7
Harry parkte vor dem Polizeirevier und betrat das Gebäude durch den Haupteingang. Rechts war eine Tür mit der Aufschrift «Auskunft», die er öffnete. Hinter einer Holzbarriere, auf der Broschüren auslagen, arbeiteten zwei Polizisten an ihren Schreibtischen. Der eine stand auf und kam zu der Barriere. «Guten Morgen, Sir. Was kann ich für Sie tun?»
«Ich würde gern jemand um Rat fragen.»
«In welcher Angelegenheit?»
«Gestern war ich Zeuge eines Autounfalls. Am Abend war ich auf einer Party und wurde von einem Mann angerufen. Er riet mir, das Ganze zu vergessen, wenn mir meine Gesundheit lieb sei.»
«Ich verstehe, Sir», brummte der Polizist und kratzte sich mit dem stumpfen Ende seines Bleistifts. «Da ist eigentlich die Kriminalpolizei zuständig. Ich weiß allerdings nicht, wer Sonntagsdienst hat. Ich werd mal anrufen.» Er ging zu seinem Schreibtisch zurück und führte ein kurzes Gespräch.
«Der Kriminalinspektor ist da und wird sich mit Ihnen unterhalten. Ich bring Sie raus.» Er begleitete Harry über den Korridor die Treppe hinauf bis zu einer Tür mit der Aufschrift «Kriminalinspektor».
Hinter einem Schreibtisch saß ein Mann in Zivil und an der Seite ein Sergeant in Uniform, dessen Gesicht Harry bekannt vorkam.
«Guten Morgen», begrüßte ihn der Mann in Zivil. «Mein Name ist Wraight, Kriminalinspektor Wraight. Bitte, nehmen Sie Platz.» Er wandte sich an den Sergeanten. «Danke, Chivers.»
Der Sergeant schien noch etwas sagen zu wollen, besann sich jedoch und verließ den Raum.
«Nun erzählen Sie mal, was passiert ist, Mr. Brissom.»
Harry berichtete kurz.
Wraight machte sich ein paar Notizen auf einem Block, dann blickte er auf. «Haben Sie eine Ahnung, woher der Mann erfahren haben konnte, daß Sie auf der Party waren?»
«Er rief bei mir zu Hause an und erzählte meiner Mutter, daß es dringend sei. Da gab sie ihm die Nummer.»
Wraight lächelte flüchtig. «Gewußt wie.» Er legte den Kugelschreiber hin. «Haben Sie eine Vorstellung, wer der Anrufer gewesen sein könnte?»
«Nein.»
«Der Mann warnte Sie davor, sich mit uns in Verbindung zu setzen. Warum haben Sie es trotzdem getan?»
«Das liegt doch auf der Hand! Wenn es kein Scherz ist und jemand tatsächlich versucht, die Justiz zu behindern, muß man das sofort unterbinden.»
«Haben Sie etwas mit der Justiz zu tun?»
«Ja, ich bin Anwalt. Wieso?»
«Heutzutage treten bedauerlicherweise nicht viele für Recht und Gerechtigkeit ein. Die meisten hätten das nicht gemeldet, sondern sich einschüchtern lassen.»
«Und sich damit gleich richtig in die Nesseln gesetzt.»
«Stimmt.»
Harry zog sein Zigarettenetui heraus und bot es Wraight an. Das Telefon klingelte. Der Kriminalinspektor entschuldigte sich und nahm den Hörer ab. Er hörte eine Minute lang aufmerksam zu, murmelte lediglich ein kurzes «Okay» und legte auf. Dann lehnte er sich zurück, zog an der Zigarette und blies den Rauch in die Luft. «Das war der Sergeant, der vorhin hier gewesen ist. Er behauptet, Sie wiederzuerkennen.»
«Ich dachte auch, daß ich ihn schon mal gesehen habe, konnte ihn aber nicht unterbringen.»
«Gestern vormittag.»
«Bei dem Unfall?»
«Bei der Demonstration vor dem Gerichtsgebäude.»
Harry erinnerte sich an den Sergeant, der wortlos und ruhig hinter dem Chefinspektor gestanden hatte. «Ja, natürlich.»
«Haben Sie an der Demonstration teilgenommen?»
«Nein, ich blieb nur stehen und unterhielt mich kurz mit den Leuten.»
«Dann sympathisieren Sie also mit ihren Zielen?»
