sie den bewundernswerten Mut, das Kind zur Welt zu bringen und bei sich zu behalten.»

«Und seither, Harry?»

«Seither haben unsere ganzen Casanovas schmählich Schiffbruch erlitten und waren sämtlich zu feige, das ehrlich zuzugeben.»

Betty schenkte sich Kaffee nach und schwieg.

 

Kurz nach zwölf rief Mrs. Keighley bei Harry an. «Ich komme gerade zurück von einem Besuch bei Mary», sagte sie.

«Wie geht es ihr?»

«Etwas besser, aber Sie haben über vieles Rechenschaft abzulegen.»

«Tatsächlich?»

«Es ist einzig und allein Ihre Schuld. Werden Sie Ihre lächerliche Haltung jetzt endlich aufgeben?»

«Wo ist Mary?»

«Bei einer Freundin.»

«Darf ich Sie um ihre Telefonnummer bitten, damit ich mit ihr sprechen kann?»

«Ausgeschlossen.»

«Warum nicht?»

«Zuerst sind einige Fragen zu beantworten. Werden Sie Vernunft annehmen?»

«Sie meinen, ob ich den Drohungen nachgebe?»

«Mary hat einen schweren Schock erlitten. Und zu allem Überfluß hat sie die Zeitungen gelesen.»

«Was soll das heißen, Mrs. Keighley?»

«In einer steht ein Bericht, daß Miss Farrow letzte Nacht überfallen wurde und daß Sie sich in ihrem Haus aufhielten.»

«Na und?»

«Mit welchem Recht verkehren Sie mit dieser Person?»

«Dazu brauche ich kein Recht.»

«Meines Wissens sind Sie mit Mary verlobt.»

«Ach – ist Mary sich darüber im klaren? Die meisten Brautpaare pflegen sich zumindest gelegentlich zu sehen oder zu sprechen.»

«Ich bestehe darauf, zu erfahren, warum Sie mit dieser Person verkehren.»

«Sie wurde letzte Nacht überfallen und …»

«Mit so was muß diese Sorte ja rechnen.»

Harry knallte den Hörer auf die Gabel.

 

Um vier Uhr nachmittags fuhr Wraight beim County Headquarters vor und ging zum Büro des Superintendenten hinauf. Catterick war nicht da, erschien aber nach fünf Minuten.

«Na, Bob, was gibt’s denn heute an Hiobsbotschaften?» fragte Catterick und ließ sich im Schreibtischsessel nieder.

«Gestern nacht wurde eine Frau überfallen. Der Täter trug einen Regenmantel, einen Hut und einen Nylonstrumpf über dem Gesicht. Er würgte sie, aber kurz bevor sie bewußtlos wurde, konnte sie ihm ein paar wohlgezielte Tiefschläge verpassen. Sobald er von ihr abließ, rannte sie zum nächsten Telefon, und der Wohnungsinhaber rief die Polizei an. Als die Funkstreife eintraf, war der Mann schon über alle Berge.»

Catterick nahm seine Pfeife vom Schreibtisch und begann sie mit dem Taschenmesser zu reinigen. «Was ist daran so Besonderes? Solche Fälle geben doch heutzutage nicht mal mehr ’ne Lokalmeldung auf der letzten Seite.»

«Die Frau heißt Penelope Farrow.»

«Farrow … Farrow? Na, so helfen Sie mir schon auf die Sprünge, Bob. Ich hab keine Lust zum Rätselraten.»

«Sie ist die Freundin von Harry Brissom und erhielt in letzter Zeit Drohungen.»

Catterick klopfte seine Pfeife in einem Aschenbecher aus.

«War der Überfall echt?»

«Der Arzt sagt, sie hätte beinahe eine schwere Halsverletzung davongetragen.»

«Wäre es denkbar, daß Brissom der Täter war?»

«Ich war nach dem Überfall sofort bei ihm und habe es ihm mitgeteilt. Kein Zweifel, daß er zum erstenmal davon hörte und ehrlich bestürzt war.»

«Besteht Ihrer Meinung nach ein Zusammenhang zwischen dem Überfall und den Drohungen?»

«Es kann natürlich auch ein Sittlichkeitsverbrecher gewesen sein, und sie hatte eben das Pech, ihm in den Weg zu laufen. Genausogut wäre es aber möglich, daß es sich um einen weiteren verzweifelten Versuch handelte, Brissom zum Schweigen zu bringen.»

«Das würde bedeuten, daß die zerschnittene Zeitung in Brissoms Mülltonne ein bewußtes Täuschungsmanöver war?»

