5
Der uniformierte Polizist sprach mit dem Fahrer des Streifenwagens, drängte sich durch die Schar der Neugierigen und ging zu Harrys Wagen. «Entschuldigen Sie, Sir, daß ich Sie so lange warten ließ. Könnten Sie mir jetzt bitte den Vorfall schildern?»
«Wollen Sie sich zu mir setzen?»
«Gern.» Der Polizist stieg ein und zog ein Notizbuch aus der Tasche.
Harry starrte durch die Windschutzscheibe auf den Betonsockel der Laterne. Zwei Polizisten und ein Arzt standen oder knieten neben der Frau, die bis zum Kinn zugedeckt worden war. Ein Polizeifotograf wartete in der Nähe. Die schaulustige Menge wurde zurückgedrängt. «Wissen Sie, wie’s der Frau geht?» erkundigte sich Harry.
«Es wurde zwar offiziell noch nicht bestätigt, aber ich fürchte, daß sie tot ist. Sie hat eine häßliche Kopfwunde abgekriegt.»
«Der Wagen … er hat sie mit aller Wucht angefahren.»
Der Polizist musterte Harry prüfend. «So was ist schlimm, Sir. An Ihrer Stelle würde ich so bald wie möglich was trinken, das beruhigt.»
Harry überlief ein Schauer. Das Ganze war in Sekundenschnelle passiert, trotzdem hatte es sich ihm so stark ins Gedächtnis geprägt, als sei es im Zeitlupentempo abgelaufen. Er zündete sich eine neue Zigarette an.
«Berichten Sie einfach, was Sie gesehen haben, Mr. Brissom, aber lassen Sie sich Zeit.»
Harry schilderte den Vorfall.
Der Polizist notierte seine Aussagen und begann dann Fragen zu stellen. «Der Wagen kurvte also über die Straße, bevor er die Frau anfuhr?»
«Ja, im Zickzackkurs. Ich erinnere mich noch, daß ich dachte, der Fahrer müßte entweder betrunken sein oder krank.»
«Sie haben das Gesicht des Fahrers flüchtig gesehen?»
«Ja.»
«Könnten Sie ihn etwas genauer beschreiben?»
«Das Dumme ist, daß ich ihn nur ganz kurz gesehen habe und daß es im Wagen ziemlich dunkel war, aber …» Er stockte.
«Aber was?»
«Wiedererkennen würde ich ihn bestimmt. Wenn ich ihn allerdings beschreiben soll … Er hatte ein rundes Gesicht.»
«Alt oder jung?»
«Spätes Mittelalter, würde ich sagen. Ein fleischiges Gesicht, der Typ, bei dem ich immer denken muß, daß er eine Menge ißt und trinkt und zu hohen Blutdruck hat.»
«Glatze?»
«Nein, er hatte dichtes Haar, aber ich habe keine Ahnung von der Farbe.»
«Brille?»
«Nein.»
«Glatt rasiert?»
«Ja.»
«Kragen und Krawatte?»
«Ja.»
«Spitze Ohren oder sonstige Mißbildungen?»
«Davon habe ich nichts bemerkt.»
«Irgendwelche besonderen Kennzeichen?»
«Nein … Warten Sie mal – da war etwas über dem Nasenrücken, etwas Weißes. Vielleicht ein Heftpflaster.»
«Und der Beifahrer? Sie sahen ihn nur einen Augenblick im Profil, oder?»
«Ja.»
«Können Sie ihn beschreiben?»
«Eigentlich nicht. Schwarzes, lockiges Haar, aber sonst …»
«Und jetzt zum Wagen. Sie sagen also, es war ein Hillman, und zwar ein altes Modell. Wie war der Kühler vorn?»
«Der große, ovale mit dem Chromgitter.»
«Die ganze Nummer konnten Sie nicht entziffern?»
«Ich Idiot habe erst im letzten Moment daran gedacht. Ich war so durcheinander …» Er zuckte die Achseln.
«Erklärlich, Sir.» Der Polizist nickte mitfühlend. «Aber einen Teil haben Sie erkannt?»
«Ja, die erste Zahl war eine Fünf und die letzte wohl auch. Dann kam ein P, und der letzte Buchstabe war meiner Meinung nach ein M.»
«Die Zahlen kamen also zuerst?»
«Ja.»
Der Polizist überflog seine Notizen. «Vielen Dank für Ihre Hilfe, Sir. Nur noch eins: könnten Sie mir bitte Ihre Adresse angeben?»
«Orton Rise, Vicarage Lane, Harrington. Unter der Woche bin ich in London zu erreichen: Fairview Mansions, Spearpoint Road, Chelsea.»
