8
Inspektor Wraight saß an seinem Schreibtisch und seufzte. Abgesehen von dem üblichen Verwaltungskram hatte das Wochenende auch für die Kriminalstatistik gesorgt: drei Einbrüche, zwei Diebstähle, ein Mordversuch, eine schwere Körperverletzung, zwei Vermißtenmeldungen, acht Parkuhren und drei Münzfernsprecher geplündert, neun Autodiebstähle und die Anzeige einer alten Dame – die neunte in zwei Jahren –, daß sie von einem Chinesen vergewaltigt worden sei.
Das Telefon klingelte. Der Superintendent erkundigte sich nach dem Stand der Ermittlungen über den Einbruch, der letzten Sonnabend im Haus des Bürgermeisters verübt worden war. Wraight berichtete, sie seien ein gutes Stück weitergekommen. Nachdem er ihm mitgeteilt hatte, daß der Bürgermeister einen fürchterlichen Wirbel mache, legte der Superintendent auf. Jeder Bürgermeister sollte mindestens zwei Einbrüche erleben, dachte Wraight schadenfroh. Dann merkt er wenigstens, daß er auch nur ein gewöhnlicher Sterblicher ist.
Das Telefon klingelte schon wieder. «Anruf vom Labor, Sir.»
«Okay. Verbinden Sie.»
Eine dünne, hohe Stimme meldete sich: «Die Untersuchung der Farbproben ergab eine völlige Übereinstimmung. Wir mußten das ganze Testmaterial verbrauchen. Möchten Sie die Originalproben zurückhaben?»
«Danke, nicht nötig. Ihr Mann kann doch auch ohne das vor Gericht aussagen?»
«Ja, natürlich. Das wär’s. Den schriftlichen Bericht kriegen Sie so bald wie möglich, aber wir haben alle Hände voll zu tun.»
«So geht’s Ihnen nicht allein», brummte Wraight und legte auf. Er überflog seine Notizen. Juristisch war jetzt einwandfrei erwiesen, daß der Hillman die Frau überfahren hatte. Er drückte auf eine Taste der Sprechanlage und sagte zu Ackers: «Ich möchte Simon hier verhören, Reg.»
«Sehr wohl, Sir. Haben Sie seine Aussage gelesen?»
«Ja.» Wraight ließ die Taste los. Er ärgerte sich über Ackers. Da man ihm das Vernehmungsprotokoll von Simon mitten auf den Schreibtisch gelegt hatte, wäre er – wenn er es nicht gelesen hätte – entweder blind oder dumm gewesen. Vielleicht hielt Ackers ihn für beides.
Der Fahrer des Hillman wurde von den Augenzeugen als betrunken geschildert. Das war bei allen Unfällen das gleiche, ebenso wie die Bemerkung: «Ich wußte, daß etwas Schreckliches passieren würde.» Diesmal jedoch war der Fahrer höchstwahrscheinlich tatsächlich betrunken gewesen. Wie hätte er sonst eine Frau überfahren können, die reglos am Straßenrand stand?
Wraight rief im Bereitschaftsraum der Kriminalpolizei an und beauftragte einen Beamten, zur Clairmont Road zu fahren und im Umkreis von zwei Kilometern sämtliche Kneipen abzuklappern, ob man sich an einen Mann erinnerte, auf den Simons Beschreibung zutraf und der am Sonnabendvormittag dort getrunken hatte.
Das Telefon klingelte. «Ein Anruf für Sie, Sir. Ein Mr. Brissom.»
«Verbinden Sie.»
«Mr. Wraight?»
«Am Apparat, Mr. Brissom.»
«Ich habe heute morgen einen Drohbrief erhalten. Die Worte wurden aus einer Zeitung ausgeschnitten.»
«Inhalt?»
«Vergessen Sie, was Sie gesehen haben, sonst passiert was.»
«Könnte ich heute nachmittag bei Ihnen vorbeischauen, oder wollen Sie mich aufsuchen?» fragte Wraight.
