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Die Julisonne schien durch die Äste der riesigen Zeder und malte leuchtende Kringel auf die Hausmauern von Orton Rise. Im Frühstückszimmer, das nach Südosten lag, rückte Betty Brissom ihren Stuhl hin und her, bis sie das Licht nicht mehr blendete.

Charles musterte Betty und stellte wieder einmal erfreut und stolz fest, wie wenig ihr die Jahre anhaben konnten. Natürlich war ihr Haar ergraut, und sie mußte jetzt häufiger eine Brille tragen, aber trotzdem hatte sie sich während der neunundzwanzig Ehejahre ihre Ausgeglichenheit und Zufriedenheit bewahrt. Das war wahrscheinlich der Grund dafür, daß sie wesentlich jünger aussah als einundfünfzig.

«Mußt du heute früh weg?» fragte sie.

«Nein, ich hab zuviel zu erledigen.»

«Deine Arbeit bringt dich noch vorzeitig ins Grab, Charles. Dein letztes freies Wochenende liegt schon eine Ewigkeit zurück.»

«Ich werde bald ein paar Monate Urlaub nehmen, und dann machen wir eine Kreuzfahrt, ja?»

«Das versprichst du mir schon seit Jahren.»

«Unverhofft kommt oft. Vielleicht sogar schneller, als du denkst …»

Harry erschien, setzte sich an den Tisch und sah seine Post durch.

Betty schenkte ihm Kaffee ein. «War die Party nett, Harry?»

«Ja, ganz nett, Mutter. Es gab reichlich zu trinken, und Georges Eltern waren außerdem so rücksichtsvoll, bis zum Schluß wegzubleiben.»

«Und wie geht’s Mary?» erkundigte sich Betty.

«Blendend, danke. Übrigens seid ihr zu einem Bridgeabend eingeladen. Mrs. Keighley hofft sehr auf euer Kommen.»

«Ich habe viel zu tun», erklärte Charles hastig.

«Ich finde, wir sollten hingehen», meinte Betty. «Schließlich haben wir jetzt schon das zweite Mal abgesagt.»

«Und das nicht ohne Grund. Mary wird bestimmt eine reizende Schwiegertochter, aber Mrs. Keighley ist ein Fall für sich.»

«Du bist ein gräßlicher Zyniker, Charles. Außerdem bist vor allem du selbst daran schuld. Jedesmal wenn du mit ihr zusammen bist, entwickelst du nämlich einen solchen Charme, daß sie einfach glauben muß, eine Eroberung gemacht zu haben. Jetzt mußt du eben die Folgen auf dich nehmen.»

Charles zwinkerte seinem Sohn zu. «Die Moral von der Geschichte: sei zu jedem grob und lerne nie Bridge spielen.»

Harry strich sich einen Toast, ging dann zum Rechaud und nahm sich Eier und Schinken. Marys Mutter liebte Gin, Bridgeabende und die Erinnerungen an die gute alte Zeit in den Kolonien, wo ihr Mann Regimentskommandeur gewesen war. Er ertrug sie um Marys willen und tröstete sich oft mit dem Gedanken, daß sie einer aussterbenden Gattung angehörte.

Er schlug den Guardian auf und begann zu lesen.

«Bist du zum Mittagessen da, Harry?» fragte Betty.

«Nein, heute nicht, Mutter. Das hab ich dir doch schon gesagt.»

«Wirklich? Anscheinend wird mein Gedächtnis tatsächlich so schlecht, wie dein Vater immer behauptet.»

«Zum Mittagessen bin ich mit Mary verabredet, und heute abend gehen wir auf eine Party bei den Praters. Ich komme also auch nicht zum Abendbrot.»

«Richtig, jetzt erinnere ich mich!»

Charles ließ die Zeitung sinken. «Machst du bei der großen Demonstration heute mit, Harry?»

«Ich schaue es mir mal an und rede mit ihnen, aber …»

«Also keine Transparente schwingen?»

«Erst wenn du mit dem Frühstück fertig bist», meinte Betty kurz angebunden. Charles und Harry ließen sich oft in sogenannte sachliche Diskussionen ein, die für sie allerdings eher nach einem handfesten Krach klangen. Hinter seinem weltmännischen Charme war Charles ein Realist, der sich längst mit der Unvollkommenheit der Welt abgefunden und zu der Auffassung durchgerungen hatte, daß der Zweck häufig die Mittel heiligt. Harry wiederum, obwohl angehender Jurist, war in vielem Idealist geblieben und vertrat Ansichten, die Charles oft als naiv bezeichnete. Für Harry konnten die Mittel niemals den Zweck heiligen.

