KAPITEL 14
S
ie hat recht.« Grady starrte in seine Tasse. »Es wäre eine Möglichkeit.«
Megan zuckte zurück. »Was soll das heißen? Wir werden sie nicht als Lockvogel missbrauchen, Grady.«
»Ich wette, sie will uns auch einspannen. Sie ist kein Opfer.«
»Dass sie sich den Plan hat einfallen lassen, ist kein Grund, ihr nicht zu helfen. Und sie könnte ein Opfer werden, wenn etwas falsch läuft. Die Chronik liegt ihr genauso am Herzen wie Edmund. Sie glaubt, dass Molino sie nicht schlagen kann, und falls es doch so weit kommt, würde sie ihm die Chronik niemals überlassen.« Megan schauderte. »Eher würde sie auch nach einer Scherbe greifen wie Edmund. Und das Erschreckende ist, dass ich anfange, sie zu verstehen.«
»Vergiss es«, versetzte Grady scharf. »Du identifizierst dich mit der Familie. Verdammt, genau das habe ich befürchtet.«
»Ich identifiziere mich gar nicht. Ich habe nur Verständnis.«
»Belass es dabei.« Er ging zu ihr und nahm ihre Hand. »Hör zu – deine emotionale Reaktion ist schon in normalen Situationen extrem. Stell dir vor, was wäre, wenn du zusätzlich, zu der Last, die du ohnehin trägst, akzeptieren würdest, eine Devanez zu sein. Fremdes Leid schmerzt dich. Als Phillip angeschossen wurde, warst du fix und fertig. Empathie mit dieser Familie würde dich gänzlich überfordern.«
Sie setzte sich zur Wehr. »Familie, das ist nur ein Wort. Außer Renata kenne ich keine Devanez.«
»Aber du leidest jetzt schon mit ihnen.« Sein Griff um ihre Hand wurde fester. »Lass dich nicht hineinziehen, Megan.«
Sie zeigte ein schwaches Lächeln. »Aber du bist doch derjenige, der mich hineinzieht. Du hast mich gebeten, die Chronik an mich zu bringen. Das kann ich nicht ohne Renata.«
»Distanziere dich. Das ist der einzige Weg, um …« Er brach ab und schüttelte den Kopf. »Was rede ich da? Du weißt nicht, wie man sich distanziert. Das läuft deinem Charakter zuwider. Dir fällt es ja sogar schwer, dich davon zu überzeugen, dass du dich von mir fernhalten solltest.«
Sie senkte den Blick auf ihre Hände. Seine Berührung fühlte sich gut an, sicher. Er hatte recht, sie wollte nicht auf diese Stärke verzichten. Entschlossen entzog sie ihm ihre Hand. »Aber ich kann es. Du redest, als wäre ich ein Emotionsjunkie. Ich kann alles, was ich muss. Ich kann weggehen, wann immer ich will.«
»Aber ein solcher Schritt schmerzt dich mehr als andere«, sagte er sanft. »Und wenn du ein Junkie bist, dann würde ich dich nicht anders haben wollen. Du strahlst, du glühst, du brennst. Ich spüre deine innere Wärme, wenn du bei mir bist.«
Sie wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Etwas schmolz in ihr – so hatte sie noch niemals empfunden. Am liebsten hätte sie die Hand ausgestreckt und Grady berührt.
