KAPITEL 22
Tansania
M
egan spannte sich an, sie hörte, wie sich Gradys Hotelschlüssel im Schloss drehte.
»Es ist nicht abgeschlossen, Grady«, rief sie.
Grady riss die Tür auf und sah sie sprachlos an. Er trug Khakis und Stiefel, sein Haar war heller als vor zwei Wochen, seine Haut dunkler – gebräunt von der afrikanischen Sonne.
»Ich habe den Portier bestochen«, sagte sie. »Ich wollte dich nicht in der Lobby wiedersehen. Du solltest wirklich in einem besseren Hotel absteigen. Mich hat es nicht viel gekostet, in dein Zimmer zu kommen. Ich hätte eine Diebin oder Mörderin sein können oder …«
»Dieses Hotel ist genau richtig für mich.« Er schloss die Tür, blieb aber stehen. »Ich verhandle gerade mit einem Stammesführer, und er würde den Preis in die Höhe treiben, wenn ich in einem exklusiveren Hotel wohnen würde.«
Sie zog die Stirn kraus. »Du verhandelst? Du kaufst die armen Mädchen?«
»Ich kann nicht in die Häuser marschieren und sie den Besitzern einfach wegnehmen. Sie gelten als Sklaven, und ich würde letzten Endes womöglich nur erreichen, dass sie getötet werden.« Er lächelte. »Gewöhnlich kann ich den Besitzern klarmachen, dass es besser ist, wenn sie die Mädchen loswerden, und dass ich ihnen nur einen Gefallen tue.«
»Du beeinflusst ihre Gedanken, veränderst ihre Realität.« Sie schüttelte den Kopf. »Das ist ein angsteinflößendes Talent, Grady.«
»Bist du Tausende von Meilen weit geflogen, um mir das zu sagen?«, fragte er ungerührt. »Begreifst du nicht, dass ich weiß, dass genau das das Hindernis ist? Ich habe dich zwölf Jahre lang kontrolliert, und im Unterbewusstsein fürchtest du, dass ich das wieder tun könnte. Ich kann dir schwören, dass ich es nicht mache – das verändert nichts. Die Möglichkeit besteht. Ich könnte stärker werden und du schwächer. Wer, zum Teufel, kann wissen, wie sich ein Talent entwickelt? Andererseits könnte ich die Kraft, die ich besitze, verlieren, und du wirst zu einer Art übersinnlicher Superfrau. Immerhin bist du eine Pandora. Das Potential ist da.«
»Sag das nicht.« Sie schauderte. »Mir wird jedes Mal übel, wenn ich daran denke. Ich habe herumgepfuscht und konnte in Harley positive Kräfte wecken, aber ich könnte genauso gut eine Gefahr für die Menschheit sein. Was, wenn Harley nicht damit fertig geworden wäre? Wenn ich ihn auch vernichtet hätte? Ich habe in der letzten Zeit viel darüber nachgedacht. Der Schlüssel scheint ein Gefühlsausbruch zu sein. Aber wie intensiv müssen diese Gefühle sein? Meine Mutter wurde mehrere Male vergewaltigt, aber erst die letzte Gewalttat hat die Kräfte in ihr wachgerufen. Du hast gesagt, dass sie nie zuvor dieses Talent gezeigt hatte. Wieso hat es sich nicht manifestiert, als sie sich gegen ihren Mörder zur Wehr gesetzt hat?«
»Vielleicht hat es das. Aber ich habe ihn so schnell getötet, dass er nichts davon gemerkt hat.«
»Ich habe jahrelang Patienten behandelt, ohne dass etwas passiert ist. Selbst wenn es stimmt, dass sich dieses Talent erst zeigt, wenn man Mitte zwanzig ist, hätte es dann nicht wenigstens einen Hinweis darauf geben müssen? Vielleicht hat deine Kontrolle verhindert, dass es sich entwickeln konnte. Ich war wütend und hatte Schmerzen, als mir Sienna die Hand fast zerquetscht hat, aber das war nur für einen kurzen Augenblick. Gilt das als heftiger Gefühlsausbruch? Ich musste um mein Leben fürchten, als ich Harleys Hand ergriffen habe, und ich verstehe, dass das etwas ausgelöst hat. Und was hat Harley dazu gebracht, seine Gabe zu akzeptieren, und was hat Sienna in den Wahnsinn getrieben? Habe ich Sienna unbewusst getötet, weil ich ihn gehasst habe? Harley konnte eine Stunde, nachdem ich ihn berührt hatte, Renata heilen. Weshalb habe ich Sienna nicht sofort etwas angemerkt, aber warum ist er nicht gleich verrückt geworden wie Molinos Sohn?«
»In dem Tribunal-Protokoll steht, dass ein Mann nach Rosa Devanez’ Besuch tot aufgefunden wurde«, sagte Grady. »Also scheint es nicht immer gleich abzulaufen.«
»Aber wie kann man das beeinflussen? Kann der Vorgang unterbrochen werden, ehe der Wahnsinn anfängt? Auf welche Anzeichen soll ich achten?«
»Das sind eine Menge Fragen.«
»Das ist nur die Spitze des Eisbergs. Mir schwirren noch tausend andere im Kopf herum. Und jede einzelne macht mir Angst.«
»Und was willst du tun?«
»Ich muss die Grenzen und Fallstricke kennenlernen. Ich kann nicht als Ärztin weiterarbeiten, solange ich nicht weiß, ob ich meinen Patienten schaden kann. Ich habe beschlossen, Renata zu bitten, mir die Chronik zum Lesen zu geben. Das wird nicht leicht. Vielleicht sperrt Renata mich ein und kettet mich an einen Tisch, während ich die Einträge studiere. Nach allem, was sie gesagt hat, ist die Chronik nicht nur ein riesiges Adressbuch. Sie haben die Familiengeschichte dokumentiert, und es muss Berichte über andere Pandoras geben. Wenigstens eine von ihnen muss herausgefunden haben, wie man mit diesem Talent umgeht. Das ist meiner Meinung nach die einzige Möglichkeit, mich zu informieren – vielleicht kann ich das Talent dann kontrollieren. Du müsstest mich verstehen. Du hast die Kontrolle.«
»Ich könnte dir helfen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe etwas von Harley gelernt. Diese Pandora-Geschichte ist mein Talent oder mein Fluch. Es ist nicht so wie bei einer Lauscherin. Es ist zu gefährlich. Ich bin diejenige, die die Verantwortung für mein Tun übernehmen muss. Ich will niemand anderem die Schuld geben, wenn etwas passiert.«
»Das klingt, als suchtest du die Einsamkeit«, sagte er leise.