«Ich komme zu Ihnen.»
«Das wäre sehr nett. Paßt Ihnen drei Uhr?»
«Ja, ausgezeichnet.»
«Vergessen Sie bitte nicht, den Brief mitzubringen.»
Wraight legte auf und zündete sich eine Zigarette an. Was war hier Wahrheit und was Bluff?
Harry und Mary fuhren nach Prinicerow, einem kleinen Küstenstädtchen, wo Freunde von ihnen einen zwischen zwei Landzungen gelegenen Privatstrand besaßen.
Nach dem Schwimmen nahmen sie ein Sonnenbad. Harry öffnete den Picknickkorb und holte zwei Flaschen heraus. «Gin oder Whisky?» Er sah sie an. Unglaublich, wie zart sie trotz ihres kräftigen Appetits war. Sie trug einen einteiligen Badeanzug, dessen einzige modische Konzession der Rückenausschnitt war. Mary im Bikini – undenkbar. Ihre kühle Selbstbeherrschung konnte ihn manchmal rasend machen. Verbarg sich denn hinter dieser Fassade kein Funken Leidenschaft?
Er goß ihr einen Drink ein, und sie setzte sich auf. «Danke, Harry. Wollen wir nicht unsere Flitterwochen an einem einsamen Strand verbringen, wo von morgens bis abends die Sonne scheint?»
«Und wo? In Brighton vielleicht?»
Sie lachte.
Er schenkte sich einen Whisky ein und hob sein Glas. «Auf uns zwei!»
«Weißt du, daß es bis dahin nur noch zwei Monate, drei Wochen und vier Tage sind? Übrigens mag ich den Namen Brissom nicht besonders.»
«Diese Überlegung kommt etwas spät, findest du nicht?»
«Sei doch nicht kindisch! Von mir aus kannst du heißen, wie du willst – ich würde dich trotzdem lieben und heiraten.»
Er beugte sich herüber und küßte sie. Gleich darauf machte sie sich los und sah über die Schulter auf den Strandweg.
«Es kommt niemand», sagte er.
«Ich weiß, aber … Mutter sagt immer, es kommt auf dasselbe heraus, ob man sich in der Öffentlichkeit küßt oder ob eine Frau auf der Straße raucht.»
«Typische Nichtraucherin.»
«Ach, Unsinn! Du weißt genau, was ich meine.»
Damit hatte sie leider recht. Manches tat man eben nicht. Nicht einmal heutzutage. Seufzend holte er aus dem Picknickkorb ein Päckchen Zigaretten und bot ihr eine an.
«Laß uns den ganzen Nachmittag hier bleiben, Harry», sagte sie. Sie stellte das Glas in den Sand und lehnte sich zurück.
Er trank einen Schluck. «Ich muß früher zurück.»
«Warum denn? An einem solchen Tag wirst du doch nicht nach London fahren, um irgendeinen kleinen Gauner zu verteidigen!»
«Das nicht.»
«Was denn?»
«Ich muß zur Polizei.»
«Wegen des Anrufs? Muß das unbedingt heute sein? Das kannst du doch auch morgen erledigen.»
«Ich habe heute früh einen Brief gekriegt.»
Sie rollte sich herum und stützte sich auf. «Was für einen Brief?»
«Einen Drohbrief.»
Sie holte tief Luft «Noch einen?»
«Es war der erste Brief, Mary.»
«Schon gut. Und was stand drin?»
«Daß ich das, was ich gesehen habe, vergessen soll.»
«Und die Drohung?»
«Sonst passiert was.»
«Was?»
«Das war alles.»
Sie setzte sich auf. «Was willst du tun, Harry?»
«Ich habe bereits die Polizei informiert.»
«Aber gerade davon hat dich der Mann am Telefon doch gewarnt!»
«Sicher, das gehört zu den Spielregeln.»
«Spiel nennst du das? Harry, ich habe Angst.»
«Dazu besteht kein Anlaß, Liebling.»
«Ach? Und was ist mit dem Anruf? Und mit dem Brief? So etwas macht kein Mensch zum Spaß.»
