17
Am Dienstagmorgen erschien Harry in Wraights Büro. Er war so aufgebracht, daß er kaum zusammenhängend reden konnte, beruhigte sich jedoch allmählich unter dem wohltuend gelassenen Einfluß des Inspektors.
«Sie werden sie umbringen, und Sie rühren nicht mal den kleinen Finger», sagte Harry.
Wraight schüttelte den Kopf. «Nein, Mr. Brissom. Ich habe Ihnen doch erklärt, daß ihnen im Augenblick nur daran gelegen ist, Miss Farrow in Panik zu versetzen. Sobald sie ihr etwas antun, haben sie ja kein Druckmittel mehr in der Hand.»
«Sie geben also zu, daß es nicht wieder ein Zufall war?»
«Höchst unwahrscheinlich, trotzdem muß ich auch diese Möglichkeit einbeziehen.»
Harry, der bisher gestanden hatte, setzte sich auf den unbequemen Besucherstuhl. «Und wenn sie nicht aufgewacht wäre?»
«Mr. Brissom, ich habe gelernt, mich nur an die Tatsachen zu halten und nie mit Wenn oder Aber zu operieren. Zum Glück ist sie aufgewacht, und damit hat sich’s.»
«Sie versucht es zwar nicht zu zeigen, aber sie ist ziemlich am Ende.»
«Ein tapferes Mädchen.»
«Und was meinen Sie, wie mir zumute ist?»
«Miserabel.»
«Machen Sie sich überhaupt klar, daß all das meinetwegen passiert ist? Meinetwegen wurde sie überfallen, meinetwegen hat sich der Mann in ihr Haus eingeschlichen. Ich kann nicht …» Er hielt inne.
«Nun?»
«Ich wollte sagen, daß ich nicht weitermachen kann», erklärte Harry bedächtig.
«Und Sie sagen es nicht?»
«Sie hat mir das Versprechen abgenommen. Sie wankt und weicht nicht, obwohl sie wie gelähmt ist vor Angst. Aber ich … ich frage mich jedesmal, wenn ich daran denke, was um ein Haar passiert wäre, ob es irgendeine Rechtfertigung dafür gibt, sie einer solchen Gefahr auszusetzen. Das … das habe ich noch keinem gesagt, nur ihr.»
Wraight schwieg.
«Und trotzdem muß ich um jeden Preis vor Gericht erscheinen und der Wahrheit gemäß aussagen. Nennen Sie’s Stolz, nennen Sie’s Dickköpfigkeit …»
«Oder unbeirrbarer Glaube an die Gerechtigkeit.»
«Wenn ich so etwas sage, lachen die Leute mich meistens aus.»
«Das kann nur jemand tun, der noch nie auf Schutz durch Recht und Gesetz angewiesen war.»
«Merkwürdig, wie genau Sie das jetzt plötzlich erfassen.»
«Wenn ich alles auf Anhieb kapieren würde, wäre ich ja ein Übermensch.»
Harry bot Zigaretten an, und beide rauchten. «Können Sie auf Penelope aufpassen?»
«Nach besten Kräften.»
«Aber für ihre Sicherheit garantieren können Sie nicht?»
«Nein.»
«Das Gesetz verlangt also einerseits, daß ich vor Gericht die Wahrheit sage, während mir die Hüter des Gesetzes keinen Schutz vor den möglichen Folgen bieten können?»
«Wir können nur unser Bestes tun, nicht mehr. Anstatt einem werden wir nachts zwei Streifenpolizisten einsetzen. Beide kriegen Sprechfunkgeräte, und einer wird sich ständig in der Nähe des Hauses aufhalten. Mein zuständiger Sergeant wird Miss Farrow behilflich sein, das Haus abzusichern. Ferner werden wir in Miss Farrows Schlafzimmer eine Alarmanlage anbringen, die sie durch Knopfdruck betätigen kann.»
«Ist das genug?»
«Unter diesen Umständen ist das alles, was wir tun können. Außerdem halte ich einen zweiten Versuch für höchst unwahrscheinlich.»
