15
Harry parkte das Auto und eilte zu Penelopes Haustür. Sie öffnete sofort.
«Ich habe deinen Wagen gehört», sagte sie.
«Ist wieder was passiert?»
«Nein, nichts. Komm ins Wohnzimmer. Mutter ist mit Sandra in den Park gegangen.»
«Ich war auf der Polizei und habe alles berichtet, Penny. Ich hoffe nur, daß du … Ich bringe sie um, diese Schweine!»
Sie legte ihm die Hand auf den Arm. «Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen, Harry. Natürlich hat Mutter sich furchtbar aufgeregt, aber inzwischen hat sie sich wieder gefangen.»
«Ich mache mir Sorgen um dich.»
Sie schüttelte den Kopf. «Als ich davon erfuhr, wurde mir zuerst ziemlich mulmig, und dann fand ich das Ganze eher kindisch. Komm herein. Ich habe leichtsinnigerweise eine Flasche Gin und Tonic gekauft. Das magst du doch, oder?»
Sie gingen ins Wohnzimmer, wo Penelope einige Spielsachen auflas, die auf dem Fußboden herumlagen.
«Aber wie sind sie überhaupt auf dich gekommen?» fragte Harry.
«Wahrscheinlich haben sie uns zusammen gesehen und sind mir bis hierher gefolgt. Das ist viel unheimlicher als der ganze Unsinn mit dem Leichenbestatter, trotzdem …»
«Es tut mir so leid!»
«Daß sie jetzt auch mich bedrohen? Darüber brauchst du dir wirklich keine grauen Haare wachsen zu lassen, Harry. Wenn sie damit ihre Zeit verschwenden wollen, meinetwegen. Drohungen haben bisher noch niemand geschadet.»
«Doch, Mary zum Beispiel.»
Sie zögerte. «Ich meine körperlich geschadet», sagte sie dann und sah ihn an. «Ich möchte bestimmt nicht gehässig sein, Harry, aber Mary und ich sind grundverschieden. Sie führt ein völlig anderes Leben als ich und hat nie kämpfen müssen, während ich mich lange Zeit ständig meiner Haut wehren mußte. Dadurch werde ich mit solchen Dingen auch besser fertig.»
«Findest du, daß ich weitermachen soll?»
«Sähe es mir etwa ähnlich, meine Meinung zu ändern, nur weil sie auf den kindischen Gedanken kommen und mir einen Leichenbestatter ins Haus schicken? Da müssen sie sich schon was Besseres einfallen lassen!»
«Ich bin überzeugt davon, daß sie niemals gewalttätig werden.»
«Natürlich nicht, Harry, du mußt um jeden Preis weiterkämpfen! Nicht nur um der Gerechtigkeit willen, obwohl das wahrhaftig schon wichtig genug ist, sondern um deinetwillen. Du würdest einen großen Teil deiner Persönlichkeit verlieren, wenn du aufgibst.»
«Weil dadurch mein Stolz verletzt würde? Das denkt nämlich meine Mutter.»
«Stolz hat damit überhaupt nichts zu tun, und deine Mutter meint das auch bestimmt nicht ernst. Du hast einen sehr ausgeprägten Sinn für gewisse Werte. Sobald du einen dieser Wertmaßstäbe aufgibst, würdest du das als Verrat empfinden und dich selber dafür hassen. Das meine ich.»
«Merkwürdig, wie gut du mich kennst. Mary konnte das nie begreifen.»
Sie lächelte. «Darauf erwartest du doch hoffentlich keine Antwort von mir?» Sie wies auf die Ginflasche, die auf einem kleinen Tischchen stand. «Machst du uns was zu trinken?»
«Wie wünschen Gnädigste den Drink? Wenig Gin und viel Tonic?»
«Nicht zu schwach, bitte. Heute abend muß ich ja nicht fahren.»
Er grinste. «Du spekulierst also auf meine Charakterstärke in puncto Alkoholkonsum?»
Sie konterte in ihrer offenen Art: «Soll das eine indirekte Einladung zum Ausgehen sein?»
«Ja.»
«Tut mir leid, Harry, aber ich kann nicht.»
«Warum?»
«Ich muß das Haus hüten. Mutter ist bei einer alten Freundin, und ich kann Sandra nicht allein lassen. Außerdem sehe ich Sandra ja die ganze Woche tagsüber nicht. Da möchte ich wenigstens abends was von ihr haben, bevor sie schlafen geht.»
«Hättest du was dagegen, wenn ich hier bleibe?»
«Darauf habe ich gehofft. Bist du mit ordinären Würstchen zufrieden?»
Er lachte. «Gib mir ein paar ordentliche Gins, und ich esse alles.»
