18

Inspektor Wraight stand in Penelopes Wohnzimmer. Er sah alt und erschöpft aus. Penelope lag mit geschlossenen Augen zurückgelehnt in einem Sessel; sie hatte geweint, und ihr Gesicht war noch immer tränenfeucht. Mrs. Farrow war oben in ihrem Schlafzimmer, während Harry in dem anderen alten Sessel saß und Penelope unverwandt ansah, obgleich ihm der Anblick ihres Schmerzes Qualen verursachte.

«Schon eine Stunde», sagte er.

Zuerst hatten sie noch gehofft, daß Mrs. Farrow sich getäuscht hatte, daß Sandra nach wie vor im Park spielte und daß ein anderes kleines Mädchen in dem Wagen weggefahren war. Aber bereits nach fünf Minuten mußte die Polizei diese Hoffnung zunichte machen. Sandra war nicht mehr im Park, und jede Verwechslung war ausgeschlossen.

Es klopfte. Ein Polizeibeamter trat ein.

«Was gibt’s», murmelte Wraight.

«Nachricht vom Superintendent, Sir. Alle verfügbaren Streifenwagen wurden hierher beordert.»

«Danke.»

Und wenn tausend Wagen die Gegend durchkämmen, trotzdem sind unsere Chancen gleich Null, dachte Wraight deprimiert. Ein alter Rentner hatte Sandras Entführung beobachtet. Seine Beschreibung der Kleinen war exakt, die des Wagens dagegen völlig unbrauchbar. «Einer von den neuen mit viel Chrom und Glas. Schwarz. Oder dunkelgrün? Sah teuer aus, aber das ist ja wohl immer so bei teuren Wagen … Welche Marke? Um so was kümmere ich mich nicht. Ich konnte mir nie einen leisten.»

Die Polizei suchte also nach einem dreijährigen Mädchen, das man zuletzt gesehen hatte, als es in einen neuen Wagen stieg. Marke, Farbe, Zulassungsnummer unbekannt. In dieser einen Stunde konnte Sandra schon rund siebzig Kilometer weit sein. Und in welcher Richtung? Wraight seufzte. Penelope schlug die Augen auf. «Werden sie ihr etwas antun?»

Wraight konnte sie nicht belügen. «Ich weiß es nicht.»

«Aber sie ist doch noch so klein!»

Darauf gab es keine Antwort, keinen Trost, keine Hilfe.

«Sie hatte das neue Röckchen an, das Mutter ihr genäht hat. Wie konnte Mutter sie nur aus den Augen lassen?» sagte sie tonlos.

«Sie …» Harry stockte.

«Ich hätte sie keine Sekunde aus den Augen gelassen. Wenn ich dabei gewesen wäre, hätten sie Sandra nie entführen können. Sonst gehe ich immer mit ihr in den Park, aber diesmal habe ich hier gewartet – auf dich, Harry.»

Harry zündete sich eine Zigarette an. Wenn er sich nur eine Stunde später mit Penny verabredet hätte, wäre das alles nicht passiert. Eine Stunde früher auch nicht. Durch reinen Zufall war er indirekt an Sandras Verschwinden schuld. Ob Penelope ihm das je verzeihen konnte? Dann machte er sich klar, daß er weit mehr Verantwortung trug – ohne ihn wäre das alles niemals passiert.

Draußen rief jemand nach dem Inspektor. Wraight lehnte sich aus dem Fenster und sprach mit einem Polizisten.

«Was Neues?» erkundigte sich Harry.

«Leider nur Routine, Mr. Brissom», antwortete Wraight.

Über fünfundzwanzig Leute, die sich zu dem Zeitpunkt im Park aufgehalten hatten, waren verhört worden, aber kein einziger konnte einen Hinweis geben. Durch Fernsehen, Radio und Lautsprecherwagen würde man an die Bevölkerung appellieren – aber bot das irgendeine Aussicht auf Erfolg? Wraight fluchte innerlich auf Mrs. Farrow mit ihren Schmerzen und ihrem Gejammer. Wenn sie sich weniger um ihren Rücken und dafür mehr um die Kleine gekümmert hätte, säßen wir jetzt nicht so hilflos da …

Harry stand auf. «Ich muß was trinken.» Er ging hinaus, um den Picknickkorb aus dem Wagen zu holen. Wraight kam hinterher.