«Penelope sollte eine Zeitlang verreisen – irgendwohin, wo niemand sie kennt.»
«Meines Wissens hat Miss Farrow einen verantwortungsvollen Posten, den sie nicht so ohne weiteres verlassen kann, oder?»
«Ihr Leben ist wichtiger als jeder Job.»
«Das trifft nur zu, wenn man finanziell unabhängig ist, Mr. Brissom», sagte Wraight ruhig.
Harry zuckte die Achseln. «Haben Sie denn überhaupt keinen Hinweis?» fragte er. «Was ist mit Simon und seinen Freunden?»
«Wir haben sämtliche Spuren verfolgt und nichts entdecken können.»
«Lange Zeit haben Sie aber tatenlos zugesehen.»
«Stimmt.»
«Wenn Sie mir von Anfang an geglaubt hätten, wären Sie wahrscheinlich schon weiter.»
«Leider sind auch wir nicht unfehlbar.»
Dieses Hin und Her ist ja sinnlos, dachte Harry ärgerlich und verbittert. Immerhin ist die Polizei jetzt endlich aufgewacht und versucht das Menschenmögliche. «Am Freitag ist die Verhandlung», sagte er. «Vorher müssen Sie einfach etwas herausfinden.»
«Mit ein bißchen Glück sollte uns das gelingen.»
Harry stand auf. «In Wirklichkeit sind Sie heute genauso klug wie zu Anfang, nicht wahr?»
Wraight gab keine Antwort, und Harry ging.
Harry fuhr zu Penelope. Sie war nicht ins Büro gegangen, sondern saß im Wohnzimmer und spielte mit Sandra.
Nach der Begrüßung erklärte er unvermittelt: «Penny, du mußt weg, bis die Gerichtsverhandlung vorbei ist.»
«Und wohin?»
«Egal – Hauptsache, sie können dich nicht finden.»
«Aber ich kann doch nicht einfach abhauen.»
«Warum nicht?»
«Ich bin berufstätig, Harry, vergiß das nicht. Der eine freie Tag heute wird sowieso schon genügend Scherereien bringen.»
«Als ob das eine Rolle spielt!»
«Verstehst du denn nicht? Wir stecken mitten in einer Fernsehserie. Der Produzent nimmt mich immer als Sekretärin, weil ich seine Arbeitsweise kenne. Wenn ich länger wegbleiben würde, wäre der Teufel los. Ich würde in hohem Bogen rausfliegen und müßte mir eine neue Stellung suchen.»
«Na und?»
Sie lächelte gezwungen. «Das kann nur jemand wie du fragen. Von meinem Gehalt müssen Sandra, Mutter und ich leben. In einem anderen Job würde ich nicht soviel verdienen, und mit weniger könnten wir einfach nicht auskommen.»
«Gut, du brauchst also Geld. Wieviel?»
«Eine überaus taktvolle Frage.»
Er ließ sich in den nächsten Sessel fallen. «Entschuldige, Penny, aber ich bin vor lauter Sorgen schon völlig durchgedreht. Ich wollte damit sagen, daß ich alles tun will, um dich aus der Gefahrenzone herauszubringen.»
Zärtlich packte sie Sandra beim Schopf.
«Willst du mir wenigstens etwas versprechen?» fragte Harry nach einer Weile.
«Erst muß ich wissen, was.»
«Darf ich dich an den Abenden nach Hause fahren, an denen du länger arbeiten mußt?»
«Das läßt sich nicht immer vorhersagen. Manchmal kann es neun, manchmal auch elf werden. Vielleicht nehme ich mir dann ein Taxi.»
«Ich kann warten.»
Sie lächelte. «Also gut. Vielen Dank, Harry.»
Nach einem Blick auf die Kaminuhr meinte er: «Könnte man sich um diese Zeit einen Drink genehmigen?»
«Das ist bloß eine Frage der Phantasie.»
«Na, daran soll’s bei mir nicht hapern.» Er stand auf. «Im Wagen hab ich ’ne Flasche Schnaps.» Als er an ihr vorbeiging, ergriff sie seine Hand. «Wir werden mit ihnen fertig, Harry. Das mußt du dir immer wieder sagen.»