Dann wäre sie wieder an dem Punkt angelangt, an dem sie gewesen war, als sie das Bett verlassen hatte. »Wir reden über Renata.«
»Ja.« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Und du willst unsere Unterhaltung auf ein unpersönliches Thema lenken. Aber zwischen uns gibt es nichts Unpersönliches. Ist dir das noch nicht klar geworden? Wir beginnen kühl und sachlich, und dann geht es bergab. Du fragst dich, ob ich dich anfasse. Nein, nicht im Moment. Ich kann mich zurückhalten, weil dich offensichtlich zu vieles belastet. Aber es wird geschehen. Ich kann nicht anders.« Er schmunzelte. »Wir versuchen, ein wenig zurückzurudern, und verschaffen dir eine Verschnaufpause.«
»Wie reizend«, erwiderte sie humorlos, ehe sie auf etwas anderes zu sprechen kam. »Ich will nicht, dass sich Renata in Gefahr bringt, und sie weigert sich, uns diese Chronik zu überlassen – trotzdem muss es eine Möglichkeit geben, wie sie uns helfen kann.«
»Nach allem, was du mir erzählt hast, habe ich den Eindruck, dass es nach ihrem Willen geht oder gar nicht.«
»Dann muss sie eben ihren Entschluss ändern.«
Grady kicherte leise. »Ich entdecke gerade eine echte Familienähnlichkeit. Ich weiß nicht, wie das bei anderen aus dem Devanez-Clan ist, aber ihr beide könntet Schwestern sein – Seelenverwandte.«
»Lächerlich. Wir ähneln uns gar nicht.«
»Trotzdem kämpfst du mit Zähnen und Klauen für ihre Sicherheit.«
Ja, sie mochte Renata. Trotz der Widerspenstigkeit und des Eigensinns erahnte Megan hinter der Fassade eine Verletzlichkeit, die ihren Beschützerinstinkt ansprach. Seit dem Tod ihrer Eltern hatte Renata niemanden, der sich wirklich um sie kümmerte – abgesehen von ihrem Cousin Mark, der sich darauf konzentrierte, sie am Leben zu erhalten, von dem sie jedoch weder Geborgenheit noch Zuneigung bekam. »Es ist nur natürlich, dass ich ihr helfen möchte. Wir beide mussten uns schon früh allein durchschlagen, aber ich hatte Phillip. Ich glaube kaum, dass sie jemanden hatte.«
»Augenscheinlich hat euch diese Gemeinsamkeit in verschiedene Richtungen geführt. Du wurdest Ärztin, und sie wurde Lara Croft, die sich mit James Bond anlegt.« Er winkte ab, als Megan den Mund aufmachte. »Ich mache sie nicht schlecht. Vieles an ihr respektiere ich.« Er lächelte. »Lara Croft und James Bond respektiere ich auch. Du musst dich damit abfinden, dass Renata keinen Augenblick zögern würde, auf den Abzug zu drücken, wenn sie in die Enge getrieben wird. Du quälst dich und versuchst verzweifelt, eine andere Möglichkeit zu finden; sie hingegen überdenkt im Bruchteil einer Sekunde ihre Optionen und macht, was getan werden muss.« Er hob die Tasse an seine Lippen und trank, dann fuhr er fort: »Und das ist nicht notwendigerweise auf unterschiedliche Charaktereigenschaften oder die Erziehung zurückzuführen. Es könnte auch an euren Talenten liegen. Deine Begabung basiert auf einem emotionalen Verantwortungsgefühl, das dein Leben bestimmt. Renatas Talent ist abstrakter. Sie kann Muster und Verbindungen erkennen und sieht die nächsten Schritte, vielleicht sogar das Resultat voraus. Das ist eher eine mentale als eine emotionale Gabe.«
»Ich würde viel lieber an Persönlichkeit und Erziehung glauben. Alles andere würde dem übersinnlichen Zeug zu viel Bedeutung verleihen.«
»Gott behüte«, murmelte Grady.
Sie ignorierte die Ironie. »Aber wir sollten trotzdem jeden Vorteil nutzen.« Sie runzelte die Stirn. »Allerdings sehe ich nicht, wie eine Lauscherin helfen kann, Molino in die Falle zu locken.«
»Du hast Renata gefunden«, machte er deutlich.
»Das nützt uns nicht viel, wenn wir sie nicht überreden können, uns die Chronik zu geben.« Und nachdenklich fügte sie hinzu: »Aber ihr beide habt recht. Wir haben die Gelegenheit, die Beute in den Jäger zu verwandeln. Nur darf Renata nicht die Beute sein.«
Grady stutzte. »Das gefällt mir nicht.« Er musterte sie. »Es gefällt mir gar nicht.«
»Warum nicht? Du bist doch derjenige, der die Chance unbedingt nutzen will.« Sie stand auf und ging zur Haustür. »Ich muss nachdenken. Deshalb mache ich einen Spaziergang.«
Grady erhob sich. »Ich begleite dich.« Er wiegte den Kopf. »Ich weiß, du willst meine Gesellschaft nicht. Aber das spielt keine Rolle. Ich lasse dich nicht aus den Augen. Wir haben keine Ahnung, wie viel Molino weiß und wo er sich und seine Figuren auf dem Spielfeld platziert hat. Und ich werde mich nicht im Hintergrund halten wie letzte Nacht. Du musst dich mit mir abfinden.«
Sie wollte ihn nicht dabeihaben. Er störte sie – allein, ihn anzuschauen, würde sie durcheinanderbringen.