«Ich fahre zurück aufs Revier, Mr. Brissom.»

«Weil Sie hier nichts mehr tun können?»

Wraight zögerte.

«Die Wahrheit», forderte Harry brüsk.

«Die Wahrheit? Wir werden alles menschenmögliche tun, aber …»

«Aber?»

«Aber ich weiß nicht, ob das auch nur den geringsten Erfolg haben wird.»

«Dann prügeln Sie aus Simon ein Geständnis heraus.»

«Wenn wir das dürften, sofort.»

«Penny verliert den Verstand!»

«So gnädig ist die Natur leider selten. Ich hatte schon mal einen Fall von Kindesentführung. Die Mutter wurde nicht verrückt.»

«Und was passierte dem Kind?»

«Tut das was zur Sache?»

«Ja.»

«Wir fanden die Kleine eine Woche später. Ermordet.»

«Aber sie werden doch Sandra nicht umbringen?»

«Ich … ich hoffe es von Herzen.» Wraight machte kehrt und ging zum Polizeiauto.

Harry sah dem davonfahrenden Wagen nach. Sein Blick glitt über die Menge, die sich vor dem Haus drängte und auf eine Sensation wartete. Aasgeier, die sich am Unglück ihrer Mitmenschen weideten. Sie waren immer sofort zur Stelle …

Bedrückt kehrte er ins Haus zurück. Er öffnete den Picknickkorb, goß zwei Whiskys ein und reichte Penelope einen Silberbecher. Sie schüttelte abwehrend den Kopf, aber er ließ nicht locker, bis sie den Whisky gehorsam schluckte.

Sie stellte den leeren Becher auf ihre Sessellehne. «Sieht der Inspektor noch eine Chance?»

«Sie tun das menschenmögliche.»

«Glaubt er, daß es noch eine Chance gibt? Bitte, sag es mir, Harry. Ich muß es wissen.»

«Er beurteilt die Lage durchaus optimistisch.» Eine Lüge konnte nicht schaden.

Tränen rollten über ihre Wangen. Er setzte sich zu ihr auf die Lehne. Schluchzend barg sie das Gesicht in seinem Jackett. Mary fiel ihm ein. Er drückte Penelope fest an sich und fluchte im stillen.

«Harry, laß mich nicht allein.»

«Ich denke ja nicht daran.»

«Ich brauche dich, Harry.»

«Ich bleibe ja bei dir, Penny.»

«Halt mich fest, bitte. Ach Harry, ich sehe sie dauernd vor mir, wie sie Sandra … Menschen können so unmenschlich sein … Sag, daß sie das nicht tun werden, Harry, sag’s mir doch … Sie wollen uns nur Angst einjagen, nicht wahr?»

Es klingelte. Sie rührten sich nicht. Es klingelte abermals. Harry stand auf. «Wahrscheinlich die Polizei.» Sie sah zu ihm auf.

«Ob sie sie gefunden haben?»

«Kann sein», antwortete er heiser.

Er ging zur Tür und öffnete. Draußen stand Sandra, die gerade zum drittenmal auf den Klingelknopf drücken wollte.

Fassungslos starrte er sie an, dann hob er sie auf den Arm und trat auf die Straße. Kein Wagen weit und breit. Und die Neugierigen hatten sich auch verlaufen.

«Harry», rief Penelope laut.

Er eilte ins Haus zurück und schloß die Tür.

«Wer ist da, Harry?»

«Sandra», flüsterte er, «geh rein und sag deiner Mammi guten Tag.» Er stellte sie auf den Boden, öffnete die Wohnzimmertür und wartete, bis sie drin war. Geräuschlos machte er hinter ihr zu.

Dann ging er zu der Telefonzelle in der nächsten Querstraße und rief Wraight an.

«Hier Brissom. Sie ist wieder da.»

«Sandra? Sandra ist wieder da?»

«Sie klingelte an der Haustür, und ich ließ sie rein.»