Er sah sie lange an und wiederholte leise: «Ja, wir werden mit ihnen fertig.»
Am Freitag um elf Uhr siebenundvierzig begann die Verhandlung gegen Simon.
Der Vertreter der Anklage, ein kleiner Mann mit zu großem Kopf, war ein Pedant und ging auch auf die nebensächlichsten Punkte ausführlich ein.
«… meine Herren Geschworenen, wir werden beweisen, daß der Angeklagte im Flying Horseman mindestens fünf doppelte Whiskys trank und daß der Barmixer, Mr. McGraw, beschwören kann, den letzten um zehn nach zwölf ausgeschenkt zu haben. Mr. McGraw ist sich dieses Zeitpunkts deshalb so gewiß, weil das Transistorradio eingeschaltet war und eine Schlagerplattensendung brachte. Der Plattenjockey, das heißt der Mann, der die Platten auflegt und die verbindenden Worte spricht …»
«Mr. Tapwood», warf der Richter etwas mißmutig ein, «wir dürfen wohl den Begriff ‹Plattenjockey› bei den Herren Geschworenen als bekannt voraussetzen.»
«Sehr wohl, Euer Ehren. Der Plattenjockey spielte also eine von Mr. McGraws Lieblingsplatten. Sie heißt …» Tapwood ignorierte geflissentlich die offenkundige Ungeduld des Richters und blätterte suchend in seinen Akten. «… The Roaring Sixties. Anschließend wollte Mr. McGraw nur die Namen der Interpreten erfahren, doch statt dessen machte der Plattenjockey eine Zeitansage, was Mr. McGraw begreiflicherweise verärgerte. Aber gerade das, meine Herren Geschworenen, versetzt uns heute in die Lage, den genauen Zeitpunkt festzulegen. Es war zehn nach zwölf. In diesem Moment erschien der Angeklagte wiederum an der Theke und verlangte zwei weitere doppelte Whiskys. Ich betone: zwei doppelte Whiskys. Der Angeklagte wurde von Mr. McGraw bedient, der Ihnen berichten wird, daß dies die letzten Drinks waren, die der Angeklagte, ein Stammkunde, bei ihm bestellte.
Die Zeitangaben sind außerordentlich wichtig. Um zehn nach zwölf schenkte Mr. McGraw dem Angeklagten seinen fünften doppelten Whisky aus. Um zwölf Uhr vierunddreißig fuhr ein roter Hillman – das gleiche Modell wie das des Angeklagten – die Clairmont Road entlang. Meine Herren Geschworenen, es dürfte nicht unwichtig sein, darauf hinzuweisen, daß der Weg vom Flying Horseman zum Hause des Angeklagten durch die Clairmont Road führen muß.
Der Hillman fuhr das Opfer an. Die Frau wurde gegen einen Laternenpfahl geschleudert und war sofort tot. Nun werden Sie die Berichte von Augenzeugen darüber hören, wie der Hillman gefahren wurde. Ich meine, vorsichtig oder fahrlässig, normal oder …»
«Ob wir uns jetzt auch noch sämtliche Möglichkeiten, ein Auto zu lenken, anhören müssen?» murmelte der Richter so leise vor sich hin, daß es nur der Gerichtsschreiber verstehen konnte.
Harry wanderte nervös in der großen Halle auf und ab, die zwischen den beiden Gerichtssälen lag, und stellte sich immer wieder dieselben Fragen. Waren SIE hier und lauerten darauf, ob er sich ihnen widersetzte? Natürlich hatte er sich diese Fragen bereits bei der ersten Gerichtsverhandlung gestellt, aber die Anspannung von damals war mit der heutigen überhaupt nicht zu vergleichen. Er hatte Angst. Bisher hatte er sich seine wahren Gefühle immer zu verbergen gesucht, doch das war nun nicht länger möglich. Er würde die Wahrheit sagen und fürchtete sich zugleich davor.
Alle paar Minuten wollte er Penelope anrufen, um sich zu vergewissern, ob nichts passiert sei, unterließ es dann aber. Sie brauchte nicht zu wissen, wie besorgt er um sie war.