«Genau.»

«Und Brissoms revolutionäre Ideen?»

«Die könnten hierbei gar keine Rolle spielen.»

Catterick stopfte seine Pfeife. «Na schön, nehmen wir also mal an, jemand hat die Zeitung versteckt, um uns einzureden, daß Brissom Ihnen Sand in die Augen streuen will. Warum dann aber einen so leicht nachweisbaren echten Überfall auf das Mädchen?»

«Sie sind bei Mary Keighley so weit gegangen, daß sie getürmt ist. Das hat Brissom nicht umgestimmt. Dann entdeckten sie, daß er sich mit einer anderen Frau traf, und bedrohten sie, ohne Erfolg. Er machte seine Aussage. Was blieb ihnen jetzt noch übrig? Selber können sie ihn nicht in die Zange nehmen, denn er ist der geborene Märtyrer. Die Zeit drängt, die Gerichtsverhandlung rückt immer näher, und sie können sich eben keine zartfühlenderen Methoden mehr leisten.»

«All diese Erwägungen fallen in sich zusammen, wenn der Täter ein gewöhnlicher Sittlichkeitsverbrecher war, stimmt’s?»

«Stimmt.»

«Und auf welche Theorie tippen Sie nun?»

«Ich weiß noch nicht, Sir. Für mich steht nur eins fest: sollte ich mich von Anfang an geirrt haben, werde ich mir das nie verzeihen.»

«Wir hauen alle mal daneben.»

«Nicht so gründlich.»

Catterick zündete sich seine Pfeife an. «Angenommen, die Drohungen sind echt – was können wir tun? Nachdem jetzt Anklage gegen Simon erhoben worden ist, können wir ihn nicht mehr verhören.»

«Das würde sowieso zu nichts führen.»

«Warum nehmen Sie nicht mal sein Zuhause und seine Freunde unter die Lupe?»

«Wir haben getan, was wir konnten, und keinerlei Kontakte zur Unterwelt gefunden.»

«Habt ihr irgendwelche Tips über große Coups, die in nächster Zeit geplant sind? Einen in der Preislage, wo sich der große Aufwand lohnen würde?»

«Keine Silbe, Sir.»

«Wenn Sie die Drohungen nun ernst nehmen und zurückverfolgen, ließe sich dann vielleicht was rauskriegen?»

«Was kann man mit einem Ortsgespräch anfangen, das über eine Woche zurückliegt?»

«Was bleibt also? Brissom und das Mädchen überwachen, damit ihnen nichts weiter zustößt?»

«Das ist auch keine Lösung, oder? Wenn die Drohungen ihren Zweck erfüllen sollen, darf vor der Gerichtsverhandlung nichts wirklich Schwerwiegendes, nichts Unwiderrufliches passieren. Das wäre eine Katastrophe für die Leute, denn dann hätten sie ja nichts mehr in der Hand, um Brissoms Schweigen zu erzwingen. Mit den Drohungen wollen sie doch Brissom klarmachen, was geschehen wird, falls er aussagt. Wir können ja bei Brissom und dem Mädchen nicht ewig Leibwächter spielen.»

Cattericks Pfeife war ausgegangen. Er steckte sie wieder an.

«Wird Brissom durchhalten?»

«Ja, sofern ihm nichts Menschenunmögliches zugemutet wird. In dem steckt die Kraft eines Fanatikers.»

Catterick schwieg eine Weile nachdenklich. «Also gut, hören Sie zu, Bob. Nehmen Sie die Drohungen ernst. Tun Sie, was Sie können, um Brissom zu zeigen, daß Sie hinter ihm stehen.»

«Mit anderen Worten – moralische Unterstützung, und ihn allein weiterkämpfen lassen?»

«Was bleibt uns denn in einem solchen Fall anderes übrig? Wir müssen ja im Rahmen der Legalität bleiben. Simon ist der Schlüssel zu allem. Trotzdem dürfen Sie die Wahrheit nicht mit Gewalt aus ihm herausholen. Das Gesetz bietet ihm mehr Schutz als Brissom.»

«Wenn wir nur den Grund wüßten!»

«Tja, wenn …»

 

Am folgenden Montagabend verabschiedete sich Harry um halb elf von Penelope mit einem Gutenachtkuß. Sie schloß hinter ihm ab und ging zurück ins Wohnzimmer.

«Ein reizender Junge», sagte Mrs. Farrow.

«Hm.»