Vater und Sohn lasen schweigend – für beide ein bewährtes Mittel, wenn Bettys Stimme diesen scharfen Unterton hatte.

Charlie Weldun parkte seinen Wagen und schloß ihn ab. Er verließ den Parkplatz, schlenderte an einem Kino vorbei durch eine enge Passage und bog in die Rowse Street ein.

Er blieb stehen, zündete sich eine Zigarette an und schaute hinüber zur Bank, einem stillosen, langweiligen Backsteingebäude.

Eine atemberaubende Vorstellung, daß die einheimischen Firmen vor den Betriebsferien eine Viertelmillion im Tresor deponieren würden. Sein größter Fischzug waren bisher etwas über zweitausend Pfund gewesen, aber dafür hatte er auch wochenlang wie ein Galeerensklave schuften müssen.

Rechts von der Bank lag das Lebensmittelgeschäft, aus dem Ray Kirkland inzwischen einen Supermarkt gemacht hatte. In einem der Schaufenster war ein riesiges Reklameschild: «Waschpulver um Sixpence billiger!» Und darunter: «Einmaliges Sonderangebot in Obstkonserven!» Der Strohmann verstand sein Geschäft; der Laden ging ausgezeichnet und warf einen hübschen Profit ab. Harlow hatte im Jux vorgeschlagen, doch den Bankjob sausen zu lassen, ein paar Supermärkte zu eröffnen und damit auf rechtmäßige Weise ein Vermögen zu machen. Aber wer konnte schon an einem einzigen Wochenende eine Viertelmillion verdienen?

Weldun ging weiter. Er dachte an diese Viertelmillion und an die unüberwindliche Alarmanlage, vor der selbst Ray Kirkland kapituliert hatte. Der einzige, der behauptete, es schaffen zu können, war dieser aufgeblasene Prahlhans Andrew Simon, der sich so gern Major nannte.

Simon gehörte zu den Menschen, die mit allen Mitteln etwas anderes zu sein versuchen, als sie in Wirklichkeit sind. Ein Betrüger, der sich selbst betrog. Er sprach affektiert, trug die Krawatten einer Schule, die er nie besucht hatte, und warf mit den Namen bekannter Leute um sich, denen er nie begegnet war. Jeder echte Gauner durchschaute das natürlich sofort, aber Simon war eben dumm. So hatte er zwar damit geprahlt, dank seiner Intelligenz mit dem Alarmsystem fertigwerden zu können, jedoch weitere Auskünfte verweigert, da er ja schließlich ein ehrlicher Mensch sei. Als Kirkland ihn mit den Spielschulden unter Druck setzte, hatte Simon sich keineswegs einschüchtern lassen. Daraufhin versuchte Kirkland es mit Bestechung, aber Simon lehnte wiederum mit der Begründung ab, daß er ja schließlich ein anständiger, ehrlicher, unbestechlicher Mensch sei. Bei diesen Worten war Kirkland der Geduldsfaden endgültig gerissen. Nun mußte man eben Gewalt anwenden. Körperliche Schmerzen wirkten oft Wunder, und Weldun sollte sich von dem Erfolg dieser Therapie überzeugen.

Er nahm einen Bus, stieg bei Simons Haltestelle aus und bog an der Verkehrsampel links ein. Vor einem der heruntergekommenen spätviktorianischen Häuser blieb er stehen und klopfte.

Simon öffnete. Sein Nasenrücken war mit Heftpflaster verklebt und sein linkes Auge völlig zugeschwollen.

«Guten Tag, Major», sagte Weldun munter. «Wie geht’s denn immer?»

Simon gab keine Antwort.

«Herrliches Wetter heute, aber es macht durstig. Mir ist sehr nach einem Drink. Willst du mir nicht Gesellschaft leisten, Major?»

«Ich möchte nicht …»

«Du wirst mir das doch nicht abschlagen und deinen alten Freund verdursten lassen?»

«Ich fühle mich nicht wohl.»

«Da sind ein paar Whiskys das beste Heilmittel. Die Arznei wirkt immer.» Weldun trat ein. Wenn Simon von seinem Haus erzählte, mußte man immer an eine Traumvilla denken, aber in Wirklichkeit war es schmutzig und verwahrlost.