Und was würde nach der Gerichtsverhandlung geschehen? Würden SIE noch einmal zuschlagen, um sich zu rächen? Wer waren SIE? Und warum taten SIE das alles?
Zwei Polizeibeamte in Uniform und weißen Baumwollhandschuhen rissen die Doppeltüren zu dem Gerichtssaal links von ihm auf. Ein Menschenstrom quoll heraus und strebte den verschiedenen Ausgängen zu. Mittagspause. Das Gericht hatte sich vertagt. Kümmert sich denn kein Mensch darum, was diese Warterei für mich bedeutet? fragte er sich erbost. Auch seine Reserven an Mut waren nicht unerschöpflich – im Gegenteil. Jede Stunde, die er hier vor dem Gerichtssaal warten mußte, verursachte ihm Höllenqualen, und in seiner Phantasie malte er sich Schreckensbilder aus, was Penelope alles zugestoßen sein mochte.
Er fuhr zusammen, als ihn jemand ansprach, und drehte sich um Wraight. «Guten Tag, Mr. Brissom. Sie wollen sicher essen gehen? Ich rate Ihnen, beeilen Sie sich, sonst finden Sie nirgends Platz.»
«Ich habe keinen Hunger.»
«An Ihrer Stelle würde ich trotzdem etwas essen.»
«Sie sind aber nicht an meiner Stelle! Sie sind ja nicht gefühlsmäßig beteiligt. Für Sie ist der Fall reine Routine.»
Wraight schüttelte den Kopf. «Irrtum, Mr. Brissom.»
«Jedenfalls wird nicht Ihre Frau bedroht.»
«Meine Frau ist tot.»
«Oh … entschuldigen Sie bitte. Das tut mir leid.»
«Kein Grund. Es ist schon ziemlich lange her. Probieren Sie es mal mit dem Restaurant in der Rutland Road. Es ist zwar nicht billig, man soll aber dort ausgezeichnet essen.»
«Wollen Sie nicht mitkommen?» fragte Harry nach kurzem Zögern.
«Gern, aber Sie sind ein sehr wichtiger Zeuge, und ich fürchte, das könnte falsch ausgelegt werden.»
«Ich … ich brauche jemand, mit dem ich reden kann.»
«Warum fahren Sie nicht nach Hause, Mr. Brissom? Die Mittagspause dauert eine Stunde, und die Anklageschrift ist noch nicht verlesen. Sie werden wahrscheinlich erst am Montag aufgerufen.»
«Am Montag?»
«Ich fürchte, ja. Der Richter wird morgen wohl keine Sitzung anberaumen.»
«Aber ich …» Harry verstummte.
«Sie wollten das Ganze heute hinter sich bringen?»
«Ja. Haben Sie ein Auge auf Miss Farrow?»
«Freilich, Mr. Brissom.»
«Hoffentlich passiert ihr nichts.»
«Wir tun alles, das zu verhindern.»
Harry murmelte ein paar unverbindliche Worte und wandte sich zum Gehen. Bis jetzt hatte er sich daran geklammert, daß bis zum Abend alles vorüber sein würde: er hätte seine Aussage gemacht, Simon identifiziert und damit den letzten, unwiderruflichen Schritt getan und alle Brücken hinter sich verbrannt. Und jetzt erfuhr er, daß sich bis zum Abend vermutlich nichts, aber auch gar nichts geändert haben würde und daß er diese Belastung durch das Wochenende mitschleppen mußte.
Um halb drei parkte Harry seinen Wagen wieder neben dem Gerichtsgebäude. Er betrat die riesige Halle und ging auf einen Polizisten zu, der neben der Doppeltür zum Gerichtssaal Nummer 1 stand. Auf seine Frage erfuhr er, daß drinnen immer noch die Sachverständigen gehört wurden.
Harry durchquerte die Halle, setzte sich auf eine leere Bank und zündete sich eine Zigarette an. Nach einem mühsam hinuntergewürgten Essen hatte er sofort im Fernsehstudio angerufen. Bei Penny war alles in Ordnung. Er nahm ihr das Versprechen ab, auf ihn zu warten und sich von ihm nach Hause fahren zu lassen.