»Gewöhn dich daran«, sagte er leise.
»Das werde ich – vorerst.«
»Falbon ist tot«, verkündete Sienna. »Er wurde ermordet in der Innenstadt von München aufgefunden. Ein Schlag hatte ihm die Nase zertrümmert und die Knochensplitter ins Gehirn gedrückt. Den letzten Anruf von ihm haben wir um neun Uhr abends erhalten, und er sagte, dass er Renata Wilger noch in dieser Nacht schnappen würde.« Er zuckte mit den Schultern. »Offensichtlich hat er sich geirrt – Grady?«
»Möglich.« Molino dachte nach. »Aber das heißt nicht, dass er die Chronik hat. Edmund Gillem war sehr halsstarrig und hat lange durchgehalten. Grady könnte zögern, dieselben Methoden anzuwenden wie wir. Und Megan Blair ist noch bei ihm?«
»Vermutlich. Sie saß mit ihm in dem Flugzeug nach München.«
Das ist gut, dachte Molino. Wenn Renata Wilger, Megan Blair und Grady zusammen waren, bestand die Chance, dass sie diese drei mordlustigen Freaks auf einmal erwischen konnten.
»Hat uns Falbon irgendwelche Hinweise gegeben, wo wir Renata Wilger finden können?«
»Als er ihre Investmentfirma beobachtete, konnte er ihr Handy anpeilen. Wenn sie es nicht blockiert hat, besteht die Möglichkeit, sie über Satellit zu orten.«
»Mach das.«
»Ich arbeite bereits daran. Wir sind der Chronik zu nahe, um jetzt noch Fehler zu machen.« Sienna neigte den Kopf zur Seite. »Ich dachte, du würdest dich mehr darüber aufregen, dass es Falbon erwischt hat.«
»Auf lange Sicht spielt das keine Rolle. Ich muss nur geduldig sein, dann erwischen wir alle.«
»Ich bin froh, dass du so zuversichtlich bist.« Damit verließ Sienna das Zimmer.
Sienna ist nicht so von unserem Erfolg überzeugt, dachte Molino. Soll er seine Zweifel haben. Er würde schon sehen, wer recht hatte.
»Ich helfe dir. Wir töten sie alle, Papa. Wir werden sie niedermetzeln.«
Tränen traten Molino in die Augen. »Ja, Steven«, flüsterte er. »Ich weiß …«
Eine schattenhafte Gestalt stand neben ihrem Bett!
Renatas Hand glitt unter das Kopfkissen. Wo war der Revolver? Sie schnappte nach Luft, schnellte nach vorn und stieß ihren Kopf in den Magen des Mannes.
Sie hörte ein Grunzen, als sie die Hand ausstreckte, um den Angreifer am Geschlechtsteil zu packen.
»Scheiße.« Er umklammerte ihre Schultern und schleuderte sie zurück aufs Bett. »Ich bin nicht hier, um Ihnen etwas anzutun, verdammt.«
Grady.
Sie erstarrte mitten in der Bewegung. »Was haben Sie hier zu suchen?« Sie knipste die Nachttischlampe an. »Ich mag keine Eindringlinge. Sie haben Glück, dass Sie noch am Leben sind.« Sie setzte sich auf. »Wie sind Sie ins Haus gekommen?«
Grady setzte sich auf einen Stuhl. »Sprechen Sie von Ihren Sprengladungen und den Fangdrähten? Es war, als müsste ich mich durch ein Labyrinth bewegen, aber Harley ist gut darin, diese kleinen Spielzeuge zu entschärfen.«
»Nein, das meine ich nicht. Ich habe erst gemerkt, dass Sie hier sind, als es schon fast zu spät war. Sie konnten sogar den Revolver unter meinem Kissen hervorziehen, bevor ich wach wurde. Gewöhnlich bin ich nicht so angreifbar.« Sie starrte ihm in die Augen. »Ich habe gehört, dass Sie gut sind, aber ich bin darauf trainiert, Kontrolleure abzuwehren.«
»Wer hat Sie ausgebildet?«
Sie blieb ihm die Antwort schuldig.