«Die Polizei wird schon damit fertig werden.»
«Und wenn nicht? Was willst du tun, wenn die Polizei den Mann nicht findet?»
«Wie meinst du das?»
«Angenommen, du sollst den Fahrer identifizieren – würdest du das tun?»
«Selbstverständlich.»
«Warum?»
Er sah sie verblüfft an. «Aber das muß ich doch.»
«Wer sagt das?»
«Da ich den Mann gesehen habe, ist es meine Pflicht, ihn zu identifizieren.»
«Aber die Drohungen …»
«Wenn jede solche Drohung die Menschen zum Schweigen bringen würde, gäbe es weder Recht noch Gesetz, verstehst du? Das wäre die Bankrotterklärung der Justiz. Ich habe die unbedingte Pflicht, auszusagen.»
«Und du hast auch die unbedingte Pflicht, am Leben zu bleiben. Wir heiraten nämlich bald – oder hast du das vergessen?»
«Du nimmst die Sache viel zu ernst.»
«Soll ich vielleicht darüber lachen?» Sie zwang sich, ruhiger zu sprechen. «Sieh mal, Harry, natürlich kenne ich deine Ansichten über Recht und Gerechtigkeit. Aber was geht dich dieser Unfall überhaupt an? Er betrifft dich doch nicht persönlich. Warum willst du dann unbedingt deinen Kopf hinhalten?»
«Das ist doch nicht dein Ernst?»
Nach kurzem Zögern sagte sie tonlos: «Also gut. Wann müssen wir losfahren?»
«Kurz nach zwei.»
Sie legte sich zurück und schloß die Augen. Draußen kreuzte eine Jacht mit rotem Focksegel und weißem Großsegel langsam von Ost nach West. Er fragte sich, ob hinter Marys Reaktion nicht etwas anderes steckte. Vielleicht hatte sie sich heute morgen mit ihrer Mutter gestritten? Denn Mary wußte schließlich, daß nichts ihn dazu bringen würde, sich selbst oder seine Auffassung von Gerechtigkeit zu verraten.
Er trank aus und nahm sich noch einen Whisky. Eigentlich hatte er von ihr Verständnis und Unterstützung erhofft, denn dieser Brief beunruhigte ihn doch wesentlich mehr, als er zugeben wollte.
Als Wraight kurz vor dem Mittagessen auf die Polizeiwache zurückkehrte, erfuhr er, daß Simon seit einer Viertelstunde auf ihn wartete. Er ging in sein Büro und suchte nach der ersten Aussage Simons. Daran angeheftet war ein Bericht des Kriminalbeamten Lloyd. Am Sonnabend vormittag hatte ein Mann, auf den die Beschreibung Simons zutraf, im Flying Horseman gesessen und getrunken. Einer der Barmixer erinnerte sich an ihn. Er hatte mindestens fünf doppelte Whiskys getrunken. Und wenn ihn noch ein Kollege bedient hatte, konnten es auch wesentlich mehr gewesen sein. Der Barmixer hatte keine Ahnung, ob er allein oder in Begleitung eines Freundes dagewesen war, weil an jenem Morgen Hochbetrieb geherrscht hatte. Unter dieser Aussage stand eine Bemerkung Lloyds. Der Flying Horseman lag ungefähr achthundert Meter vom Unfallort entfernt, und mit dem Auto führte der Weg zu Simons Haus durch die Clairmont Road. Lloyd hatte sogar noch eine kleine Straßenskizze angefügt.
Wraight nahm Simons Aussage und den Bericht und ging hinunter ins Verhörzimmer. Simon saß an einem einfachen Holztisch, während ein uniformierter Polizist neben der Tür stand.
Wraight schüttelte Simon die Hand. «Vielen Dank, daß Sie vorbeigekommen sind.»
«Keine Ursache, mein Bester. Ich hab nur ’n bißchen lange warten müssen», dröhnte Simon.
«Das tut mir leid, aber ich wurde aufgehalten.»