Er ballte die Fäuste. Komme, was da wolle – ihn konnten sie nicht kleinkriegen. Und trotzdem schnürte ihm die Angst um Penny die Kehle zu …
Tapwood verhörte einen uniformierten Polizisten. «Hatten Sie am Sonnabend, dem achten Juli, im Bereitschaftsraum im County Police Headquarters Dienst?»
«Jawohl, Sir.»
«Wie lange dauerte Ihr Dienst?»
«Von acht Uhr morgens bis fünf Uhr nachmittags mit einer Mittagspause.»
«Und was war Ihre Aufgabe an jenem Sonnabend?»
Der Richter seufzte.
«Ich mußte die Notrufe entgegennehmen, mir von den Anrufern sämtliche wichtigen Angaben machen lassen und dann den diensthabenden Inspektor verständigen.»
«Haben Sie an dem fraglichen Sonnabend solche Anrufe erhalten?»
«Sechs, Sir. Mit dem des Angeklagten.»
«Was berichtete der Angeklagte im einzelnen?»
«Nach meinen Eintragungen nahm ich den Anruf um vierzehn Uhr vier entgegen. Der Anrufer gab an, Andrew Simon zu heißen, und meldete seinen Wagen als gestohlen. Es handelte sich um einen roten Hillman, Baujahr 1954, Zulassungsnummer 545 PKM. Er hatte ihn in der Ruyter Road geparkt, während er einkaufen ging und fand ihn bei seiner Rückkehr um Viertel nach elf nicht mehr vor.»
«Stellten Sie ihm irgendwelche Fragen?»
«Ich habe ihn gefragt, warum er den Diebstahl nicht schon früher gemeldet hätte, Sir. Er antwortete, daß er den Wagen erst mal überall gesucht hätte, um sich zu vergewissern, daß er tatsächlich weg war.»
«Nach seinen eigenen Angaben lag also eine Zeitspanne von zwei Stunden und neunundvierzig Minuten zwischen der Entdeckung, daß der Wagen verschwunden war, und dem Anruf bei der Polizei?»
«Jawohl, Sir.»
«Was taten Sie als nächstes?»
«Die Beschreibung des vermißten Wagens wurde über Polizeifunk an die Funkstreifenwagen und über Fernschreiber an sämtliche Polizeidienststellen weitergegeben. Außerdem wurde sie in die Liste der gestohlenen Fahrzeuge aufgenommen.»
Tapwood kramte in seinen Notizen und Akten herum, fischte ein Blatt heraus und las es. «Vielen Dank», sagte er schließlich.
Der Verteidiger begann mit dem Kreuzverhör. «Kam der Anruf von Mr. Simon?»
«So nannte sich der Anrufer, Sir.»
«Sie haben keinen Anlaß, daran zu zweifeln?»
«Keinen, Sir.»
«Würden Sie bitte dem Gericht sagen, in welcher Form er den Diebstahl meldete? Drückte er sich klar aus?»
«Ja, Sir.»
«Unmißverständlich klar?»
«Ja, Sir.»
«Sprach er undeutlich oder ließ sonst etwas darauf schließen, daß er schwer angetrunken war?»
«Nein, Sir.»
«Ist Ihnen der Gedanke gekommen, daß er betrunken sein könnte?»
«Nein, Sir.»
«Wenn er nun um zwölf Uhr fünfunddreißig stark betrunken gewesen wäre – hielten Sie ihn dann für fähig, bereits anderthalb Stunden später einen derart klaren Bericht abzugeben?»
Tapwood stand auf. «Die Frage verlangt nach einer Schlußfolgerung des Zeugen, Euer Ehren.»
«Ich lasse sie nicht zu», sagte der Richter.
Der Verteidiger verbeugte sich mit leichtem Spott. «Sehr wohl, Euer Ehren.» Er wandte sich wieder dem Zeugen zu. «Haben Sie häufig mit Notrufen zu tun?»
«Seit rund zehn Jahren.»