Eine Frau kam die Treppe herunter. Auf dem kleinen, schmächtigen Körper saß ein viel zu großer Kopf. Ihr Gesicht war plump und eher häßlich. Und dieses groteske Wesen nennt Simon nun immer seine «liebliche Rose», dachte Weldun verächtlich.

«Was gibt’s?» keifte sie.

«Nichts», murmelte Simon. «Nur ein Freund von mir.»

«Guten Tag, Mrs. Simon», sagte Weldun.

«Sie haben ihn verprügelt», erklärte sie unvermittelt. «Wußten Sie davon? Drei haben ihn verdroschen und ihm das Nasenbein gebrochen. Er mußte ins Krankenhaus. Sie hätten ihn glatt umbringen können!»

«Das tut mir in der Seele leid, Mrs. Simon. Schrecklich, in was für einer Welt wir leben müssen.»

«Wissen Sie, wer das war?»

«Woher sollte ich?»

«Warum haben sie das bloß getan?»

«Hör schon auf», murmelte Simon verdrossen.

«Sie hätten dich umbringen können.»

«Haben sie aber nicht. Verschwinde.»

Sie warf Simon einen giftigen, angewiderten Blick zu, ging in ein Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.

Weldun zündete sich eine Zigarette an. «Na, wie wär’s mit einem Gläschen, Major? Mein alter Doktor pflegte zu sagen, ein paar Whiskys bringen jeden Kranken wieder auf die Beine, nur Tote nicht, und die kann man ja begraben.»

Simon zitterte vor Aufregung und ließ sich schließlich auf die Straße führen. Er war ein großer, stämmig gebauter Mann, dessen Knochen in Fleischberge eingebettet waren. Er schwitzte ununterbrochen und rieb sich immer wieder Gesicht, Stirn und Nacken mit einem bunten Taschentuch ab, das mit Jagdszenen bedruckt war.

«Wohin gehen wir?» fragte Weldun. «Hier in der Nähe gibt’s ’ne nette, kleine Kneipe, den Flying Horseman. Der Whisky dort soll erstklassig sein – ganz mild. Hast du ’nen Wagen, damit wir unsere Beine schonen?»

Simon nickte, trocknete sich die Stirn und betastete vorsichtig das geschwollene Auge. Er zeigte auf einen zehn Meter entfernten Wagen.

Türen und Kotflügel des zwölf Jahre alten Hillman waren stark verrostet. Weldun versuchte vergebens, die Tür zum Beifahrersitz zu öffnen. Wie kann man einen solchen Klapperkasten überhaupt noch abschließen, fragte er sich geringschätzig. Sogar einem Schrotthändler müßte man noch was zuzahlen, damit er ihn abschleppt.

Simon machte ihm auf, und Weldun sank auf den alten, völlig zerschlissenen Sitz.

Simon steckte den Zündschlüssel hinein und drückte auf den Anlasser. Doch plötzlich ließ er die Hand sinken.

«Warum haben sie das getan?» fragte er heftig.

«Von wem sprichst du eigentlich?»

Ruckartig drehte Simon sich um. «Das weißt du doch.» Seine Stimme wurde schrill. «Du bist ja bloß gekommen, um zu sehen, wie’s gewirkt hat! Ziegelsteine haben sie in Socken gestopft und damit auf mich eingeschlagen, ohne einen Ton zu sagen. Ich dachte, sie bringen mich um.»

Weldun zündete sich eine Zigarette an.

«Warum haben sie das gemacht? Warum bloß?»

«Tja, das ist allerdings eine tiefschürfende Frage. Da kann ich nur mit meinem alten Lehrer sagen: Warum handelt der Mensch so und nicht anders?»

«War’s wegen der Schulden? Ich zahle alles zurück, das schwör ich. Ich hab’s versprochen, und das halte ich auch. Ein Mann – ein Wort.»

«Na klar, Major. Spielschulden sind Ehrenschulden, und ein Ehrenmann zahlt seine Ehrenschulden immer zurück – das ist doch selbstverständlich!»

«Aber warum haben sie mich dann verprügelt? Warum denn bloß?»

«Woher soll ich das wissen?»

«Liegt’s daran, daß … daß ich nicht gesagt habe, wie man die Alarmanlagen außer Betrieb setzen kann? Aber, ich hab mir in meinem ganzen Leben noch nie was Ernstliches zuschulden kommen lassen. So was kann ich einfach nicht machen!»

Weldun schnippte seine Zigarettenasche auf den Boden.

«So red schon!» drängte Simon.