«Macht ja nichts, ich wollt’s Ihnen bloß gesagt haben. Zeit ist Geld.»
Wraight setzte sich und legte die Schriftstücke vor sich auf den Tisch.
«Immer noch mit dem Unfall beschäftigt, was?» fragte Simon.
«Genau. Nach den Laborbefunden steht jetzt einwandfrei fest, daß die Frau mit Ihrem Wagen überfahren wurde.»
«Schrecklich.» Simon schwieg. «Allerhand, was man heutzutage so alles rausfinden kann. Ich bin richtig platt, wie ihr das macht!»
Wraight ordnete seine Papiere so, daß Simons erste Aussage direkt vor ihm lag. Er vergewisserte sich, ob der Polizist zum Mitschreiben bereit war, und begann das Verhör. «Ihr Wagen wurde also gestohlen, nachdem Sie ihn in der Ruyter Road geparkt hatten?»
«Richtig. Ich hatte ein paar Einkäufe zu erledigen. Die übliche Kiste Havannas und …»
«Das war gegen elf Uhr fünfzehn?»
«Ja, ungefähr. Meine goldene Uhr ist nämlich gerade in Reparatur, und die andere geht nicht genau.»
«Der Diebstahl fand um elf Uhr fünfzehn statt, aber Sie meldeten ihn erst zehn vor eins?»
«Ich weiß, das klingt ein bißchen komisch. Ehrlich gestanden, zuerst dachte ich, ich leide an Gedächtnisschwäche und habe verschwitzt, wo ich den Wagen geparkt hatte. Also klapperte ich erst mal alle umliegenden Straßen ab, bis mir dann schließlich dämmerte, daß ich gar nicht so dämlich war und daß man mir den Wagen geklaut hatte.»
«Sie haben den ganzen Tag über weitergesucht?»
«Nicht, nachdem ich euch angerufen hatte. Da war’s ja euer Bier. Außerdem war die alte Karre ja versichert. Ich habe mich neulich mal in der Garage erkundigt, wieviel sie mir auf ’nen neuen anrechnen würden. Der Knabe hat ihn sich angesehen und gesagt: ‹Fünfzehn Pfund fürs Blech und fünf Shilling für den Rost.› Der hatte Humor, was?»
«Sie haben also Ihren Wagen rein zufällig wiedergefunden?»
«Ja, das war wirklich ein toller Zufall. Ich wollt gerade ein paar Freunde besuchen, und da seh ich ’nen Wagen, der könnt der Zwilling von meinem sein – sogar die Rostflecken stimmen! Und dann war er’s tatsächlich.»
«Wirklich ein toller Zufall», sagte Wraight liebenswürdig.
«Haben Sie letzten Sonnabend vormittag etwas getrunken?»
«Ich rühre grundsätzlich keinen Alkohol vor Sonnenuntergang an.»
«Sie sind auch nicht im Flying Horseman gewesen?»
Simon erschrak und befeuchtete seine Lippen. «Wo … wo … soll ich gewesen sein?»
«Im Flying Horseman, in einer Querstraße der Clairmont Road.»
«Kenn ich nicht.»
«Dann werden Sie ja bestimmt nichts dagegen haben, wenn wir zusammen dorthinfahren.»
«Wozu?»
«Um festzustellen, ob einer der Barmixer Sie erkennt.»
«Wie soll er denn, wenn ich nie dagewesen bin?»
«Dann braucht es Ihnen ja erst recht nichts auszumachen. Wir fahren im Wagen hin, und auf dem Rückweg setze ich Sie zu Hause ab. Auf diese Weise sparen Sie sogar Zeit.»
Simon zog ein Taschentuch heraus und wischte sich den Schweiß von der Stirn. «Verdammt heiß heute.»
«Allerdings. Ist es Ihnen recht, wenn wir gleich losfahren?»
«Ich … ich möchte lieber nicht.»
«Warum?»
«Sie können mich nicht dazu zwingen.»
«Warum weigern Sie sich?»
