11

Mrs. Keighley saß mit Mary und Harry im Wohnzimmer von Grange Lodge.

«Du mußt der Sache ein Ende machen.» Marys Stimme klang schrill.

«Ich tu ja alles, was ich kann», entgegnete Harry.

«Und das wäre?» fragte Mrs. Keighley.

Er wandte sich zu ihr. «Ich bin auf der Polizei gewesen und habe den zuständigen Beamten gebeten, energisch durchzugreifen.»

«Ohne sichtbaren Erfolg.»

«Bisher jedenfalls. Leider.»

«Ich lasse es nicht zu, daß Mary einem so ungeheuerlichen Verbrechen ausgesetzt wird. Das arme Mädchen ist völlig außer sich.»

«Ich habe Mary bereits erklärt, wie verkehrt das ist. Genau das wollen sie doch bezwecken. Es ist ein reiner Nervenkrieg. Sie denken ja nicht daran, ihre Drohungen zu verwirklichen.»

«Und die Vergewaltigung?»

«Ich weiß, wie entsetzlich diese Vorstellung ist …»

«Grauenvoll. Und so etwas wollen Sie bagatellisieren!»

«Aber verstehen Sie denn nicht …»

«Stimmt es, daß die Polizei die zerschnittene Zeitung in Ihrer Mülltonne gefunden hat?»

«Ja.»

«Haben Sie sie dort versteckt?»

«Ich? Um Himmels willen, wofür halten Sie mich eigentlich? Das war ein Ablenkungsmanöver. Sie können doch unmöglich annehmen, daß ich Mary bedrohen würde …»

«Sie haben manchmal sehr eigenartige Ideen.»

«Eigenartige Ideen?» Er starrte Mrs. Keighley an. Wie tadellos gepflegt sie ist, dachte er plötzlich. Kaum eine Falte.

«Anscheinend sind Sie unfähig, sich der Realität anzupassen. Ich habe Mary schon mehr als einmal gesagt, daß Sie allmählich erwachsen werden müßten. Schlimm genug, daß sich alle Studenten heutzutage als Weltverbesserer gebärden. Aber nach dem Examen sollten sie doch eigentlich Vernunft annehmen und über diese Kindereien hinaus sein.»

«Was hat denn das alles mit den Drohungen zu tun?»

«Vielleicht halten Sie sich fälschlicherweise für besonders schlau.»

«Sind Sie etwa der Meinung, daß ich Mary den Zeitungsausschnitt geschickt habe?»

«Das wäre durchaus möglich.»

Er wandte sich an Mary. «Du weißt genau, daß ich’s nicht war. Bitte, sag deiner Mutter, daß ich dich um keinen Preis ängstigen würde.»

Sie saß auf dem Sofa und spielte mit den Quasten eines Kissens, das mit kostbarem italienischen Brokat bezogen war, und gab keine Antwort.

«Oder glaubst du, daß ich dazu fähig wäre?» fragte er schroff.

«Wo warst du gestern nachmittag, als du mich nicht zu den Abbotts begleiten wolltest?»

«Bei der Polizei.»

«Allein? Oder in Begleitung?»

Es war völlig klar, was geschehen war. «Penny Farrow war dabei. Ich hatte sie gebeten, mir zu helfen, und das tat sie auch. Sie hat dem Inspektor geschildert, wie mich der Anruf vom letzten Sonnabend erschreckt hat.»

«Und was war nachher?»

«Nachher fuhren wir zum Baden. Ich brauchte dringend einen Tapetenwechsel, Mary. Ich hab Penny nur aufgesucht, weil ich dir helfen wollte.»

Mrs. Keighley lächelte süffisant.

«Wußtest du, als du mir gestern nachmittag absagtest, daß du dich mit Penn treffen würdest?» fragte Mary scharf.

Er seufzte. «Könnten wir uns nicht ein andermal darüber unterhalten?»

Mrs. Keighley erhob sich. «Anscheinend störe ich», sagte sie spitz und verließ das Zimmer.