»Wenn es Sie tröstet – ich kann keinerlei Einfluss auf Sie ausüben, solange Sie wach sind. Sie sind sehr, sehr gut. Ich musste warten, bis Sie schlafen.«
»Wenn Sie mit mir reden wollen, hätten Sie anrufen können.«
Er verzog den Mund. »Für meine Eier wäre das sicher besser gewesen. Wie auch immer – ich muss herausfinden, wer Sie sind und wie sehr ich Sie lenken kann.«
Sie schüttelte den Kopf. »Gar nicht.«
»Einen Versuch war es wert.« Er setzte sich bequemer hin. »Und jetzt kenne ich Sie ein bisschen besser.«
Sie schwang die Beine aus dem Bett. »Aber nicht so gut wie Megan. Sagen Sie, war es nötig, sie zu vögeln, um sie zu kontrollieren?«
Der Angriff brachte ihn nicht aus der Ruhe. »Nein, das war reines Vergnügen. Und ich werde sehr böse, wenn andere versuchen, Megan zu manipulieren.«
Sie richtete sich wachsam auf. »Soll das für mich gelten?«
Er nickte. »Sie üben jedes Mal, wenn Sie zusammen sind, starken Einfluss auf Megan aus.«
»Ich bin keine Kontrolleurin.«
»Ich weiß. Aber Sie sind bemerkenswert intelligent. Und Ihr Talent hat Ihnen beigebracht, Ursache und Wirkung zu studieren.«
»Nicht bei Menschen, sondern nur in verschiedenen Situationen.«
»Ich glaube kaum, dass Sie das auseinanderhalten können.«
»Glauben Sie, was Sie wollen.«
»Oh, das tue ich«, entgegnete er leise. »Beispielsweise glaube ich, Sie haben sofort erkannt, dass sich Megan gegen den Gedanken, Sie könnten den Lockvogel für Molino spielen, sträuben würde. Sie sind sehr clever und wissen, dass ihre Empfindungen sehr tief gehen, dass sie einen ausgeprägten Beschützerinstinkt hat und jede Möglichkeit nutzt, um das zu verhindern.« Er holte Luft. »Lieber würde sie selbst als Köder fungieren.«
Sie sah ihn ausdruckslos an. »Ich habe das nicht vorgeschlagen.«
»Weil Sie, wie ich bereits erwähnte, sehr clever sind.«
»Was hat sie gesagt, als Sie ihr eröffneten, dass Sie mich in Verdacht haben?«
»So dumm bin ich nicht. Ich würde nie auch nur andeuten, dass Sie heimlich ein Komplott schmieden. Sie mag Sie. Sie haben sie sogar so weit gebracht, sich der Familie zugehörig zu fühlen. Sie denkt, dass sie Sie kennt und dass Sie nie versuchen würden, sie zu manipulieren.«
Sie schwieg ein paar Sekunden. »Ich mag sie auch.«
»Aber das hält Sie nicht davon ab, sie zu beeinflussen.«
»Das ist Ihre Ansicht, die sich auf jämmerlich dürftige Beweise gründet. Sie kennen mich nicht lange genug, um mich zu beurteilen.«
»Ich konnte Sie nicht kontrollieren, aber ich spüre genug, um Ihren Charakter ziemlich genau einzuschätzen. Ich weiß über Obsessionen Bescheid, und Sie sind eindeutig besessen. Das strahlen Sie aus. Ich glaube, Sie würden alles tun, um die Chronik vor Molino zu beschützen.«
»Das habe ich nie abgestritten.«
»Aber dazu müssen Sie Molino vernichten. Und genau darin liegt die Gefahr. Würden Sie sich selbst opfern, müssten Sie die Chronik in die Obhut eines anderen geben. Besessene hassen es, das Objekt ihrer Obsession aufzugeben.« Er musterte sie. »Und ich sehe Sie nicht als Märtyrer, wie Gillem einer war.«
»Sie wären blind, wenn Sie es täten. Ich bin nicht Edmund.«
»Megan denkt aber, dass Sie dieselbe Entscheidung wie er treffen würden, falls es zum Äußersten kommt.«
Renata schüttelte den Kopf.