«Das ist ’ne Falle.»
«Warum sollten wir Ihnen eine Falle stellen?»
Wieder trocknete sich Simon die Stirn. «Na ja … vielleicht bin ich doch irgendwann mal im Flying Horseman gewesen.»
«Tatsächlich?»
«Das kennen Sie doch auch? Manchmal sagt einem ein Name rein gar nichts, und plötzlich klingelt’s laut und deutlich.»
«Und jetzt hat es geklingelt?»
«Ich … ich könnte irgendwann mal in der Kneipe gewesen sein, aber letzten Sonnabend bin ich nicht mal in die Nähe gekommen. Wenn ein Barmixer was anderes behauptet, dann ist er ein verdammter Lügner, verstanden?»
Simon trocknete sich Gesicht, Stirn und Hals. Er schwitzte so heftig, daß sein Kragen durchgeweicht war.
Am gleichen Nachmittag verließ Harry das Polizeirevier um drei Uhr fünfundzwanzig. Er setzte sich in seinen Wagen und zündete sich eine Zigarette an. Der Inspektor hatte ihm aufmerksam zugehört, den Brief und den dazugehörigen Umschlag eingehend untersucht, ihn gefragt, ob er dem Fahrer des Hillman je zuvor begegnet sei, und ihn gebeten, einer Identitätsparade beizuwohnen. Damit war die Unterredung beendet. Wraight war überaus höflich gewesen, aber nicht mehr.
Harry versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Hatte er etwa nur deshalb etwas an Wraight auszusetzen, weil seine Nerven am Zerreißen waren und er erwartet hatte, daß die gesamte Kriminalpolizei alles stehen- und liegenlassen und sich ausschließlich mit dieser einen Sache befassen würde? Vielleicht waren solche Drohungen an der Tagesordnung und erfahrungsgemäß nur in den seltensten Fällen ernst zu nehmen? Zwar hatte er Mary gesagt, sie solle sich keine Sorgen machen, aber das war leichter gesagt als getan.
Nun, eins stand jedenfalls fest: je mehr er darüber nachgrübelte, desto schlimmer wurde es. Die Polizei hatte wahrscheinlich recht, wenn sie die Drohungen für bedeutungslos hielt. Er mußte sich vor der gezielten psychologischen Wirkung hüten und durfte sich durch die Angst vor dem Unbekannten nicht in einen Zustand der Hilflosigkeit und Ausweglosigkeit hineintreiben lassen.
Eine Viertelstunde später in Orton Rise. Seine Mutter saß im Wohnzimmer an dem kleinen Chippendale-Schreibtisch. «Na, was hat die Polizei gesagt, Harry?» begrüßte sie ihn.
«Der Inspektor will sich mit der Sache befassen.»
«Aber er wird doch gleich etwas unternehmen?»
«Natürlich.»
«Was?»
«Das wird er mir wohl kaum auf die Nase binden.»
Sie musterte ihn prüfend. Sein scharfer Ton bewies, daß er besorgter war, als er zugab.
Er zündete sich eine Zigarette an.
«Hat er irgendeine Vermutung, wer den Brief geschrieben haben könnte?»
«Nein. Eigentlich …»
«Na, Harry?»
«Er schien ihn sogar für unwichtig zu halten, zumindest hatte ich den Eindruck. Andererseits gehört er zu den Menschen, bei denen man nie weiß, was sie wirklich denken.»
«Er kann doch solche Drohungen nicht einfach abtun!»
«Natürlich nicht.»
«Harry?»
«Ja?»
«Auch wenn Charles das Ganze bagatellisiert … sollten wir es nicht … ernst nehmen?»
«Es hat keinen Sinn, sich den Kopf zu zerbrechen, Mutter.»
Sie unterdrückte eine Antwort. Harry pflegte von jeher solche Dinge mit sich allein auszumachen, und das mußte sie wohl oder übel respektieren. Sie wandte sich wieder ihren Briefen zu. Harry verließ das Zimmer, und kurz darauf hörte sie ihn fortfahren.