«Ich habe nicht mit Penny geschlafen, wenn dich das beruhigt», sagte er.

«Sei nicht so geschmacklos. Du hast mich belogen. Warum hast du mir nicht erzählt, daß du mit Penelope verabredet warst? Ich hätte nichts dagegen gehabt.»

«Was hättest du denn dagegen haben sollen?»

«Du weißt genau, was ich meine.» Ihre Stimme veränderte sich plötzlich. «Ich habe schreckliche Angst, Harry. Der Zeitungsausschnitt war einfach grauenhaft. Überall verfolgt mich der Gedanke, daß mich jemand überfällt, mir die Kleider herunterreißt und … und …» Sie zitterte. «Es ist entsetzlich. Du hast keine Ahnung, wie entsetzlich das ist.»

«Das kann ich mir durchaus vorstellen», erwiderte er ruhig.

«Wirklich?»

«Aber natürlich.»

«Dann hilf mir bitte, Liebling. Tu, was sie von dir wollen.»

Er wollte aufbrausen, aber er beherrschte sich. «Du mußt doch einsehen, daß wir sie nicht ungestraft davonkommen lassen dürfen.»

«Also gut! Was ist wichtiger: deine Grundsätze oder ich? Bitte eine klare Antwort. Wahrscheinlich ist es dir gleichgültig, ob ich von einem Dutzend Männern vergewaltigt werde, solange nicht an deinen geheiligten Grundsätzen gerüttelt wird.»

«Du siehst das ganz falsch», sagte er müde.

«Ach nein? Schließlich soll ich vergewaltigt werden, nicht du!»

«Es wird überhaupt niemand vergewaltigt.»

«Kannst du mir dafür garantieren? Natürlich nicht. Es interessiert dich auch gar nicht, das ist es. Von dir aus hätte ich gestern nachmittag ununterbrochen vergewaltigt werden können. Du hast dich lieber mit Penny Farrow getroffen. Kunststück – bei der braucht kein Mann Gewalt anzuwenden, die sagt von vornherein ja.»

Er zuckte die Achseln. In dieser Verfassung war es sinnlos, ihr etwas erklären zu wollen. Vielleicht später …

 

Am Mittwoch nachmittag schrieb Wraight seinen Wochenbericht für den Superintendent. Dann fuhr er zum Count Headquarters.

Superintendent Catterick teilte sein Büro mit einem Chefinspektor, der sich verziehen mußte, wenn Catterick seine wöchentlichen Besprechungen mit den Inspektoren abhielt.

«Tag, Bob», sagte Catterick. «Setzen Sie sich. Ich habe Ihren Bericht über den Einbruch beim Bürgermeister gelesen; scheint nicht recht vorwärtszugehen.»

«Das ist eine ziemlich harte Nuß, Sir. Der Kerl war ein Fachmann.»

«Wenn eine unserer Lokalgrößen beklaut wird, muß die Polizei eben noch fachmännischer sein. Raus mit der Sprache: habt ihr überhaupt schon was erreicht?»

«Wir machen Fortschritte, Sir.»

«In welcher Richtung?»

«Sie wissen ja, wie langsam so eine Sache in Fahrt kommt, Sir.»

«Ich weiß aber auch, wie schnell bestimmte Leute in Fahrt kommen werden, wenn Sie nicht bald mit Ergebnissen aufwarten. Ihr Bürgermeister ist ein Großmaul und benutzt seine Lokalzeitungen gern als Lautsprecher.»

«Wir können schließlich nicht hexen.»

«Solltet ihr aber lernen, verdammt noch mal! Wie steht’s bis jetzt? Fingerabdrücke? Fußspuren? Ist schon was von dem Diebesgut auf dem Hehlermarkt aufgetaucht?»

«Lauter Fehlanzeigen. Das hat uns alles nicht weitergeführt.»

«Sie sind schuld daran, Bob, wenn ich wieder Magengeschwüre kriege! Sie bringen mich noch ins Grab. Unternehmen Sie gefälligst was wegen dem Bürgermeister, verstanden?»

