KAPITEL 1

Zwölf Jahre später
St. Andrews Hospital Atlanta, Georgia

E

r ist tot, Megan. Lass es sein«, sagte Scott Rogan nach einem Blick auf den vierzehnjährigen Jungen. »Gib auf.«

»Sag das seiner Mutter.« Megan versuchte noch einmal, sein Herz mit Hilfe des Defibrillators wieder zum Schlagen zu bringen. Komm schon, Manuel. Komm zu uns zurück. »Kampflos gebe ich nicht auf.«

»Wir bemühen uns schon zwanzig Minuten um ihn.«

»Dann machen ein paar mehr auch nichts aus.« Sie zählte bis drei und versetzte dem Jungen noch einen Stromschlag. »Lebe, Manuel«, flüsterte sie. »Du hast noch so viel vor dir, und es gibt so vieles zu sehen. Lass nicht zu, dass es so endet.«

Aber es war vorbei, machte sie sich frustriert zwei Minuten später klar. Verdammt. Das arme Kind.

Als sie sich abwandte, riss sie sich die Handschuhe von den Händen. »Halten Sie fest, dass der Tod um dreiundzwanzig Uhr fünf eingetreten ist«, sagte sie zu der Schwester, dann verließ sie die Notaufnahme, um sich zu waschen und den blutverschmierten Kittel gegen einen frischen zu tauschen, denn so konnte sie der Mutter nicht gegenübertreten. Die Ärmste würde ohnehin die schlimme Erinnerung für den Rest ihres Lebens mit sich herumtragen.

Verdammt. Sie schloss die Augen und lehnte den Kopf an den Türrahmen. So sollte es nicht sein. Sie müsste imstande sein, mehr zu tun.

»Bist du okay, Megan?«

Sie öffnete die Augen. Scott stand neben ihr. »Nein.« Sie straffte die Schultern. »Ich wollte ein Wunder und hab es nicht bekommen.«

»Du hast dein Bestes gegeben. Wir sind nur Ärzte. Wir können nicht übers Wasser gehen.«

»Ich kann es zumindest versuchen. Ich kann mich etwas mehr anstrengen, dann bin ich vielleicht eines Tages gut genug, um …« Sie rieb sich mit dem Handrücken die brennenden Augen und wandte sich ab. »Ich sollte nicht hier herumstehen und schwatzen. Ich muss mit Manuels Mutter sprechen.«

»Warte.« Scott lief ihr nach. »Ich sage es ihr.«

Sie lehnte sein Angebot ab. »Das ist mein Job. Er war mein Patient.« Aber, verdammt, sie wollte das nicht tun. Angehörige zu benachrichtigen war immer eine schmerzliche Pflicht, doch besonders schlimm war es, wenn ein so junger Mensch sterben musste. »Trotzdem danke, Scott.«

Er zuckte mit den Schultern. »Auch für mich ist es furchtbar. Aber es macht mich nicht so fertig wie dich. Manchmal frage ich mich, warum du dich entschieden hast, Ärztin zu werden. Du bist einfach zu emotional. Das ganze psychologische Training, das wir während des Studiums erhalten haben, scheint nicht zu dir durchgedrungen zu sein.«

»Ich werde mich daran gewöhnen.« Ihr Blick richtete sich auf die kleine Latina-Frau, die auf einem Stuhl im Wartezimmer saß. Eine tiefe Traurigkeit erfasste Megan. O Gott, dieser erwartungsvolle Ausdruck, als die Frau Megan ansah …

Nein, daran würde sie sich nie gewöhnen. Nicht in einer Million Jahren. Pack den Stier bei den Hörnern, und sag der Mutter, dass ihr Sohn gestorben ist.

Die Frau war angespannt, ihr Blick wirkte verängstigt. Megan fühlte ihren Schmerz und die Verzweiflung, als wären es ihre eigenen. Sie hüllten sie ein, überspülten und ertränkten sie. Sie wappnete sich innerlich und kämpfte gegen den Drang an, sich zu drücken.

»Megan«, raunte Scott.

Sie schüttelte den Kopf, um ihre Gedanken zu klären. »Ist schon gut.« Sie befeuchtete ihre Lippen und zwang sich, das Wartezimmer zu durchqueren. Bring’s hinter dich, und spende der Frau so viel Trost, wie du kannst.

»Mrs Rivera, ich bin Dr. Megan Blair.« Sie holte tief Luft. »Leider muss ich Ihnen sagen …«

 

Ich kann nicht sagen, wer mehr leidet, dachte Scott Rogan, während er beobachtete, wie Megan die Frau in die Arme schloss. Megan hätte das ihm überlassen sollen.