»Megan hat gewöhnlich exzellente Instinkte. Vielleicht erleben Sie eine Überraschung.«
»Gerade haben Sie gesagt, dass sie mich nicht durchschauen kann. Beides geht nicht.«
»Aber natürlich. Sie sind eine komplizierte Frau, und Megan hat einen ganz anderen Blickwinkel als ich.« Er stand auf und legte Renatas Revolver auf den Nachttisch. »Jetzt lasse ich Sie wieder schlafen. Wir sehen uns morgen früh.«
»Warten Sie. Warum, zum Teufel, sind Sie hergekommen? Ist das eine Art Drohung?«
Er lächelte. »Vielleicht wollte ich Ihnen nur begreiflich machen, dass Sie nicht ganz so unangreifbar sind, wie Sie denken.«
Das ist ihm gelungen, dachte sie bitter. Seit sie die Ausbildung bei Mark begonnen hatte, war ihr nicht mehr so mulmig zumute gewesen wie jetzt. »Sie haben gar nichts bewiesen. Ich habe mir nie eingebildet, unangreifbar zu sein. Und immerhin konnte ich mich von Ihnen losreißen und aufwachen, obwohl Sie versucht haben, mich im Schlafzustand zu halten.«
»Haben Sie sich losgerissen?«
Plötzlich kamen ihr Zweifel. Hatte er aus freien Stücken von ihr abgelassen? Sie sah ihm forschend ins Gesicht. »Sie bluffen. Verdammt, natürlich hab ich das getan.«
Er lachte leise. »Sie haben recht. Letzten Endes sind Sie mir entwischt.«
Mit diesem Bekenntnis hätte sie nicht gerechnet. »Dann hätten Sie sich den Weg hierher sparen können.«
Sein Lächeln verblasste. »Ich wollte Ihnen klarmachen, dass ich keineswegs erfreut wäre, wenn Sie Megan auf irgendeine Art verletzen. Genau genommen würde mich das so wütend machen, dass Sie in kleinen blutigen Stücken enden könnten.« Sein Ton war sanft, dennoch war die tödliche Drohung nicht misszuverstehen.
Verdammt, er kann einem wirklich Angst einjagen, dachte Renata. Sie war es nicht gewöhnt, eingeschüchtert zu werden, dennoch fürchtete sie sich in diesem Augenblick vor Neal Grady. Aber das durfte sie ihm nicht zeigen. »Verschwinden Sie, Grady.«
»Bin schon auf dem Weg.« Er nickte. »Gute Nacht.«
Und dann war er weg.
Renata atmete erleichtert auf. Sie wünschte, Mark wäre hier, um ihr den Kopf zurechtzurücken, weil sie sich lächerlich benahm. Er hatte ihr eingeschärft, dass Angst der schlimmste aller Feinde sei. Und sie hatte stets gelacht und ihn darauf hingewiesen, dass dieses Zitat nicht gerade originell war. Frei nach Winston Churchill. Es war idiotisch, Angst vor Grady zu haben, wenn sie nicht mal Molino fürchtete.
Schlechtes Gewissen?
Möglich. Sie fühlte sich bei ihrem Vorhaben nicht gut. Aber was spielte es schon für eine Rolle, wie sie sich fühlte? Edmund hatte sich auch nicht gut gefühlt, als er sich die Kehle durchgeschnitten hatte. Sie würde tun, was nötig war, um die Chronik zu beschützen. Grady hatte recht – es war für sie nicht eine heilige Aufgabe wie für Edmund, aber es war ihre Pflicht und eine Obsession.
Sie durfte sich von Grady nicht aufhalten lassen. Sie hatte gezögert und gewartet, bis sie alle Bedenken ausgeräumt hatte und so effizient funktionierte, wie sie es gelernt hatte. Aber Grady zögerte nicht, und deshalb musste sie schnell handeln.