«Mir wäre wesentlich wohler, wenn Sie mir genau sagen würden, was.»

«Ihnen soll gar nicht wohl sein. Wissen Sie was? In den letzten sechs Monaten haben meine acht Kriminalinspektoren nicht ein einziges Kapitalverbrechen aufgeklärt. Wir stehen an letzter Stelle in der Kriminalstatistik.»

«Und hinter uns kommen noch hundertzwanzig.»

Catterick lehnte sich zurück. «Sie sind ein verdammter alter Halunke, Bob.»

«Ich fühle mich eigentlich ganz munter, Sir.»

«Das ist es ja eben. Klären Sie den Einbruch beim Bürgermeister auf, okay? Geben Sie ihm meinetwegen Dringlichkeitsstufe eins, oder wie immer das heißt. So – und wie steht’s mit den übrigen Fällen?»

«Hier ist die Liste, Sir.»

Catterick überflog sie. «Nichts Neues wegen der Ertrunkenen?»

«Zumindest kein Gegenbeweis gegen die Unfalltheorie.»

«Der Ehemann ist der einzige, der die Wahrheit kennt, was?» Plötzlich wurde er lebhaft. «Was zum Teufel ist denn das? Behinderung der Polizei mit einem Fragezeichen dahinter?»

«Ein merkwürdiger Fall, Sir. Sieht so aus, als versuchte der Knabe, die Polizei zum Narren zu halten. Und trotzdem …»

«Na?»

«Würden Sie Ihre Braut halb zu Tode ängstigen?»

«Hängt davon ab, wie häßlich sie ist, und ob man eine andere in Reserve hat.»

«Sie sind ein Zyniker.»

«Nein, nur ein Menschenkenner, und das kommt auf das gleiche hinaus. Schießen Sie mal los.» Er hörte sich Wraights Bericht aufmerksam an. «Aha, also einer von den Superschlauen mit langen Haaren und schmutzigen Fingernägeln, die gegen alles demonstrieren, was ihnen nicht in den Kram paßt? Die für jedes Verbrechen eine feinsinnige Erklärung finden – Kindheitstrauma und so? Und wie beliebt er das mit der Zeitung zu erklären? Ist die etwa von allein in die Mülltonne spaziert?»

«Sie könnte ja absichtlich hineinpraktiziert worden sein.»

«Vom Weihnachtsmann etwa? Ihr habt Simon überprüft und nichts herausgefunden. Er hat noch nie gesessen und noch nie was mit der Polizei zu tun gehabt. Ein Duckmäuser wie der bedroht doch nicht andere Leute, der kriecht ihnen höchstens in den Hintern.»

«Das alles habe ich mir x-mal gesagt, trotzdem bleibt die Frage: würde er seine eigene Braut in Schrecken versetzen?»

«Und ich bleibe bei meiner Frage: Gibt es eine andere Frau?»

«Ja. Ich kenne sie. Aber …»

«Hübsch?»

«Exotischer Typ, sehr sexy.»

«Dann seien Sie doch nicht so naiv. Legen Sie diesen Brissom aufs Kreuz und sperren Sie ihn ein, damit endlich Ruhe ist. Und dann machen Sie den Kerl dingfest, der dem Bürgermeister seine Manschettenknöpfe geklaut hat. Nichts wichtiger als das.»

«Kommt ganz auf den Gesichtspunkt an.»

«Sie werden sich meinen Gesichtspunkt aneignen, sonst kriegen Sie noch ein größeres Magengeschwür als ich. Sie sind ein Halunke, Bob, ein gemeiner, widerborstiger Kerl. Wenn ich Sie nicht so gern hätte, wären Sie schon längst geflogen. Meine Güte, was für ein Hundeleben! Entweder Verstopfung oder Blähungen. Der alte Masters hat deswegen Selbstmord begangen.»

«Das würde wenigstens Platz schaffen.»

«Was?»

«Ihr Selbstmord. Dann könnte nämlich jemand aufrücken.»

Cattericks Antwort ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig.