«Aber was ist denn passiert?»

«Ich weiß weiter nichts. Ich hab sie zu ihrer Mutter reingeschickt.»

«Gott sei Dank, Brissom, Gott sei Dank!»

 

Halb zehn Uhr abends. Sandra schlief schon. Sie hatte eine feine Autofahrt gehabt … Der Mann im Park hatte nämlich gesagt, daß er sie zu ihrer Mammi bringen sollte, und da war sie natürlich gleich mitgegangen … In dem Auto saßen noch zwei Männer, die hatten ihr Bonbons und ein wunderschönes Bilderbuch geschenkt … Und dann waren sie losgefahren … Die Männer waren so nett und lustig, und einer hatte ihr erzählt, er hätte zu Hause auch so ein kleines Mädchen wie sie … Sie hatten am entgegengesetzten Ende der Rob’s Lane gehalten, und einer von den Männern hatte sie gefragt, ob sie allein nach Hause fände … Sie sollte ihrer Mammi ausrichten, diesmal wäre es leider eine sehr kurze Spazierfahrt gewesen, aber das nächste Mal würde sie bestimmt viel länger dauern.

Mrs. Farrow war völlig außer sich und weigerte sich, den beabsichtigten Besuch bei ihrer Freundin zu machen. Schließlich konnte Penelope sie doch dazu überreden.

Wraight hatte sich erfolglos bemüht, aus Sandra irgendwelche brauchbaren Hinweise herauszukriegen.

Danach waren Penelope, Sandra und Harry nach Precaryn gefahren zu einem verspäteten Picknick. Penelope behielt recht: es wurde ein strahlender Tag, und Sandra genoß den Ausflug sehr.

Am Spätnachmittag hatten sie zu Hause Tee getrunken und ferngesehen. Sandra durfte etwas länger aufbleiben als sonst, war dann aber trotz aller Aufregung auf dem Sofa eingeschlafen.

Nachdem Penelope sie zu Bett gebracht hatte, aßen sie Abendbrot. Penelope hatte viel gelacht, doch sobald sie sich unbeobachtet glaubte, erschien wieder der verkrampfte, angsterfüllte Ausdruck auf ihrem Gesicht. Unter dem Vorwand, etwas aus der Küche holen zu müssen, stand sie zweimal vom Tisch auf, und er hörte sie die Treppe hinauf in Sandras Zimmer gehen.

Nach dem Essen saßen sie im Wohnzimmer nebeneinander auf dem Sofa, die Hände ineinander verschränkt, und sprachen in den ersten zwanzig Minuten kaum ein Wort.

«Willst du mir die Wahrheit sagen, Harry, auch wenn du weißt, daß ich sie nicht gern höre?» fragte sie plötzlich.

Er nickte.

«Ehrenwort?»

«Ehrenwort.»

«Hast du mir wirklich geglaubt, als ich dir erzählte, daß ich außer mit Richard mit niemand geschlafen habe?»

«Ja.»

«Aber … aber du hast doch sicher einiges von dem Klatsch über mich gehört, und trotzdem?»

«Du sollst sensationell im Bett sein, darin sind sich alle einig. Und jeder steuert zu diesem Thema ein paar mehr oder weniger geschmacklose Indiskretionen bei. Aber ich glaube an keine von diesen angeblichen Enthüllungen. Sie lügen alle.»

«Schwörst du mir, daß du das nicht nur mir zuliebe sagst?»

«Habe ich dir nicht eben mein Ehrenwort gegeben?»

Sie drückte seine Hand fester. «Harry, ich bin völlig wie gerädert. Ich kann jetzt nicht allein sein.»

«Warum hast du dann deine Mutter weggeschickt?»

«Ich wollte nicht sie bei mir haben, sondern dich. Wirst du hierbleiben?»

«Aber ..»

«Bitte bleib, auch wenn du mich danach haßt. Ich brauche dich, Harry Ich liebe dich genauso, wie ich Richard geliebt habe, obwohl ich das nie mehr für möglich gehalten hätte. Wenn Sandra nicht entführt worden wäre, hätte ich kein Wort davon gesagt, aber jetzt kann ich es einfach nicht länger verheimlichen.»