Um Viertel vor fünf, als sie gerade in der Küche Tee kochte, klingelte es an der Haustür. Sie öffnete. Vor ihr stand ein junger Mann mit brandrotem Haar.
«Guten Tag. Mrs. Brissom? Ich bin Sergeant Ackers von der Kriminalpolizei.»
«Kommen Sie doch bitte herein. Möchten Sie mit meinem Sohn sprechen?»
«Im Augenblick nicht, danke. Hätten Sie was dagegen, wenn ich mir Ihre Mülltonne anschaue?»
«Aber … aber wozu denn?» stotterte sie verblüfft.
«Ich möchte etwas nachprüfen.»
Nach kurzem Zögern führte sie ihn über die kiesbestreute Auffahrt zur Rückfront der Garage. Das Haus war von einem großen Garten umgeben, und der Rasen reichte bis zu der Buchsbaumhecke, die den Hintereingang und die kleine, geflieste Fläche verdeckte, auf der die Plastikmülltonnen standen. Sie beobachtete, wie der Kriminalbeamte den Deckel der ersten Mülltonne hochhob und hineinsah. Sie war übervoll, und er machte sie gleich wieder zu. Dann öffnete er die zweite, kippte sie etwas zur Seite, drehte sie langsam im Kreis, langte schließlich hinein und zog eine zerknitterte Zeitung heraus. Er glättete sie und faltete sie auseinander.
Sie bemerkte, daß aus den Seiten Teile herausgeschnitten worden waren, maß dem zunächst jedoch keinerlei Bedeutung bei.
«Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich die Zeitung mitnehme?» fragte er und steckte sie ein, ohne ihre Antwort abzuwarten.
«Wozu brauchen Sie sie denn?»
«Wir suchen nach der Zeitung, aus der die Worte des Drohbriefes stammen, den Ihr Sohn heute morgen erhielt, Madam.»
«Aber … aber das kann sie doch unmöglich sein!»
«Das wissen wir erst mit Bestimmtheit, wenn wir dieses Exemplar des Daily Express mit einem anderen vergleichen und genau feststellen, was herausgeschnitten wurde.»
«Aber wir sind ja gar nicht auf den Daily Express abonniert!»
«Immerhin lag diese Ausgabe in Ihrer Mülltonne, Mrs. Brissom.»
«Sie glauben doch nicht etwa …»
«Ich möchte Sie jetzt nicht länger stören.» Er machte kehrt, ging um die Hecke herum und über den Rasen auf das Gartentor zu.
Sie starrte auf die Mülltonne.
Zehn Minuten später kam Harry zurück. Betty erwartete ihn an der Haustür.
«Harry …»
«Was ist los, Mutter? Was ist passiert?»
«Eben … eben war ein Kriminalbeamter da und wollte unbedingt die Mülltonnen durchsuchen.»
«Wozu denn das?»
«Er hat die Zeitung gefunden, aus der die Worte ausgeschnitten worden sind – die Worte, die in dem Drohbrief standen.»
Er fixierte sie ungläubig. «Meine Güte», murmelte er schließlich.
Das Telefon klingelte. Kirkland nahm den Hörer ab. «Ja?»
«Bist du’s, Ray?»
«Wer denn sonst? Der Premierminister vielleicht?»
«Bei denen ist ein Bulle gewesen, Ray.»
Kirkland lächelte.
«Er hat die Mülltonnen durchsucht und die Zeitung gefunden. Ray, du bist ein Genie!»
«Da kann sich die Polente mal den Kopf zerbrechen.» Er betrachtete seine linke Hand und stellte fest, daß die Nägel dringend geschnitten werden mußten. Brissom würde auch bald was zu knabbern kriegen. Harlow hatte den Vormittag im Archiv der Reppleton Gazette verbracht und in einer Januarnummer die Verlobungsanzeige und eine Aufnahme des glücklichen Paares entdeckt. Die Bildunterschrift enthielt unter anderem Name und Adresse der Braut.