 

Am Donnerstag schlug das Wetter um. Es war bedeckt, kühl und windig.

Harry und Mary aßen im Ben Cotto, einem italienischen Restaurant mit griechischen Kellnern und einem zyprischen Besitzer. Danach schlenderten sie langsam die Charles Street entlang und blieben vor einem Geschäft stehen, das sich auf Haushaltswaren aus rostfreiem Stahl spezialisiert hatte.

«Wie gefällt dir das Kaffeeservice da drüben in der Ecke?» fragte Mary.

«Nicht übel.»

«Das klingt aber nicht sehr begeistert, Liebling.»

«Eigentlich wollte Mutter uns ihr Silberservice geben, weil sie es so selten benutzt.»

«Das ist doch viel zu schade für den täglichen Gebrauch. Ach, Harry, freust du dich auch so auf unseren ersten Besuch? Dann fühle ich mich erst richtig verheiratet.»

«Das wird hoffentlich schon etwas früher der Fall sein.»

«Behalten Sie solche Gedanken bitte für sich, Mr. Brissom.»

Plötzlich zeigte sie auf die Mitte des Schaufensters. «Sieh mal die beiden Leuchter! Nach so was suche ich seit Jahren.»

«Im Ernst?»

«Findest du sie nicht auch bildhübsch? Gerade weil sie so zierlich sind, gefallen sie mir viel besser.»

«Sollen wir sie uns selber schenken?»

«Wirklich? Du bist ein Schatz! Und dabei habe ich mich so ekelhaft benommen.»

«Betrachten wir’s als Versöhnungsgeschenk.»

«Dann müßte ich sie ja kaufen, nicht du.»

«Ich habe mir sagen lassen, daß nach der Hochzeit immer der Mann bezahlt, sogar für die Abbitte seiner Frau.»

Sie lachte. «Manchmal bist du genauso zynisch wie dein Vater, Harry. Wenn wir erst verheiratet sind, mußt du für jede solche Bemerkung eine Geldstrafe zahlen, und ich kaufe mir dafür einen Nerzmantel.»

«Da kann ich mich auf was gefaßt machen.»

Sie drückte liebevoll seinen Arm. «Danke, daß du mir nichts nachträgst. Es tut mir leid, daß ich so schreckliche Sachen gesagt habe, aber ich hatte solche Angst.»

«Schon gut, Liebling.»

Nachdem sie die Leuchter gekauft hatten, gingen sie weiter bis zu einem Zebrastreifen, wo in Stoßzeiten ein Schutzmann den Verkehr regelte. Er ließ den Wagenstrom passieren, und bald warteten über zwanzig Fußgänger, die die Straße überqueren wollten. Mary stand an der Bordsteinkante. Etwas stieß sie in den Rücken, und sie drehte sich gereizt um. Ein Mann in einem offenen, schmutzigen Hemd lächelte ihr zu, machte aber keine Anstalten, das Paket etwas geschickter zu halten. Sie trat nach links, um weitere Karambolagen zu vermeiden. Jemand rief dem Verkehrspolizisten zu, er solle endlich mal die Fußgänger rüberlassen. Ein erstaunter Blick traf die vielen Passanten, und dann stoppte der Schutzmann den Gegenverkehr.

Die Menge drängte ungeduldig nach vorn. Plötzlich brüllte jemand: «Achtung!» Von rechts steuerte ein schwerbeladener Lastwagen auf sie zu, der nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte. In diesem Augenblick erhielt Mary einen heftigen Stoß in den Rücken. Sie stolperte auf die Fahrbahn, stürzte jedoch nicht hin. Bremsen kreischten. Voller Entsetzen sah sie den Lastwagen vor sich aufragen. Sie wollte schreien, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt. Im Bruchteil einer Sekunde, als die Zeit stillzustehen schien, überfiel sie die lähmende Gewißheit: Das war das Ende … der Lastwagen würde sie zermalmen …

Und dann wurde sie zurückgerissen. Der Lastwagen schlingerte vorbei.