«Und so gut erzogen! Eine Seltenheit heutzutage. Stell dir vor, am Freitag hat sich ein Mann im Bus so rücksichtslos an mir vorbeigedrängelt, daß ich beinahe hingefallen wäre. Und dann hat er sich nicht mal entschuldigt. Wahrscheinlich macht mir deshalb mein Rücken heute so zu schaffen. Ich habe scheußliche Schmerzen.»

«Das tut mir leid.»

«Bei jeder Bewegung könnte ich in die Luft gehen. Der Arzt hat keine Ahnung, was mir eigentlich fehlt. Er ist völlig unfähig, sage ich dir.»

«Ich glaube nicht, daß …»

«Was willst du, beim Staatlichen Gesundheitsdienst haben sie es doch nicht nötig! Heutzutage muß man eben Privatpatient sein.»

«Das können wir uns aber nicht leisten.»

«Als dein Vater noch lebte, war alles anders. Die Brissoms müssen recht wohlhabend sein, nicht wahr?»

«Das weiß ich nicht.»

«Na, irgendeine Vorstellung wirst du doch haben. Seine Eltern habe ich vor ein paar Jahren mal kennengelernt. Der Vater ist einfach reizend. Er hat viel Ähnlichkeit mit deinem guten Vater. Wäre es nicht herrlich, wenn es uns wieder besser ginge?»

«Wozu zerbrichst du dir den Kopf über Dinge, die völlig ausgeschlossen sind?»

«Wie kannst du das behaupten?»

«Mutter, ich bin müde und …»

«Und wenn er dich nun heiratet? Dann wären wir alle Sorgen mit einem Schlage los.»

«Er ist aber mit Mary Keighley verlobt, vergiß das nicht.»

«Willst du etwa bestreiten, daß er in letzter Zeit so gut wie gar nicht mir ihr zusammen war? Ich weiß, du neigst zur Schwarzseherei …»

«Warum soll ich mir selber etwas vormachen?»

«Gebrauche doch einmal deinen Verstand! Harry ist ein reizender junger Mann, und er wäre eine ausgezeichnete Partie. Wir könnten aus diesem gräßlichen Viertel wegziehen. Wenn du wüßtest, wie verhaßt mir diese kleinbürgerliche Enge ist! Harry würde mir bestimmt irgendwo eine nette, kleine Wohnung kaufen.»

«Um Himmels willen, Mutter, sei doch endlich still! Du redest lauter Unsinn. Harry stammt aus einer alten, angesehenen Familie mit ihren ehernen Regeln: Bridge für die Frauen, Garrick-Club für die Männer. Und seine Freundinnen hält man in einer anderen Stadt aus.»

«Sei doch nicht so bissig.»

«Ich bin nur nüchtern. Ich habe eine Tochter, aber keinen Ehemann. Das solltest du nicht vergessen. Männer wie Harry heiraten keine Frauen mit unehelichen Töchtern.»

«Wenn du Sandra nicht bekommen hättest …»

«… hätte ich Richard geheiratet und wäre mittlerweile eine von diesen stinkvornehmen, versnobten Gesellschaftsziegen.»

«Wie redest du bloß, Penny!»

Penelope schwieg. «Entschuldige, Mutter», sagte sie schließlich gleichgültig, «ich bin doch müde und gehe jetzt zu Bett.»

«Wenn du verheiratet wärst, brauchtest du nicht zu arbeiten und wärst auch nicht so müde. Außerdem könntest du dich tagsüber um Sandra kümmern. Ich will mich ja nicht beklagen, aber manchmal ist sie etwas schwierig, und mit meinen Rückenschmerzen …»

«Ich weiß, Mutter, und ich habe auch versucht, ihr das zu erklären.»

«Am schlimmsten ist es, wenn ich mich zu ihr runterbeugen muß. Und als ich das dem Arzt erklärte, konnte er angeblich nichts feststellen. Was ist das für ein Arzt, wenn er nicht mal die Ursache finden kann! Man müßte es sich eben leisten können, als Privatpatient …»

«Gute Nacht, Mutter.» Penelope verließ fluchtartig das Zimmer und rannte nach oben. Unterwegs schaute sie bei Sandra herein, ob alles in Ordnung war. Als sie neben dem Bett stand, sagte sie sich ohne jede Bitterkeit, daß sie für Sandra hatte teuer bezahlen müssen.