«Ich liebe dich, Penny!»

«Bleib heute nacht bei mir, Harry. Wenn ich dich neben mir fühle, hört die eisige Angst auf. Ich möchte mich von meiner Liebe zu dir forttragen lassen und dann in deinen Armen einschlafen. Egal, ob du mich morgen dafür haßt, Harry … ich brauche dich.»

«Warum sagst du dauernd, ich könnte dich dafür hassen?»

«Vielleicht überlegst du jetzt, wie oft ich das schon gesagt habe. Und vielleicht wirst du dich hinterher fragen, ob an den Geschichten über mich nicht doch etwas dran ist.»

«Nein, Penny. Ich kenne die Wahrheit.»

 

Harry wachte auf. Seine rechte Hand ruhte auf Penelopes Hüfte. Er starrte in die Dunkelheit. Nachdem sie sich das erste Mal umarmt hatten, war sie aufgestanden und in Sandras Zimmer gegangen. Nach ihrer Rückkehr war sie in Tränen ausgebrochen und durch nichts zu beruhigen gewesen. «Sie hätten sie umbringen können!» hatte sie unter Schluchzen gestammelt. Sooft sie das sagte, wuchs sein Schuldgefühl. Mit ungeheurer Willenskraft riß sie sich schließlich wieder zusammen, und dann hatten sie sich mit einer Leidenschaft umarmt, die ihn alles vergessen ließ.

Seine Hand kribbelte, und er zog sie weg.

«Kannst du nicht schlafen?» flüsterte sie.

«Ich möchte jeden Augenblick dieser Nacht auskosten, Penny.»

«Was werden deine Eltern denken?»

«Vermutlich das Richtige.»

«Deine Mutter wird mich deshalb verabscheuen.»

«Warum?»

«Weil sie in mir ein Hindernis für deine Zukunft sieht und befürchtet, ich könnte dich zu mir runterziehen.»

«Ich werde nicht Mary heiraten, sondern dich.»

«Bitte, Harry, sag das nicht, weil du dich dazu verpflichtet fühlst. Ich wußte genau, was ich tat, als ich dich bat, hierzubleiben. Ich werde mich bestimmt nicht an dich klammern, bloß weil wir miteinander geschlafen haben.»

«Soll ich dir den Hintern versohlen, Penny?»

«Lieber nicht», antwortete sie leise.

«Dann hör gefälligst auf, solchen Unsinn zu reden. Sag mir jetzt klipp und klar – willst du mich heiraten?»

«Warum fragst du?»

«Weil ich dich liebe.»

«Aber ich habe eine uneheliche Tochter.»

«Na und?»

«Ich trenne mich nicht von ihr.»

«Was hast du dir denn sonst vorgestellt?»

«Viele Leute werden über dich herziehen.»

«Die können mir gestohlen bleiben.»

«Ich bin in jeder Beziehung eine schlechte Partie.»

«Als Frau bist du eine glänzende.»

«Mit meinen Kochkünsten ist es auch nicht weit her.»

«Um so mehr mit anderen.»

«Pfui – sei nicht so überdeutlich!»

«Bin ich aber gern.»

«Ich auch. Ich fluche manchmal wie ein Droschkenkutscher.»

«Damit hab ich gerechnet.»

«Und unkeusche Gedanken hab ich auch oft.»

«Das trifft sich ausgezeichnet.»

«Überhaupt bin ich das genaue Gegenteil der Frau, die jemand aus Harrington eigentlich heiraten sollte.»

«So und nicht anders wünsche ich mir meine Frau – tapfer, aufrichtig, treu. Ich liebe dich mehr, als ich es jemals für möglich gehalten hätte.»

«Bist du müde?» flüsterte sie nach einer Weile.

«Wie kann man nur so dumm fragen», sagte er und küßte sie. Danach lagen sie wieder Arm in Arm.

«Wenn du nicht bei mir gewesen wärst, hätte ich nicht durchgehalten, Harry.»

«Ohne mich wäre das alles nie passiert, vergiß das nicht», entgegnete er schroff.