«Ich lese Ihnen Ihre Aussage eben vor, und Sie unterschreiben dann bitte.»
Kurz darauf stieg der Polizist aus. Harry beobachtete durch die Windschutzscheibe, wie die Frau auf eine Tragbahre gelegt wurde. Ihr Gesicht war jetzt ebenfalls zugedeckt. Sie schoben sie in den Krankenwagen, der sofort losfuhr.
Er drückte seine Zigarette aus und ließ den Motor an. Zufällig warf er einen Blick auf den Bürgersteig und entdeckte einen Mann, der ihn mit einem merkwürdig intensiven Ausdruck anstarrte. Einen hochgewachsenen Mann mit überraschend jungenhaftem Gesicht. Als er merkte, daß Harry ihn beobachtete, drehte er sich um und ging davon. Harry vergaß ihn sofort.
Er schaute, ob die Straße frei war, und bog dann auf die Fahrbahn ein. Als er an dem Betonsockel vorbeikam, umklammerte er das Steuerrad so fest, daß er kaum noch lenken konnte. Er zwang sich dazu, sich zu entspannen.
Die Fahrt nach Grange Lodge dauerte knapp fünf Minuten. Er parkte seinen Wagen hinter Mrs. Keighleys Rapier, stieg aus und war schon auf halbem Weg zur Haustür, als er sich plötzlich an die Orchideen und die Pralinen erinnerte. Er kehrte um und holte sie. Als er wieder auf das Haus zuging, sah er, daß Mary bereits in der offenen Tür wartete.
«Was ist denn passiert, Harry?» fragte sie. «Du bist furchtbar spät dran. Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Ich habe überall herumtelefoniert, aber keiner wußte was.»
Er schaute auf die Uhr und stellte überrascht fest, daß es schon Viertel vor zwei war.
«Was ist passiert?» wiederholte sie.
«Ein Unfall. Direkt vor mir wurde eine Frau überfahren.» Er küßte sie auf die Wange. «Die Frau ist tot.»
«Wie schrecklich.» Mary wandte sich um und warf einen Blick auf die altmodische Uhr in der Diele. «Mutter ist ziemlich verärgert, Harry.»
«Warum denn?»
«Warum? Natürlich weil du zu spät gekommen bist. Ich habe sie gebeten, mit dem Essen anzufangen, aber sie wollte unbedingt warten. Du weißt ja, wie sehr sie Unpünktlichkeit haßt.»
«Ich schon, aber die tote Frau wußte es nicht.»
Mary preßte die Lippen zusammen. «Bitte, sag das nicht zu ihr, Harry.»
«Ich werde schweigen wie ein Grab. Übrigens habe ich ihr ihre Lieblingspralinen mitgebracht. Vielleicht besänftigt sie das.»
Mary gab keine Antwort. Sie trug ein buntbedrucktes Sommerkleid, das gut zu ihrer zierlichen Figur paßte, und eine dreireihige, kostbare Perlenkette, die sie von ihrer Großmutter geerbt hatte.
Sie gingen durch die Diele ins Wohnzimmer. Mrs. Keighley saß in einem der beiden mit Seidenbrokat bezogenen Sessel. Man sah ihr an, daß sie es sich leisten konnte, Zeit und Geld auf ihr Äußeres zu verwenden. «Sie sind spät dran, Harry», sagte sie in jenem höflich-kühlen Ton, der deutlich ihren Ärger bewies.
«Es tut mir sehr leid, aber ich wurde in einen Unfall verwickelt. Eine Frau wurde überfahren und starb.»
«Sie hatten doch nichts damit zu tun, hoffe ich?»
«Nicht direkt, aber ich war einer der wenigen Augenzeugen und mußte deshalb warten, bis die Polizei mich vernehmen konnte.»
«Nun, es wäre nett gewesen, wenn Sie uns telefonisch verständigt hätten, damit wir uns mit dem Essen einrichten.»
Er entschuldigte sich und überreichte ihr die Pralinen. Mrs. Keighley nahm die Schachtel huldvoll entgegen. Dann gingen sie in das Speisezimmer. Das spanische Dienstmädchen, das seit neun Monaten bei Mrs. Keighley arbeitete, servierte kaltes Huhn, grünen Salat und Kartoffelsalat. Harry fragte sich, was seine Verspätung daran wohl hätte verderben können.
Mary bemühte sich, die Atmosphäre aufzulockern. «Hast du Walter oder jemand von den anderen bei der Demonstration gesehen, Harry?»
«Ich hab ein paar Worte mit ihnen gesprochen.»
«Und wie verlief das Ganze?»
«Wie immer, wenn Walter dabei ist. Es sah aus, als wollten ein paar Studenten ein bißchen Krawall machen.»