Sie wusch sich und ging dann in ihr Schlafzimmer, einen kleinen Raum, den ein schmales Bett, ein Schrank und eine Kommode fast ganz ausfüllten. Wände und Decke hätten längst neu gestrichen oder tapeziert werden müssen, aber dazu hatte sie weder Zeit noch Kraft.

Sie zog sich aus und schlüpfte in ein Baumwollnachthemd. Als sie im Bett lag, begann sie zu grübeln. Was bewog Harry, immer wieder mit ihr auszugehen? War ihm ihr Ruf tatsächlich gleichgültig? Oder glaubte er an all die Gerüchte und hoffte, durch Hartnäckigkeit ihren Widerstand brechen zu können?

Sie zwang sich, nicht mehr daran zu denken, griff nach einem Buch, las ein paar Seiten und löschte dann das Licht. Sie hatte einen schweren Tag vor sich, denn die zweite Folge der Spionageserie wurde vorbereitet. Nun, dadurch blieb ihr wenigstens keine Zeit zum Grübeln.

Sie schlief ein.

Plötzlich erwachte sie. Es war stockdunkel, nur durch einen Vorhangspalt fiel ein schmaler Lichtstrahl. Die Leuchtziffern ihrer Armbanduhr zeigten Viertel nach vier. Im Erdgeschoß hörte sie ein Geräusch. Mäuse? Nein, dafür war es zu laut. Jemand wanderte im Erdgeschoß herum. Ihre Mutter konnte es nicht sein, denn es brannte kein Licht im Treppenhaus.

Einbrecher? Unsinn, die kamen immer nur zu anderen, nie zu einem selbst. Als ihr plötzlich klar wurde, um wieviel gefährlicher dieser Eindringling vermutlich war, überfiel sie panische Angst.

Sie betastete die Würgmale an ihrem Hals, die immer noch schmerzten. Wenn das da unten tatsächlich der Unbekannte von neulich war, wie sollte sie sich am vernünftigsten verhalten? Keinesfalls durfte sie im Bett liegenbleiben und tatenlos abwarten …

Irgendwo stand doch noch die Jagdflinte ihres Vaters? Natürlich – im Kleiderschrank ihrer Mutter. Penelope drehte sich langsam auf die Seite und ließ sich über den Bettrand zu Boden gleiten.

Sie öffnete die Tür einen Spalt breit und schlüpfte auf den Flur. Da … wieder ein Geräusch im Erdgeschoß. Sekunden später tauchte am Fuß der Treppe der schwache Lichtkegel einer Taschenlampe auf. Ungefähr drei Meter von der untersten Stufe entfernt stand ein schwarzgekleideter Mann. Sein Gesicht war verdeckt, und die riesige Gestalt wirkte in der spärlichen Beleuchtung noch unheimlicher, noch bedrohlicher.

Ihr Atem stockte, und das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie zwang sich, langsam weiterzuschleichen und sich nicht durch eine zu hastige Bewegung zu verraten, bevor sie das Gewehr geholt hatte.

Sie erreichte die Schlafzimmertür ihrer Mutter, die immer offenstand, langte hinein und drehte den Schrankschlüssel um. Das Schloß knirschte laut. Sie fuhr zusammen. Das mußte der Fremde gehört haben …

Von hier draußen konnte sie die Waffe nicht erreichen. Als sie hineinschlich, fiel der Schein der Taschenlampe auf den oberen Teil der Treppe. Also war der Mann zumindest auf halber Höhe …

Sie zog das Gewehr aus dem Schrank und stieß dabei mit der Mündung gegen das Holz, daß es krachte. Ihre Mutter schrie auf.

Penelope trat auf den Treppenabsatz zurück und knipste das Licht an. Der Mann stand einige Stufen tiefer. Sie legte das Gewehr an, dessen Doppellauf zitternde Halbkreise zu beschreiben schien. Ihre Kehle war ausgedörrt und schmerzte. Sie sagte keinen Ton, weil ihre Stimme ihm ihre entsetzliche Angst verraten hätte.

Er verharrte regungslos auf der Treppe und starrte sie an. Obwohl er einen Nylonstrumpf über das Gesicht gezogen hatte, spürte sie, wie seine Blicke ihren Körper abtasteten. Gebannt fixierte er einen Riß in ihrem Nachthemd, durch den ihre Brust hindurchschimmerte. Einige Sekunden lang stand er so da, dann drehte er sich um und stieg langsam die Treppe hinunter. Kurz darauf hörte sie die Haustür ins Schloß fallen.

Sie begann so heftig zu zittern, daß sie die Flinte auf den Boden legen mußte.