«Sympathisieren – ja», erklärte Harry, durch den aggressiven Ton gereizt, obwohl er die Demonstration weder für ratsam noch für notwendig gehalten hatte.
«Aber sagten Sie nicht gerade, daß man die Justiz nicht behindern darf?»
«Natürlich nicht. Eben deshalb sympathisierte ich ja auch mit den Demonstranten. Aber was hat das Ganze mit dem Anruf zu tun?»
«Smith hat die beiden Polizisten beschuldigt, ihn verprügelt zu haben. Es wurde kein Versuch unternommen, die Sache zu vertuschen, und die Polizisten wurden vor ein ordentliches Gericht gestellt. Warum dagegen demonstrieren?»
«Wenn ein Polizist wegen eines solchen Delikts angeklagt wird, wissen Sie doch genausogut wie ich, daß sich seine sämtlichen Kollegen hinter ihn stellen, daß der Gerichtshof ein Auge zudrückt und daß alle Chancen auf seiner Seite sind.»
«Sprechen Sie aus persönlicher Erfahrung?»
«Nein, aber das sagt mir mein gesunder Menschenverstand. Es ist nicht so schwierig, zwischen den Zeilen gewisser Prozeßakten zu lesen.»
«Und was ist Gerechtigkeit, Mr. Brissom?»
«Die gerechte Bestrafung des Gesetzesbrechers – das ist eine Definition.»
«Bei uns kann ein Gesetzesbrecher nur dann bestraft werden, wenn genügend rechtsgültiges Beweismaterial gegen ihn vorliegt. Manchmal ist es fast unmöglich, dieses Beweismaterial zu beschaffen, selbst wenn man genau weiß, daß der Betreffende schuldig ist.»
«Zugegeben – aber keinesfalls darf man ein Geständnis durch Gewaltanwendung erzwingen.»
«Wenn ich nun weiß, daß es sich um einen gemeingefährlichen Sittlichkeitsverbrecher handelt, mir aber kein ausreichendes Beweismaterial verschaffen kann, ohne ihn nur durch Gewaltanwendung zu einem Geständnis zu bringen – ist in diesem Fall nicht Gewaltanwendung gerechtfertigt, damit der Mann vor Gericht gestellt und verurteilt werden kann? Wenn ich das nicht tue, sind weitere Frauen und Kinder gefährdet. Was fordert die Gerechtigkeit: daß er bestraft wird oder daß weitere Frauen und Kinder vergewaltigt werden?»
«Eine hypothetische Frage.»
«Leider nicht. Mit diesem tragischen Problem werden wir oft konfrontiert.»
«Wollen Sie damit sagen, daß die Polizei häufig Gewalt anwendet?»
«Ich frage Sie lediglich: was ist Gerechtigkeit?»
«Gewaltanwendung läßt sich durch nichts rechtfertigen, Inspektor.»
«Wissen Sie, Mr. Brissom, Theorie und Praxis sind eben zweierlei. Wenn einer Ihrer Angehörigen überfallen würde, wären Sie bestimmt der erste, der nach Prozeß und Bestrafung verlangt. In der Praxis müssen wir so viele Kriminelle wie möglich vor Gericht bringen, weil das der einzige wirksame Weg der Verbrecherbekämpfung ist. Nur der Außenseiter kann sich den Luxus der Theorien leisten.»
«Da sind wir geteilter Meinung. Außerdem verstehe ich immer noch nicht, was das Ganze mit dem gestrigen Telefongespräch zu tun haben soll.»
«Verzeihen Sie, ich habe mich ablenken lassen. Aber ich wollte seit langem etwas über die Beweggründe und Ansichten der Menschen erfahren, die an Demonstrationen teilnehmen.»
«Ich habe doch nicht daran teilgenommen!»
«Gewiß, Mr. Brissom, aber Sie sagten vorhin ja selbst, daß Sie mit den Demonstranten sympathisierten. Doch zurück zu dem Anruf. Bitte halten Sie mich auf dem laufenden. Inzwischen gehen wir hier der Sache nach.» Wraight erhob sich. «Besten Dank für Ihren Besuch.»
Harry verabschiedete sich und ging.