Die Voruntersuchung fand am Dienstag statt. Harry wartete angespannt, nervös und etwas ängstlich vor dem Gerichtssaal. Er war fest entschlossen, die Wahrheit zu sagen, konnte aber trotzdem nicht umhin, in jedem harmlosen Passanten den großen Unbekannten zu wittern. War er ihm bis hierher gefolgt, um seine Aussage zu hören und festzustellen, ob er Simon identifizierte? Und würde er danach seine Drohungen in die Tat umsetzen?
Anfangs war alles noch ganz einfach gewesen, doch allmählich zerrte die ständige Wiederholung an seinen Nerven, und er überlegte sich, ob er einen Rückzieher machen sollte. Er brauchte ja nur zu erklären, daß er Simon nicht mit Bestimmtheit identifizieren könne. Der Fall ging ihn wirklich nicht unmittelbar an. Wozu sollte er also seinen Kopf hinhalten? Vielleicht handelte er doch aus Stolz und nicht aus Gerechtigkeitsliebe, über die er so gern und so viel redete?
Wenn er im Zeugenstand die Wahrheit sagen würde, hätte das für Penelope womöglich furchtbare Folgen. Was berechtigte ihn dazu, sie dieser Gefahr auszusetzen? Wie wollte er es je verantworten, wenn ihr, der völlig unschuldigen Außenstehenden, etwas passierte? Anders als Mary hatte sie ihn zwar darin bestärkt, weiterzukämpfen, aber war sie sich der Gefahr bewußt, die sie dabei lief?
«Mr. Harry Brissom!» rief ein uniformierter Polizist.
Harry stand auf und ging an dem Polizisten vorbei in den Saal. Vom Zeugenstand aus betrachtete er die Zuschauer. Der Mann in der zweiten Reihe wirkte wie ein richtiger Schlägertyp, und der in der letzten, mit dem hageren, brutalen Gesicht, war bestimmt zu allem fähig.
Er riß sich zusammen und legte den Eid ab. Als er mit seiner Aussage begann, sah er Penelope vor sich, ein blutüberströmtes, lebloses Bündel. Zu einem Mord gehörte nicht viel – natürlich würden sie nicht so weit gehen, aber eine Vergewaltigung war schon entsetzlich genug …
Der Anklagevertreter unterbrach das Verhör. «Fehlt Ihnen etwas, Mr. Brissom?»
«Es ist nur die Hitze», murmelte er, zog ein Taschentuch heraus und wischte sich die Stirn.
«Möchten Sie sich ein bißchen ausruhen?» fragte die Vorsitzende, eine ungewöhnlich häßliche Frau.
«Danke, es geht schon wieder», antwortete er.
Der Anklagevertreter fuhr in seinem Verhör for. «Haben Sie den Fahrer des Hillman gesehen?»
«Ja.»
«Bestand ein besonderer Grund dafür, daß Ihre Aufmerksamkeit auf diesen Wagen gelenkt wurde?»
«Ich stand links neben meinem Triumph und sah den Hillman im Zickzackkurs direkt auf mich zurasen. Ich versuchte zurückzuspringen, stieß aber mit der Hüfte gegen den Kotflügel meines Wagens. Im letzten Moment steuerte der Hillman an mir vorbei, und da konnte ich einen kurzen Blick auf den Fahrer werfen.»
«Wie weit war der Hillman von Ihnen entfernt?»
«Die Motorhaube befand sich etwa auf gleicher Höhe mit mir, und der linke Kotflügel war rund einen Meter entfernt.»
«Nahmen Sie später an einer Identitätsparade im Northern Division Headquarters teil?»
«Ja.»
«Haben Sie dabei jemand identifiziert?»
«Ich erkannte den Fahrer des Unfallwagens wieder.»
«Haben Sie den Mann seitdem gesehen?»
«Ja, heute. Es handelt sich um den Angeklagten.»
«Sie identifizieren also den Angeklagten Andrew Simon als den Fahrer des roten Hillman, der am Sonnabend, dem achten Juli, den tödlichen Unfall in der Clairmont Road verursachte?»
«Ja.»
Am Mittwoch wurde in den Fernsehstudios die erste Folge einer neuen Spionageserie abgedreht. Vom Morgen an ging alles schief: ein paar Szenen mußten umgeschrieben werden, eine Kamera fiel aus und konnte erst nach langem Hin und Her ersetzt werden. Und schließlich waren die Schauspieler durch die ständigen Unterbrechungen so nervös geworden, daß bei den letzten Proben überhaupt nichts mehr klappte. Kaum hatte sie der Regisseur Martins halbwegs besänftigt, da mischte sich der Leiter der Serienprogramme ein und verursachte abermals eine Verzögerung.