Sie griff nach ihrem Telefon und wählte die Nummer, die ihr Mark in der letzten Nacht gegeben hatte.
Wo treibt er sich rum?, fragte sich Megan frustriert. Nachdem sie mit Grady von ihrem Spaziergang zurückgekommen war, hatte sie sich sofort ins Schlafzimmer zurückgezogen. Und einige Zeit später hatte sie gehört, wie Grady das Haus verließ – das war schon Stunden her.
Wo war er?
Egal. Grady konnte selbst auf sich aufpassen. Es hatte keinen Sinn, in Panik zu geraten, weil der Dummkopf es nicht für nötig gehalten hatte, ihr zu sagen, dass er wegging, obwohl Molino hinter ihnen her war.
Sie bemühte sich, die Angst zu verdrängen, einzuschlafen und später an ihren Patientenakten am Laptop zu arbeiten. Unmöglich.
Schließlich setzte sie sich ins Wohnzimmer wie eine Ehefrau, die auf ihren streunenden Gatten wartete. Es war schon fast Morgen, als sie den Schlüssel im Schloss hörte.
Erleichterung durchströmte sie, dann loderte Zorn in ihr auf.
Er hob die Augenbrauen, als er sie sah. »Hallo, bist du so ärgerlich, wie ich glaube?«
»Du hättest mir sagen sollen, dass du noch mal das Haus verlassen willst.«
»Warum? Du wolltest mich nicht in deiner Nähe haben. Du bist vor mir davongelaufen wie ein Hase vor dem Jäger, als wir ins Haus zurückkamen.«
»Und du bist weggegangen, obwohl du wusstest, dass ich mir Sorgen mache? Wolltest du mich bestrafen?«
»Unsinn. Ich bin kein dummer Junge, der zu solchen Mitteln greift, wenn man ihm Privilegien im Bett verweigert. Ich wusste, dass du in mir eine Bedrohung siehst. Dass du Panik haben und dich quälen würdest. Ich mag derzeit nicht hoch in deiner Gunst stehen, aber ich liege dir am Herzen. Ich würde dir das niemals zumuten, wenn ich anders könnte.«
Sie war wirklich dumm gewesen. Wäre sie nicht so überreizt, hätte sie so was niemals gesagt. Grady war nicht engstirnig, sondern ein intelligenter, reifer Mann. »Wieso hast du mir dann nicht gesagt, dass du aus dem Haus gehst?«
»Ich hatte gehofft, dass du schläfst. Du hast gelernt, mich so wirksam zu blockieren, dass ich das nicht erkennen konnte. Ich habe extra eine Stunde gewartet. Ich hatte ein paar Dinge zu erledigen.«
»Was für Dinge?«
»Ich habe die Polizei in Atlanta angerufen und mich nach dem Stand der Ermittlungen über den Schuss auf Phillip erkundigt. Sie haben herausgefunden, dass die Reifen, deren Spur sie gefunden hatten, zu einem Chevrolet-Truck passt, der zwischen 1995 und 1998 gebaut wurde.«
»Und wie viele tausend Trucks wurden in diesen Jahren verkauft?«
»Unter Umständen können sie das eingrenzen. Die Reifen waren neu, sie wurden nicht mehr als zwei Monate gefahren. Die Polizei hört sich bei den Reifenhändlern um.«
»Das könnte lange dauern.«
Er nickte. »Oder sie haben Glück und schon am ersten Tag ein verwertbares Ergebnis.«
»Weshalb hast du nicht von hier aus angerufen?« Sie sah ihn direkt an »Ein solches Telefonat dauert höchstens ein paar Minuten, keine Stunden. Das ist nicht das Einzige, was du gemacht hast, oder?«
»Nein.«
»Aber du hast nicht vor, mir mehr zu erzählen.«
»Stimmt. Es war nichts, was dir schaden oder unseren gemeinsamen Zielen zuwiderlaufen könnte.« Er wandte sich ab. »Und jetzt lege ich mich auf diese Couch, es sei denn, du änderst deine Meinung. Du brauchst nur ein Wort zu sagen, und ich liege in zwei Minuten bei dir im Bett.« Er lächelte. »Ich habe keinen Stolz, wenn es um Sex geht.«
Sie auch nicht. In der letzten Nacht hatte sie den Stolz weit hinter sich gelassen. Sie wünschte sich nichts mehr als seine Berührung. Lieber Gott, hatte sie deshalb hier gesessen und auf ihn gewartet? Sie hatte sich gesorgt – das ja. Aber Verlangen war auch da gewesen. Das Verlangen, ihn zu sehen, ihn zu spüren.