«Demnach müssen Sie Tausende solcher Anrufe entgegengenommen haben?»
«Ja, Sir.»
«Und alle von Leuten, die unter einem mehr oder weniger starken seelischen Druck standen?»
«Ja, Sir.»
«Äußerten sich alle klar und zusammenhängend? Das heißt so, wie man es unter normalen Umständen von einem normalen Menschen erwartet?»
«Nein, Sir.»
«Manche verhalten sich also unlogisch?»
«Mitunter, Sir.»
«Demnach ist es keineswegs ungewöhnlich, wenn ein Mann noch etwas abwartet, bevor er den Diebstahl seines Wagens meldet? Wenn er zunächst die Umgebung nach seinem gestohlenen Wagen absucht, bevor er den Diebstahl anzeigt?»
«Das hängt davon ab, was Sie ‹ungewöhnlich› nennen, Sir. Die meisten Leute …»
«Wir reden hier nicht von den meisten Leuten, sondern von denen, die unter einem so starken seelischen Druck stehen, daß sie anders reagieren, als Sie und ich es unter normalen Umständen täten. Empfanden Sie das Verhalten Mr. Simons damals als völlig außergewöhnlich?»
«Nun …»
«Ja oder nein?»
«So … so außergewöhnlich auch wieder nicht, Sir.»
«Ich danke Ihnen.» Der Verteidiger setzte sich.
Tapwood nahm sich den Zeugen noch einmal vor. Und das dauerte seine Zeit.
Der Richter schaute auf die Wanduhr. «Mr. Tapwood.»
«Ja, Euer Ehren?»
«Es ist jetzt fünf nach vier. Können wir den Fall heute abschließen, wenn wir noch zwei Stunden zugeben?»
«Ich würde das verneinen, Euer Ehren. Vielleicht möchte sich mein gelehrter Freund dazu äußern?»
Der Verteidiger stand auf. «Ich halte das für gänzlich ausgeschlossen, Euer Ehren.»
«Dann ist das der geeignete Moment, die Sitzung zu vertagen. Die Verhandlung wird am Montagvormittag um zehn Uhr fortgesetzt.» Er erhob sich, verbeugte sich knapp vor dem Verteidiger und verließ die Tribüne durch die rechte Tür.
Das Publikum strebte schwatzend, hustend, niesend dem Ausgang zu. Harry stand wartend in der Halle und beobachtete, wie die Leute aus dem Gerichtssaal strömten. Bis nach dem Wochenende blieb also die Lage unverändert. Zwei Tage und drei Nächte mußte er sich mit angstgepeinigten Vorstellungen herumschlagen und ständig darauf gefaßt sein, daß Penelope etwas passierte …
Er zündete sich eine Zigarette an. Eines mußte er sich immer wieder vor Augen halten: Sie hatten es nicht geschafft. Sie hatten ihn mit allen erdenklichen Mitteln zum Schweigen zu bringen versucht und Schiffbruch erlitten. Er würde seine Zeugenaussage machen, und Simon würde verurteilt werden. Damit hätte die Gerechtigkeit gesiegt. Sie kam einen zwar manchmal teuer zu stehen, aber der Preis war nie zu hoch.
Wraight tauchte in Begleitung eines Unbekannten neben ihm auf. «Mr. Lloyd von der Kriminalpolizei», stellte Wraight den anderen kurz vor. «Tut mir leid, daß ich mit meiner Befürchtung recht hatte, Mr. Brissom. Aber wenn es Sie tröstet – Sie werden am Montag früh in den Zeugenstand gerufen.»
«Und wenn ich mir gleich darauf wünsche, ihn nie betreten zu haben, was dann?»
«Ich bin überzeugt, daß Sie sich behaupten werden.»
«Sie lassen doch Miss Farrows Haus übers Wochenende nicht aus den Augen?»
«Ich hab noch mal mit den Streifenpolizisten gesprochen und ihnen eingetrichtert, was sie zu tun haben. Das Haus ist jetzt so gut abgesichert, und Miss Farrow hat eine Alarmanlage in Reichweite, da werden sie bestimmt keinen zweiten Einbruch riskieren. Aber Sie holen sie doch im Studio ab, falls es spät wird?»