»Hör auf, dir Sorgen um sie zu machen. Du kannst deine kleine Freundin nicht für den Rest ihres Lebens beschützen.«

Scott drehte sich um. Hal Trudeau stand hinter ihm. Er war im OP gewesen, aber inzwischen dürfte sich in der gesamten Station herumgesprochen haben, dass Megan fieberhaft versucht hatte, den Jungen wiederzubeleben. Scott wünschte, Hal hätte heute Nacht keinen Dienst, weil er von Konkurrenzdenken beherrscht wurde und Megan als Bedrohung für seine Karriere ansah. Die ersten Jahre nach dem Studium konnten für einen Arzt manchmal alles entscheiden. Nichts wäre Hal lieber, als Megan unprofessionell aussehen zu lassen.

»Ich mache mir keine Sorgen«, erwiderte Scott. »Sie macht das richtig gut.«

»Ich habe gehört, sie hätte fast die Nerven verloren, als der Junge starb.«

»Sie war betroffen, aber sie hat die Nerven nicht verloren. Sie würde niemals das Leben eines Patienten aufs Spiel setzen und die Fassung verlieren.« Er drehte sich auf dem Absatz um. »Und jeder, der mit dabei war, wird dir dasselbe sagen. Versuch nicht, ihr deswegen Ärger zu machen. Der einzige Fehler, den sie heute Abend gemacht hat, war, dass sie die Sache zu sehr an sich rangelassen hat, das hat ihre Arbeit jedoch nicht beeinflusst.«

»Darüber lässt sich streiten. Der Chefadministrator hat, soweit ich gehört habe, den Eindruck, dass sie ein bisschen labil ist.« Hal lächelte bösartig. »Aber dir gefällt ihre emotionale Seite wahrscheinlich. Wie ist sie im Bett, Scott?«

»Keine Ahnung.«

»Klar. Deshalb läufst du ihr hinterher wie ein Hengst einer rossigen Stute. Ich wette, sie ist eine heiße Nummer, wenn sie etwas von ihrer angestauten Energie loswerden muss. Ich kann dir nicht verübeln, dass du auf sie fliegst.« Hal richtete den Blick wieder auf Megan. »Sie sieht nicht schlecht aus. Ich hätte auch nichts dagegen, sie flachzulegen. Wenn sie nur nicht so ein hochnäsiges Miststück wäre.« Damit ging er weiter.

Bastard.

Scott unterdrückte seinen Zorn. Am liebsten hätte er dem Hurensohn eins aufs Maul gegeben. Klar – alles, was Megan jetzt noch brauchte, war, dass sich zwei Kollegen ihretwegen auf dem Krankenhauskorridor prügelten. Hal hatte recht, die Klinikleitung hatte Megan im Auge. Sie liebten es, wenn der Betrieb reibungslos lief, und selbst das kleinste Anzeichen von Instabilität jagte ihnen höllische Angst ein.

Megan war nicht instabil. Niemand arbeitete härter als sie. St. Andrews konnte sich glücklich schätzen, sie zu haben. Eine ganze Reihe angesehener Kliniken im Nordosten hatte ihr einen Job angeboten, noch ehe sie das Studium abgeschlossen hatte. Sie war nur in Atlanta geblieben, weil sie ihren Onkel Phillip, der sich seit dem Tod ihrer Mutter um sie gekümmert hatte, nicht allein lassen wollte.

Verdammt, Hal würde ihr wahrscheinlich sogar noch die familiären Gefühle vorwerfen. Er schreckte vor nichts zurück, wenn er sie nur schlechtmachen konnte.

Er beschuldigte sie sogar, mit einem verheirateten Mann zu schlafen.

Der Gedanke war eigenartig verlockend.

Was fiel ihm ein? Er und Jana waren erst zwei Jahre verheiratet, und sie kannten sich seit Jahren. Megan war ihm seit der Studienzeit eine gute Freundin. Er hätte den Schein in Chemie nie bestanden, wenn sie nicht fast ein ganzes Semester mit ihm gebüffelt hätte. Seit seiner Heirat mit Jana war Megan für sie beide da. Janas kleiner Sohn Davy hatte sie fest in sein Herz geschlossen.

Sie sieht nicht schlecht aus, hatte Hal gesagt.

Das war eine Untertreibung. Sie sah verdammt gut aus mit ihrer schlanken, anmutigen Figur, dem glänzenden dunkelbraunen Haar und diesen großen haselnussbraunen Augen. Aber nicht diese Äußerlichkeiten zogen Männer an. Hal hatte den Nagel auf den Kopf getroffen, als er von ihren angestauten Energien gesprochen hatte. Selbst wenn sie entspannt war, erahnte Scott den emotionalen Aufruhr, der sie zu elektrisieren schien. Es war … interessant.

Und erregend.

Und er sollte besser aufhören, seine Reaktion auf Megan zu analysieren. Das war Jana gegenüber nicht fair. Er würde sie nie betrügen, dennoch verspürte er allmählich Schuldgefühle.

Ja – es wäre wohl besser, wenn er ein wenig auf Abstand zu Megan ginge.