«Das dürfte auch den Tatsachen entsprechen», sagte Mrs. Keighley säuerlich.
«Es sollte aber ganz anders werden. Walters Pech war, daß die meisten nicht kamen. Und die paar, die dann doch erschienen, wollten viel lieber schwimmen als demonstrieren.»
«Ich finde dieses Benehmen einfach unmöglich», erklärte Mrs. Keighley.
«Auch wenn die beiden Polizisten ein Geständnis aus Smith herausgeprügelt haben?»
«So etwas tun Polizisten nicht. Man wird sie freisprechen.»
«Ist bereits geschehen.»
«Dann können nicht einmal Sie mit Ihren eigenartigen Ideen noch darüber argumentieren, Harry.»
Für sie und ihresgleichen ist es eben undenkbar, daß Polizisten Untersuchungshäftlinge verprügeln, dachte Harry. Und Geschworene sind natürlich unfehlbar. Plötzlich erhielt er einen kräftigen Stoß ans Schienbein. Er sah Mary an. Sie schüttelte den Kopf, um ihm zu sagen, daß er die Diskussion fallenlassen sollte.
Nach einer Weile besänftigte sich Mrs. Keighley so weit, daß sie die Pläne für die Hochzeitsreise mit ihnen erörterte.
Kriminalinspektor Wraight war ein hochgewachsener Mann mit einem traurigen Gesicht, das trotz der vielen Enttäuschungen, die Wraight erlebt hatte, seinem Charakter nicht entsprach. Als er zur Polizei ging, hatte er geheiratet und seiner Frau versprochen, es bis zum Superintendent oder noch weiter zu bringen. Er avancierte zum Kriminalinspektor und übernahm einen Mordfall, der durch die ganze Inlandspresse ging, aber nie aufgeklärt wurde, woran er allerdings unschuldig war. Als dann acht Kriminalinspektoren auf ihre Beförderung warteten, während nur drei Chefinspektorenposten vakant waren, gab dieser Mißerfolg den Ausschlag. Natürlich hätte er sich in eine andere Abteilung versetzen lassen und damit seine Chancen verbessern können, aber da starb seine Frau an Krebs, und er verlor allen Ehrgeiz.
Er saß hinter seinem Schreibtisch im Büro der Northern Division, die Krawatte gelockert und das Hemd aufgeknöpft. Sein Jackett hing über der Stuhllehne.
Die Tür ging auf, und Sergeant Ackers trat ein. «Ein tödlicher Verkehrsunfall, Sir.»
«Schon wieder? Wo denn?»
«Clairmont Road. Der Fahrer ist geflüchtet. Ein Augenzeuge berichtet, daß der Wagen die Straße im Slalom entlangfuhr, als ob der Fahrer betrunken oder krank war.»
«Wann war das?»
«Gegen zwölf Uhr fünfunddreißig.»
«Aha, also war Zeit für einen Kneipenbesuch. Hat sich jemand die Nummer gemerkt?»
«Nein, die alte Geschichte. Die Leute waren durch den Unfall so erschrocken, daß sie zu spät an die Nummer dachten. Der Hauptaugenzeuge behauptet, daß es ein Hillman war mit einem Nummernschild aus drei Zahlen und drei Buchstaben. Die erste Zahl war eine fünf, die dritte wahrscheinlich auch. Der erste Buchstabe ein P und der letzte vermutlich ein M.»
«Das gibt ein feines Puzzlespiel.»
«Immerhin besser als gar nichts, Sir. Über das Modell sind wir ziemlich sicher und rot war es einwandfrei. Die Zulassungsstelle müßte den Wagen schnell ermitteln können.»
«Hm. Sofern es tatsächlich ein hiesiges Fahrzeug ist. Wie steht’s mit Fotos, Tatortskizzen, Aussagen und so weiter?»
«Alles erledigt, Sir.»
Ackers wartete auf weitere Fragen, machte dann kehrt und verließ den Raum. Wie jung und ehrgeizig er ist, dachte Wraight. Manchmal kann er kaum verhehlen, daß ich für ihn zum alten Eisen gehöre.
Wraight blickte auf das Antragsformular, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Sergeant Reginald Philbert Ackers. Eignet er sich zur Beförderung? Hat er in jeder Beziehung zufriedenstellend gearbeitet? Hat er Initiative entwickelt? Besitzt er Führungsqualitäten? Müde lächelnd begann Wraight das Formular auszufüllen.
Kirkland zündete sich ein Zigarillo an und warf das Streichholz in den Aschenbecher. Geistesabwesend grübelte er darüber nach, wie selbst der beste Plan plötzlich durch einen unvorhergesehenen Zwischenfall ins Wanken geraten konnte.