«Selbstverständlich.»
«Na ja, Mr. Brissom, ich kann Ihnen zwar nicht sagen, daß Sie sich keine Sorgen mehr machen sollen, weil Sie das sowieso nicht täten. Aber immerhin kann ich Ihnen versichern, daß kein Anlaß zur Sorge besteht. Ach, noch eins.»
«Ja?»
«Sie haben Mut.»
Nachdem die Kriminalbeamten sich verabschiedet hatten, eilte Harry zum Hauptausgang. Wraights letzte Bemerkung hatte eine merkwürdig beflügelnde Wirkung. Er fühlte sich plötzlich nicht mehr auf verlorenem Posten.
Die Uhr in seinem Wagen zeigte zwanzig nach vier. Penelope hatte erst um sechs Büroschluß. Am besten, er fuhr zunächst einmal nach Hause.
Am Sonnabendmorgen war es bedeckt und windig. Um zehn Uhr hielt Harry vor Penelopes Haus. Er nahm ein Päckchen vom Sitz und stieg aus. Penelope stand in der offenen Haustür.
«Ich hab dich vom Fenster beobachtet. Warum hast du denn ein so ernstes Gesicht gemacht?»
«Ich dachte gerade daran, daß du der mutigste Mensch bist, den ich kenne.»
«Und das am frühen Morgen!»
«Verlegen?»
Sie nickte. «Passiert bei mir leicht. Reden wir lieber von unserem Picknick. Sandra ist vor lauter Aufregung schon seit sechs Uhr wach und seitdem nicht mehr zu bändigen. Es ist nämlich ihr erstes richtiges Picknick.»
«Das Wetter könnte besser sein. Nachher soll’s Regen geben.»
«Sei kein solcher Schwarzseher! Wir werden einen strahlenden, wolkenlosen, windstillen Tag kriegen und uns großartig amüsieren. Sandra ist mit Mutter im Park.»
«Ich hab Sandra was mitgebracht», sagte er und gab ihr das Päckchen.
«Was ist denn das?»
«Ach, die Puppe, du weißt schon.»
«Etwa die, von der ich dir erzählt habe?»
«Du hast doch gesagt, daß du sie Sandra gern schenken möchtest, wenn sie nicht so teuer wäre.»
«Ach Harry, du hast ja keine Ahnung, was du ihr für eine Freude machst! Komm rein, damit ich dir einen Kuß geben kann. Tausend Dank.»
«Einen Kuß für jedes Dankeschön?»
«Sei nicht so gierig!»
Er trat ein, sie schloß die Tür hinter ihm und küßte ihn. «Etwas Netteres hätte dir wirklich nicht einfallen können.»
Sie gingen ins Wohnzimmer, und er setzte sich, während sie in die Küche verschwand, um Kaffee zu machen.
Plötzlich wurde laut und stürmisch an die Haustür gehämmert. Er rannte zum Fenster und sah hinaus. Draußen stand Mrs. Farrow mit angstverzerrtem, tränenüberströmten Gesicht.
Nein, nein, das darf nicht sein! dachte er verzweifelt. In der Diele stieß er beinahe mit Penelope zusammen. Er riß die Haustür auf, und Mrs. Farrow wankte herein.
«Sandra … Sandra …»
«Was ist passiert?» schrie Penelope, die plötzlich totenblaß geworden war.
«Sandra … Sandra …»
«Was ist mit ihr, so reden Sie doch schon!» brüllte Harry.
«Sie … sie spielte im Park. Ich hab mich hingesetzt. Ich war müde … Penny, es ist so anstrengend …»
«Wo ist sie?»
«Als ich sie suchte, war sie … war sie verschwunden.»
«Sie muß irgendwo im Park sein.»
«Nein. Jemand hat gesehen, daß ein Mann auf sie zuging und mit ihr sprach. Er brachte sie zu einem Wagen und fuhr mit ihr weg … Sie ist weg … Sandra ist weg …»
Harry sah Penelope an. Sie war wie versteinert.