Wraight lehnte sich zurück und dachte über den Unfall in der Clairmont Road nach. Gestern hatte ein Mann namens Andrew Simon im Revier angerufen, um den Diebstahl seines dreizehn Jahre alten roten Hillman mit der Nummer 545 PKM zu melden. Spät abends teilte er mit, er habe seinen Wagen in einer Seitenstraße wiedergefunden, etwa einen Kilometer von der Stelle entfernt, wo er gestohlen worden war. Jetzt wurde der Hillman im Polizeipräsidium untersucht, ob er der Unfallwagen war. Ein Kriminalbeamter hatte Simon verhört und seine Aussagen vorläufig zu Protokoll genommen. Es war ein alter Trick, einen Unfallwagen als gestohlen zu melden und damit dem Wagendieb die Schuld in die Schuhe zu schieben. Allerdings ließ sich der Gegenbeweis schwer erbringen – es sei denn, man hatte beispielsweise einen Augenzeugen, der den Fahrer identifizieren konnte.
Gehörte Simon zu den Menschen, die versuchen würden, einen Augenzeugen durch Drohungen mundtot zu machen? Nach dem Unfall hatte der Fahrer des Hillman die Flucht ergriffen. Sollte nun Simon tatsächlich am Steuer gesessen haben, erhob sich die Frage, woher er wissen konnte, daß Brissom den Unfall gesehen hatte. Stimmte das mit der Drohung überhaupt? Brissom hatte selber erklärt, daß er mit den Demonstranten sympathisiere. Da beide Polizisten freigesprochen worden waren und Brissom das für ein Fehlurteil hielt, wäre es immerhin denkbar, daß er die Arbeit der Polizei durch falsche Behauptungen erschweren wollte. Zuzutrauen wäre ihm das …
Die Beule im linken Kotflügel des Hillman war weder groß noch tief. An ihrem Rand war etwas Lack abgesprungen, und in der Mitte zeichnete sich der schwache Abdruck eines Musters ab.
Ein Kriminalbeamter leuchtete diesen Abdruck mit Scheinwerfern von allen Seiten her aus, bis er ihn ganz klar erkennen konnte. Er bestand aus zwei Hälften: die obere wies ein netzartiges Muster auf, die untere war ziemlich verschwommen. Aus der Höhe der Unterteilung schloß er, daß sich hier der Rocksaum markiert hatte. Der obere Abdruck stammte von dem Rock, der untere von einem Damenstrumpf.
Er winkte den Sergeant heran, der den Abdruck zu fotografieren versuchte und über diese mühevolle Arbeit kräftig fluchte. Als er endlich fertig war, wartete er ungeduldig, während der Kriminalbeamte eine Skizze von dem Abdruck anfertigte und mit einem Kamelhaarpinsel feinen weißen Puder darüberstäubte. Ein kleiner Ausschnitt des Musters trat nun scharf hervor, wurde fotografiert und mit Präzisionsinstrumenten vermessen.
Der Leichnam der Frau lag auf einer Marmorplatte im Seziersaal.
In einem der angrenzenden Räume wurden Kleider und Handtasche der Toten aus ihren Plastikhüllen genommen, auf dunkle Kunststofftücher gelegt und eingehend untersucht. Fünf Zentimeter oberhalb des Rocksaums fand sich etwas Farbstaub, der mit einer Pumpe abgesaugt und in eine sterilisierte Flasche gefüllt wurde.
Der Rock wurde gemessen und fotografiert. Dann zog man ihn über einen Sandsack, dessen Gewicht dem der Frau entsprach, und schleuderte diesen heftig gegen den Wagen. Der Abdruck, den er hinterließ, wurde mit Puder bestreut und fotografiert.
Ein Auto brachte den Farbstaub und die drei Lacksplitter von dem Hillman zum Gerichtsmedizinischen Institut.
Die Aufnahmen von dem Originalabdruck auf dem Hillman und von dem Test wurden ins Polizeipräsidium geschickt. Dort projizierte man sie im Fotolabor mit zwei gleichen Vergrößerungsapparaten auf eine Leinwand. Sie stimmten weitgehend überein.
Im Wohnzimmer von Orton Rise goß Charles Brissom zwei Cinzanos für Mary und seine Frau und zwei Whiskys für sich und Harry ein. «Ich möchte bloß wissen, ob die Polizei den Anrufer ausfindig machen kann, Harry», sagte er.
Harry zuckte die Achseln. «Solange sie keinen bestimmten Verdacht haben, ist das eine verdammt schwierige Aufgabe.»
«Das müssen sie doch feststellen können», meinte Mary.
«Nicht bei Orts- und Durchwählgesprächen.»