Um neun Uhr abends konnten sie endlich mit der Aufzeichnung beginnen und waren kurz vor elf fertig. Um Viertel nach elf verabschiedete Penelope sich von Martins, der Whisky aus der Flasche trank und über den Leiter der Serienprogramme lästerte. Sie erwischte gerade noch den letzten Bus nach Tresserley und döste für ein paar Minuten ein. Als er an einer Verkehrsampel scharf bremste, schreckte sie wieder hoch.
Sie sah auf die hellerleuchteten Schaufenster, dachte seufzend an all die Dinge, die sie dringend brauchte und für die das Geld nie reichte. Wenn ihre Eltern doch nur ein bißchen besser gewirtschaftet hätten … Sicher, sie hatten viel mehr vom Leben gehabt als die meisten anderen Menschen. Aber ihre Mutter war mittellos zurückgeblieben – eine verbitterte, einsame, mißgünstige alte Frau mit zahllosen eingebildeten Krankheiten.
Menschen mit genügend Geld wußten überhaupt nicht, wie anders die Welt der Armen aussah. Harry und seine Familie zum Beispiel. Manchmal erinnerte Harry sie an Richard. Ob Harry wohl vor drei Jahren anders gehandelt und sie geheiratet hätte? Doch, davon war sie überzeugt. Er war eine Kämpfernatur, im Gegensatz zu Richard.
Der Bus hielt. «Okay?» fragte der Schaffner. Sie stand hastig auf. «Vielen Dank. Ich wäre doch tatsächlich weitergefahren.»
«Viel Betrieb im Studio?»
«Kann man wohl sagen. Eine Panne nach der anderen.»
«Trotzdem macht’s sicher mehr Spaß als Fahrscheine abreißen.»
Sie verabschiedete sich freundlich und stieg aus. Von der Haltestelle bis zu ihrem Haus waren es achthundert Meter. Die Hälfte des Weges konnte sie abschneiden, wenn sie am Ende der Straße den Durchgang benutzte. Tagsüber spielten hier Kinder, nachts wurde er nur von einer Straßenlaterne am entgegengesetzten Ende beleuchtet.
Nach etwa hundert Metern hörte sie hinter sich Schritte. So spät trifft man hier selten jemand, dachte sie zuerst nur. Doch dann wurden die Schritte immer schneller, und sie bekam Angst. Hinter ihr ging ein Mann und versuchte sie einzuholen.
Sie hastete weiter. Sie mußte den finsteren Durchgang schleunigst hinter sich bringen. Sobald sie im Hellen war, konnte ihr nichts mehr passieren. Gleichzeitig schalt sie sich kindisch, weil sie wegen eines harmlosen Passanten so in Panik geriet. Trotzdem wuchs ihre Unruhe. War er näher gekommen?
Jetzt lief er noch schneller … Sie fuhr herum. Schemenhaft erkannte sie einen hochgewachsenen Mann in Hut und Regenmantel, dessen Gesicht durch eine Art Maske verdeckt war.
Sie begann zu rennen, wäre wegen ihrer hohen Absätze beinahe hingefallen, fing sich wieder, lief weiter und war nur noch einen Meter vom Ende des Durchganges entfernt, als sie plötzlich am Mantel gepackt und herumgerissen wurde. Dabei taumelte sie und stürzte. Der Aufprall war so heftig, daß sie sich vor Schmerzen krümmte. Sie wollte schreien, doch zwei Hände umspannten ihre Kehle und drückten fest zu, so daß sie keine Luft mehr bekam. Im Schein der Straßenlaterne erkannte sie, daß der Mann einen Nylonstrumpf über das Gesicht gezogen hatte.
Eine Schrecksekunde lang war sie wie gelähmt und unfähig zu denken; dann zwang sie sich zur Vernunft. Ihr Hals und ihre Lungen schmerzten, und in ihren Ohren dröhnte es immer mehr. Wenn sie nicht ohnmächtig werden wollte, mußte sie sich sofort von diesem Würgegriff befreien.
Sie packte die beiden Hände, die daraufhin noch stärker zudrückten, bis der Schmerz unerträglich wurde. Plötzlich riß sie ihre Hände weg und boxte ihn in den Unterleib. Der Mann schrie auf und lockerte den Griff. Sie schlug noch einmal zu; er stöhnte auf und sackte zusammen.
Sie stürzte aus dem Durchgang und die Straße entlang bis zu Nummer 93, dessen Bewohner Telefon hatte. Sie hämmerte an die Tür, bis der Hausherr im Schlafanzug und zerschlissenen Morgenrock öffnete.
«Was ist denn los, Penny?»
«Ich bin überfallen worden … in der Rob’s Lane.»
Er rief seine Frau und bat sie, sich um Penelope zu kümmern.
Dann ging er zum Telefon und rief die Polizei an.