»Ein Wort«, wiederholte er leise und schaute ihr in die Augen. »Du wirst es nicht bereuen.«
Heute Nacht würde sie es bestimmt nicht bereuen, andererseits hatte er sie ausgeschlossen und weigerte sich, sie ins Vertrauen zu ziehen. Allmählich erhielten seine Handlungen eine zu große Bedeutung. Sie hingegen konnte nicht sagen, ob sie sich zurückhalten könnte, alles zu geben, und sie wollte nicht betrogen werden.
Sie machte auf dem Absatz kehrt. »Gute Nacht, Grady.«
»Schlaf gut, Megan.«
Sein Tonfall war nicht höhnisch, aber wahrscheinlich wusste er, dass sie nicht gut schlafen würde.
Sie knipste die Nachttischlampe aus und starrte in die Dunkelheit. Wenn sie schon keinen Schlaf finden konnte, so konnte sie wenigstens Pläne schmieden.
Denk an Molino. Denk an die Chronik.
Und stell dir Grady nicht vor, wie er nur wenige Meter von der Schlafzimmertür entfernt auf der Couch liegt.
Sie hatte immer noch kein Auge zugemacht, als vier Stunden später das Telefon auf dem Nachttisch klingelte.
»Verlasst das Haus«, sagte Renata, sobald Megan abgenommen hatte. Ihre Stimme klang eindringlich. »Sofort. Ich weiß nicht, wie viel Zeit euch noch bleibt. Verdammt, ich weiß nicht mal, wie viel Zeit ich habe. Molino hat bestimmt nicht nur einen Mann geschickt. Nicht nach dem, was Falbon widerfahren ist.«
Megan schnellte in die Höhe. »Was ist passiert? Warum …«
»Was denken Sie? Molino. Er hat mich aufgespürt. Wenn er mich gefunden hat, dann weiß er sicher auch, dass Sie praktisch vor meiner Haustür campieren. Ich kann nicht länger mit Ihnen reden. Ich muss los.«
»Warten Sie. Ich rufe Grady, und …«
Renata hatte bereits aufgelegt.
Megan schlug die Bettdecke zurück und sprang auf die Füße. »Grady!« Sie schnappte sich ihre Klamotten und begann, sich anzuziehen. »Verdammt, Grady, wo bist du?«
»Hier.« Er stand in der Tür. »Was ist los? Wer hat angerufen?«
»Renata.« Megan setzte sich und schlüpfte in ihre Schuhe. »Zieh dich an. Sie sagt, dass Molino auf dem Weg hierher sein könnte. Er hat ihren Aufenthaltsort ausfindig gemacht, und sie wollte uns warnen.«
»Woher weiß sie das?«
»Keine Ahnung. Sie hat aufgelegt, bevor ich Fragen stellen konnte. Molino würde nicht nur einen Mann schicken, sagte sie noch. Sie war sehr in Eile.« Megan nahm ihre Jacke. »Wir müssen zu ihr und uns vergewissern, dass ihr nichts zugestoßen ist.«
»Warte. Ich bin in ein paar Minuten angezogen. Wir rufen Harley an und schicken ihn zu ihr.«
»Ich gehe voraus – ich will nicht warten.«
»Das wirst du müssen, wenn du nicht willst, dass ich dir nackt hinterherlaufe.« Er streifte seine Klamotten über. »Ich möchte nicht, dass du das Haus ohne mich verlässt. Zur Hölle, ich will überhaupt nicht, dass du durch die Haustür gehst. Wir klettern aus dem Schlafzimmerfenster, für den Fall, dass Molino jemanden da draußen postiert hat.« Er warf ihr sein Handy zu. »Ruf Harley an. Seine Nummer ist gespeichert.«
»Wie konnte Molino Renata finden?«, fragte Megan, während sie Harleys Namen in der Speicherliste suchte.