»O Gott, ich hoffe nicht.« Sie atmete tief durch. »Für mich ist es eine schreckliche Vorstellung, allein zu sein. Das weißt du. Nach dem Tod meiner Mutter hast du mir Phillip geschickt, damit ich nicht allein bin. Du kennst mich besser als irgendjemand sonst.«
»Und du warst wütend auf mich, als du herausgefunden hast, wie ich dich so gut kennenlernen konnte.«
»Ich weiß nicht.« Sie lächelte unsicher. »Du hast recht, ich hatte Angst. Aber jetzt habe ich keine mehr.«
»Nein?«
Sie verneinte. »Ich kann damit umgehen. Ich … mag dich, Grady. Ich liebe deinen Körper und die Dinge, die du mit mir machst. Wenn ich mit dir zusammen bin, fühle ich mich so lebendig. Ich habe mich bemüht, dich nicht zu vermissen, aber es ist mir nicht gelungen.«
»Gut.«
»Aber ich kenne dich nicht wirklich. Du hast mir zwar ein wenig von deiner Kindheit und über deine Ansichten erzählt, aber wir hatten keine Zeit, tiefer zu gehen.«
Er grinste. »Was gibt es da zu wissen? Ich gehöre zu der oberflächlichen Sorte.«
»Lügner.«
»Okay, dann wirst du meine Seele bis in ungeahnte Tiefen erforschen?«, fragte er leichthin.
»Vielleicht.«
»Ich warne dich. Wenn das bedeutet, dass ich dich in meiner Nähe halten kann, werde ich dir für den Rest deines Lebens Gelegenheit geben, mich zu studieren. Ich werde dir jede Nacht eine Geschichte erzählen wie Scheherazade.«
Für den Rest deines Lebens. Sie versuchte, die Freude, die sie durchströmte, zu dämpfen. »Ich bitte dich nicht, dich für immer an mich zu binden.«
»Zu schade. Ich wäre dazu bereit.« Er ging auf sie zu. »Ich wünsche mir eins von dir. Du hast deine Gefühle für mich in sterile kleine Stücke seziert. Jetzt setz sie alle zusammen. Ob du mich nun zu kennen glaubst oder nicht, sag mir, ob du das, was du gesehen hast, lieben kannst?«
»Ich brauche Zeit, um …«
»Um dich festzulegen.«
»Ich wäre nicht hergekommen, wenn ich nicht denken würde, dass wir eine Beziehung haben können.«
»Dass du dich festlegen kannst.«
»Verdammt, Grady, du versuchst, Kontrolle …«
»Dass du dich festlegen kannst.«
»Oh, um Himmels willen. Ich … liebe … dich. Verdammt, ich wollte es langsam angehen. Es ist zu wichtig …«
»Schsch.« Er küsste sie voller Leidenschaft. »Ich weiß. Ich zerre dich nicht gleich vor den Altar. Alles, was ich von dir will, ist, dass du mich heute, in diesem Moment liebst. Wir nehmen einen Tag nach dem anderen.« Er legte die Hand an ihre Wange. »Okay?«
Sie drehte den Kopf und küsste seine Handfläche. »Okay.«
»Und da wir uns in diesem Punkt einig sind, können wir bitte ins Bett gehen?«
»Du hast recht.« Sie lächelte, während sie sich von ihm zurückzog. »Immerhin ist das eins unserer größten Talente. Mir gefällt es wesentlich besser als …«
Gradys Telefon klingelte.
»Grady, wag nicht, diesen Anruf entgegenzunehmen«, sagte sie gefährlich leise.
»Keine Gefahr. Ich stelle …« Er schaute auf das Display. »Mist!« Er drückte auf die Taste. »Das sollte wirklich wichtig sein.« Er hörte eine Weile zu, dann fing er an zu strahlen. »Sie ist hier.« Er gab Megan das Telefon in die Hand. »Jemand möchte mit dir sprechen.«
»Wer?«, fragte sie ungehalten. »Können sie nicht später noch mal anrufen?« Jemand am anderen Ende der Leitung sagte etwas, aber sie konnte ihn nicht verstehen. »Sie sprechen zu leise. Ich kann Sie nicht hören.«
Plötzlich presste sie den Hörer fester ans Ohr und flüsterte: »Phillip?«