«Wie meine Mutter selig zu sagen pflegte: Im Leben bleibt einem eben nichts erspart. Vielleicht hofften sie auf deine Hilfsbereitschaft und waren erbost, als du dich geweigert hast. Bedauerlicherweise sind die meisten Menschen viel zu reizbar.»

«Aber ich hab dir doch erklärt, daß ich zu keinem Menschen ein Wort über die Alarmanlagen verlauten lassen werde!»

«Stimmt. Und da hab ich mir gedacht: endlich mal ein Mann, der was auf seine Ehre hält. Aus lauter Ehrgefühl hast du das schöne Geld ausgeschlagen, und dabei brauchst du’s wirklich nötig. Hut ab, Major, du bist ein Ehrenmann vom Scheitel bis zur Sohle, und Mut hast du auch.»

«Was … was soll das heißen?»

«Major, du bist doch fest entschlossen, ein Ehrenmann zu bleiben, auch wenn sie wiederkommen, oder etwa nicht?»

«Wiederkommen?»

«Allerdings. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Du hast wirklich Mut, Major. Ich bewundere dich, denn ich bin ein Feigling. Mir ist meine Gesundheit lieber, und ich kann Schmerzen nicht ertragen.»

Simon drückte auf den Anlasser. Der Motor sprang an.

«Ich … ich kann das nicht tun», sagte er heftig.

«Du bist eben ein echter Held.»

Simon wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er schaltete in den ersten Gang und bog in die Straße ein. Sein verletztes Auge brannte, er empfand einen stechenden Schmerz an der Nasenwurzel, und bei jedem Atemzug taten ihm die Rippen weh. Er hatte wirklich geglaubt, daß sie ihn umbringen wollten. Vergebens hatte er sie angefleht, aufzuhören.

Sein Leben war ein einziges Lügengebilde gewesen. Natürlich wußte er, wer er in Wirklichkeit war, und doch hatte er sich mit seiner angenommenen Rolle so sehr identifiziert, daß ein Teil seines Wesens an das Bild, das er sich von sich selbst geschaffen hatte, wie an etwas Reales glaubte. Nun hatten die Prügel diese Idealvorstellung zerstört, und zum erstenmal seit vielen Jahren mußte er der Wahrheit ins Gesicht sehen.

Dieser eine Überfall hatte genügt, ihn seine Verlogenheit erkennen zu lassen. Und nun erklärte Weldun, daß es noch viel schlimmer kommen würde. Er hatte einmal gelesen, daß fachgerechte Schläge genauso qualvoll sein könnten wie jede Folter. Das Geheimnis bestand lediglich darin, immer wieder dieselbe Stelle zu treffen, bis sie nur noch weißglühende Qual war …

«Sachte, sachte, Major, sonst landen wir beide auf dem Friedhof.»

Simon riß sich zusammen und sah, daß ein Lastwagen vor ihnen gehalten hatte. Hart trat er auf die Bremse, die Reifen quietschten, und der Hillman kam kurz vor dem Laster zum Stehen, der mit weit überragenden Stahlträgern beladen war.

«Wohl ein bißchen zerstreut, was?» fragte Weldun.

Simon hatte Weldun bisher für einen dümmlichen Schwätzer gehalten, doch plötzlich bröckelte die Fassade ab, und er entdeckte hinter dem runden, lächelnden Gesicht die gemeinen und grausamen Züge.

Da Sonnabend war, fanden sie vor dem Flying Horseman eine Parklücke. Als sie das Lokal betraten, wurde gerade ein Ecktisch frei. Sie setzten sich, und Simon wollte – wie gewohnt – die erste Runde ausgeben. Doch Weldun überhörte die Frage, er stand auf, drängte sich zur Bar und bestellte zwei Whisky. Geschickt balancierte er die Gläser zum Tisch.

Als sei nichts geschehen, erzählte er von einem Pferd, das diesen Nachmittag laufen würde – einem Außenseiter mit garantierten Gewinnchancen. Simon hörte kaum zu. Er trank seinen Whisky aus und holte sofort zwei neue. Während er an der Theke wartete, zündete er sich mit zitternden Händen eine Zigarette an.

«Mit Whisky sieht das Leben gleich ganz anders aus», sagte Weldun, als Simon zurückkam. «Spül den Ärger runter, Major. Mein lieber, alter Vater pflegte zu sagen: iß, trink und sei lustig, denn morgen bist du vielleicht schon ein toter Mann. Findest du nicht auch, daß da was dran ist, Major?»

Simon überlief ein Schauer. Wenn er ihnen nicht half, war ihm der Tod sicher.