»Wir leben in einer technisierten Welt, und mit dem richtigen Gerät kann man fast jeden aufspüren.« Er griff sein Jackett und zog Megan zum Fenster. »Hast du Harley dran?«
Sie nickte und reichte ihm das Telefon. »Sag ihm, dass er sich beeilen soll, Renata klang so … Sag ihm einfach, dass er schnell machen muss.«
Renata war sich vage bewusst, dass sie blutete.
Achte nicht darauf. Lauf weiter. Sie hörte sie hinter sich. Es waren zwei Männer, und sie bewegten sich ziemlich ungeschickt durch den Wald. Sie klangen wie Elefanten, die durchs Unterholz brachen.
Todbringende Elefanten. Einer – der größere der beiden – hatte sie aus einer Entfernung von mehr als hundert Metern angeschossen, sobald er sie gesehen hatte, wie sie aus dem unterirdischen Gang kam und in den Wald lief.
Sie konnte die Wunde nicht lange ignorieren. Die Blutung hatte nicht aufgehört, und Renata konnte nicht riskieren, in Ohnmacht zu fallen oder schwach zu sein, wenn sie sie erwischten. Okay, mach langsam – such dir eine Stelle, an der du ihnen auflauern kannst. Vielleicht hast du die Möglichkeit, die Schulter zu verbinden.
Vielleicht auch nicht. Sie kamen näher. Sie konnte nichts anderes tun, als sich zu verstecken und zu warten, bis sie an ihr vorbeiliefen. Dann würde sie den hinteren Mann ausschalten, genau wie Mark es ihr beigebracht hatte. Es musste leise und schnell vonstattengehen, damit der erste Mann nichts mitbekam.
Und das hieß, dass sie ein Messer benutzen musste, und sie hasste Messer.
Sie hatte keine Wahl.
Sie lief schneller, als der Weg eine Biegung machte. Gut – nach einigen Metern kam die nächste Kurve. Die dicke Eiche am Wegrand sollte ihr ausreichend Deckung geben.
Sie huschte hinter den Baumstamm und versuchte, den Atem anzuhalten.
Sie hörte sie.
Die beiden kamen näher.
Als sie die Kurve nahmen, konnte Renata sie sehen. Der Kleinere, Drahtigere hatte gute acht Meter Vorsprung und bewegte sich geschmeidig.
Warte, bis er vorbei und um die nächste Kurve gelaufen ist.
Der Größere – derjenige, der auf sie geschossen hatte – kam herangekeucht.
Bleib ganz ruhig, wie es dir Mark gezeigt hat. Sie war verwundet und konnte sich nicht auf körperliche Stärke verlassen. Der Mann war zu groß, als dass sie ihm die Kehle hätte durchschneiden können. Sie musste akkurat zustechen und sein Herz treffen.
Schnell. Lautlos. Jetzt.
Die Klinge drang in sein Herz, und er gab nur ein leises Ächzen von sich, als er taumelte und fiel.
Tot.
Ihre Hände waren blutig.
Mein Gott, wie sie Messer hasste!
Der andere Mann. Sie nahm ihren Revolver aus der Tasche und drückte sich ins Unterholz.
»Bleiben Sie. Lassen Sie mich das machen.«
Sie wirbelte herum und sah Jed Harley, der auf sie zugerannt kam.
»Schon gut«, sagte er, als er sie erreichte. »Ich krieg ihn. Sie ruhen sich ein bisschen aus.«
Sie sah ihm benommen nach. Sie fühlte, wie das Adrenalin, das sie angetrieben hatte, aus ihr wich, und sank gegen den Eichenstamm. Ja, wenn Harley sagte, dass er den anderen Bastard kaltmachen würde, dann tat er das auch. Er hatte Geschick, das hatte sie selbst erlebt; sie konnte ihm vertrauen.
Sie fühlte sich matt, ihr war schwindelig. Sie musste die Blutung stoppen, ehe sie noch kraftloser wurde. Ein Druckverband. Sie zuckte zusammen, als sie ihre Jacke auszog und die Bluse aufknöpfte.