Charles zündete sich eine Zigarre an. «Zu solchen Drohungen greift man doch nur, wenn ein triftiger Grund vorliegt, und den wird die Polizei bestimmt bald rausfinden.»
«Und wenn nicht?» erkundigte sich Betty gelassen.
Diese Frage war bisher vorsichtig vermieden worden. Nach einem Seitenblick auf Mary meinte Harry leichthin: «Wir sollten die Polizei auch nicht für unfähiger halten, als sie ist.»
«Und womit drohte er dir?» fragte Mary.
«Mit nichts Speziellem. Jedenfalls schien er mich weder in siedendes Öl werfen noch am Spieß braten zu wollen.»
«Aber … aber er könnte doch etwas Schreckliches tun, nicht wahr?»
«Solche Leute tun in der Regel gar nichts. Mit dieser Drohung wollte er mich nur zum Schweigen bringen. Wenn er merkt, daß das nicht geklappt hat, wird er stillschweigend verschwinden. Ein Versuch konnte ja nicht schaden. Der Inspektor meinte sogar, daß er bei manchen Leuten damit Erfolg gehabt hätte.»
«Die Angst vor dem Unbekannten ist ein starker psychologischer Faktor», sagte Charles. «Wahrscheinlich ist das der Grund, warum die Mafia in einigen Ländern einen solchen Druck ausüben kann. Es wird da eine Art Kettenreaktion ausgelöst. Sobald die Drohung gewirkt hat, erzeugt sie Angst, die mit der ursprünglichen gar nichts mehr zu tun hat.»
«Könnte das hier die Mafia gewesen sein?» fragte Mary.
«Lieber Himmel, nein!» Zu spät merkte Charles, daß er zuviel gesagt hatte.
«Aber vielleicht etwas Ähnliches?»
«Nein, da will sich nur jemand einer schwerwiegenden Anklage entziehen. Wenn die Polizei den Fahrer erwischt, ist sowieso Schluß.»
«Trotzdem kann der Fahrer nicht angerufen haben», sagte Harry. «Der Wagen fuhr ja weiter. Woher hätte der Fahrer wissen sollen, daß ich den Unfall mit angesehen habe, geschweige denn meinen Namen kennen?»
«Aber wer sonst?» fragte Mary.
Alles schwieg.
«Ich glaube, wir haben jetzt genug darüber geredet», erklärte Betty energisch. «Wir brauchen alle einen kleinen Tapetenwechsel. Du darfst uns zum Dinner ausführen, Charles.»
«Aber du hast doch das Essen schon vorbereitet!»
«Nur ein kaltes Abendbrot, und das hält sich bis morgen. Wie wär’s mit Chez Anton?»
Charles wandte sich an Harry. «Vielleicht beginnst du jetzt zu verstehen, warum zwei Menschen genauso billig leben können wie einer, solange sie nicht verheiratet sind. Die wilde Ehe lohnt sich nicht nur aus steuerlichen Gründen.»
«Sei nicht so zynisch», sagte Betty. «Gib uns lieber eine Zigarette.»
Harry trank aus. Vermutlich war der Anruf bedeutungslos, und trotzdem bestand immer noch die Möglichkeit, daß die Drohung ernst gemeint war. Er ärgerte sich, und zugleich beschlich ihn ein unbehagliches Gefühl.
Auch am Montag morgen schien die Sonne, als Charles und Harry zum Frühstück herunterkamen. Betty hatte Eier, Schinken und Champignons auf die Warmhalteplatten gestellt.
Charles bediente sich. «Mußt du diese Woche nicht aufs Gericht, Harry?»
«Nur wenn Reevers mich anruft. Wir haben jetzt Sauregurkenzeit, und da kann ich mir’s bequem machen.»
Charles blätterte seine Post durch. «Anscheinend lauter Rechnungen. Montag früh sollte das gesetzlich verboten sein.»
Harry betrachtete die beiden Briefe neben seinem Gedeck. Der erste empfahl ihm, eine neue Zeitschrift zu abonnieren, die ihren Lesern endlich die reine, volle Wahrheit berichten werde. Dieses einmalige Angebot verdankte er zweifellos Walter Greenfield. Lächelnd öffnete er den zweiten Brief. Der Bogen war mit ein paar Worten beklebt, die man aus einer Zeitung ausgeschnitten hatte. «Vergessen Sie, was Sie gesehen haben, sonst passiert was.»