Er hatte sich bereits zehntausend Pfund leihen müssen, eine hübsche Stange Geld, wenn man überlegte, daß er monatlich dreißig Prozent Zinsen zahlen mußte. Für eine Viertelmillion lohnte sich das natürlich, aber für nichts und wieder nichts …
Er fluchte. Simon hatte die Sache fast verpatzt, trotzdem mußte sich die Scharte auswetzen lassen. Jetzt hatten sie ihn in der Hand, und er konnte sich nicht drücken. Solange kein Augenzeuge Simon ernstlich belasten konnte, bestand immer noch Hoffnung. Und falls die Polizei doch Lunte roch, durfte Simon nicht die Nerven verlieren. Es heißt, eine Kette sei so stark wie ihr schwächstes Glied. Simon war wahrhaftig ein schwaches Glied. Männer wie er gefährdeten jeden guten Coup, und trotzdem ging es nicht ohne ihn …
Harlow erschien.
«Was gibt’s?» fragte Kirkland.
Harlow setzte sich. «Ich hab von Anfang an gesagt, daß uns dieser Simon Scherereien machen wird.»
«Hast du was erfahren?»
«Es steht schlecht, Ray.»
«Wie schlecht?»
«Ein Kerl hat Simon im Wagen gesehen und schwört, daß er ihn jederzeit wiedererkennen würde.»
Kirkland fluchte.
«Du warst ein bißchen zu schlau, Ray. Du hättest Charlie einfach weitermachen lassen sollen. Keiner hatte die vollständige Wagennummer, und vielleicht hätte man sie nie rausgekriegt. Aber jetzt hat die Polizei den Wagen, und die werden hinter Simon her sein wie der Teufel.»
Kirkland fluchte wieder. Sein Plan beruhte darauf, daß niemand den Fahrer identifizieren konnte. Es war typisch, daß Simon gesehen worden war.
«Sie hätten den Wagen so oder so gefunden», versuchte sich Kirkland zu rechtfertigen. «Simons einzige Chance war, den Hillman als gestohlen zu melden.»
«Wenn Simon identifiziert wird, klingt die Geschichte ein bißchen dämlich. Glaub mir, Ray, den Bankjob können wir abschreiben.»
«Nicht, wenn ich es verhindern kann.»
«Die Polizei wird Simon schnappen, ehe er sich’s versieht.»
«Was ist das für ein Kerl, der Simon gesehen hat?»
«Ein schicker Junge. Schickes Sportkabrio, schick angezogen, schickes Auftreten.»
«Wenn wir bloß wüßten, wer er ist.»
«Wissen wir.»
«Was?»
«Er hat dem Polypen Namen und Adresse angegeben. Ich stand so nahe dabei, daß ich alles hören konnte.»
«Wie heißt er?»
Harlow zog einen Zettel aus der Manteltasche. «Brissom. Er wohnt in Orton Rise, Vicarage Lane, Harrington.»
«Harrington? Teures Viertel.»
«Ich hab dir doch gesagt, daß das ein schicker Junge ist. Hör mal zu, Ray, aus dem Bankjob wird nichts, die Polizei hat Simon erwischt …»
«Jetzt hab ich fünfzehntausend verpulvert, und zehn davon sind geliehen. Ich hab das Team zusammengetrommelt, und da glaubst du wirklich, daß ich die Viertelmillion einfach sausen lasse?»
«Bei der Alarmanlage bleibt dir gar nichts anderes übrig. Wenn die Polente Simon schnappt, sind wir aufgeschmissen.»
Kirkland stieß seinen Stuhl zurück, stand auf und ging zum Fenster. «Verschaff uns Material über diesen Brissom.»
«Ray, das hat doch keinen Zweck mehr …»
«Du sollst was über Brissom rauskriegen.»
Harlow zündete sich eine Zigarette an. Er verachtete die meisten Menschen, weil er wußte, daß er in jeder Beziehung stärker war als sie, aber vor Kirkland hatte er fast Angst. Kirkland war gerissen, besaß Autorität und konnte wirklich gefährlich werden. «Worauf willst du hinaus, Ray?»
«Bring den Kerl zum Schweigen.»
«Er hat schon genug geredet.»
«Meinetwegen kann er der Polizei heute erzählen, was er will, das heißt nämlich noch gar nichts. Es kommt nur darauf an, was er bei der Gerichtsverhandlung erzählt. Wenn dieser Kerl sich mit Simon anlegt, dann legen wir uns eben mit ihm an. Ich will dir was sagen, Harlow: die Viertelmillion lasse ich mir nicht durch die Lappen gehen!»