 

Megans Hand zitterte, als sie die Tür ihres SUV aufschloss. Sie atmete tief durch, ehe sie einstieg und den Motor startete. Wahrscheinlich sollte sie warten, bis sie sich erholt hatte, ehe sie den Parkplatz verließ, aber das hatte sie nicht vor. Sie wollte nach Hause zu Phillip. Sie brauchte die Ausgeglichenheit und Sanftmut ihres Onkels. Sie war fix und fertig nach den Stunden, die sie mit Delores Rivera verbracht hatte.

Ihr würde es bessergehen, sobald sie nach Hause kam. Nach ein paar Stunden Ruhe hatte sie bestimmt ihr Gleichgewicht wiedergefunden, das sie in dem Wartezimmer verloren hatte. Mit der Zeit würde der Schmerz, der in ihr tobte, vergehen, solange sie nicht wieder auf die trauernde Mutter traf.

Das ist wirklich erwachsen und verantwortungsbewusst, dachte sie voller Selbstverachtung. Sie wollte nach Hause rennen und all die Trauer und Angst bei Phillip abladen. Das habe ich in den letzten Jahren weiß Gott zur Genüge getan. Jetzt reiß dich am Riemen, und lass den Mann in Ruhe.

Sie legte den Kopf aufs Steuerrad und blinzelte die brennenden Tränen weg. In den vergangenen Stunden hatte sie sich heftigen Emotionen gestellt. Delores Riveras Leid, die Vorwürfe und Schuldgefühle vermengten sich mit einem Dutzend anderer unverständlicher Empfindungen, die sich immer mehr aufbauten, bis sie sie überwältigten.

Denk nicht daran. Ruf Phillip an – der Klang seiner Stimme wird dir zur Normalität verhelfen.

Nein, tu ihm das nicht wieder an. Leb damit. Steh es allein durch.

Sie rollte vom Parkplatz und bog an der Ampel nach links ab.

 

Phillip rief sie an, als sie auf die Schnellstraße fuhr. Sie drückte auf die Taste an ihrem Handy-Headset. »Alles in Ordnung mit dir? Ich will ja nicht überbesorgt erscheinen, aber ich weiß, dass dein Dienst schon vor Stunden zu Ende war. Wenn du gerade bei einem Drink mit Scott und Jana zusammensitzt, wimmle mich einfach ab.«

Gott, sie war froh, seine Stimme zu hören. Von dem Moment an, in dem er bei der Beerdigung ihrer Mutter auf sie zugekommen war, hatte sie diese warme Geborgenheit gespürt, wann immer sie in seiner Nähe war. »Nein, es war nur eine anstrengende Nacht. Ich hatte ein paar Probleme. Ich erzähle dir alles, wenn ich nach Hause komme. Ich bin schon auf dem Weg. Wieso bist du eigentlich noch wach? Es ist bereits nach zwei.«

»Ich habe nur ein wenig gedöst. Das Footballspiel war erst gegen Mitternacht zu Ende. Wir haben in den letzten vier Sekunden den Siegtreffer gelandet. Ich war zu aufgekratzt, um mich zu entspannen.«

»Hurra, Falcons.«

»Allerdings.« Er schwieg kurz. »Was waren das für Probleme?«

»Ein vierzehnjähriger Junge ist auf dem OP-Tisch gestorben. Ich konnte ihn nicht retten.«

»Verdammt.«

»Ja. Wie wär’s, wenn wir nachher zusammen eine heiße Schokolade trinken und du mir alles über das Spiel erzählst?«

»Klingt gut. Ich koche schon mal den Kakao. Wie lange brauchst du noch?«

»Ich bin auf der Schnellstraße – ungefähr zwanzig Minuten.« Sie zog die Augenbrauen zusammen, als sie Scheinwerfer im Rückspiegel blendeten. »O Mann, hinter mir ist ein Drängler. Ein Truck, glaube ich. Der Fahrer scheint betrunken zu sein. Ihm muss doch klar sein, dass er um diese Zeit genügend Platz zum Überholen hat.« Plötzlich waren die Lichter verschwunden. »Okay, er ist auf die linke Spur eingeschert. Den bin ich los. Ich hoffe, er bekommt einen Strafzettel wegen zu schnellen Fahrens … Was, zum Teufel …?«

Der Truck rammte die Seite ihres Geländewagens. Sie riss das Lenkrad herum, als sie zum Straßenrand geschleudert wurde.

»Was ist, Megan?«, rief Phillip besorgt.

Sie hatte keine Zeit, ihm zu antworten.

Der Truck rammte sie ein zweites Mal.

Er versuchte, sie von der niedrigen Brücke zu drängen. Noch ein solcher Aufprall, und der SUV landete im Fluss.

Gerade als sie es geschafft hatte, den Wagen wieder auf die Fahrbahn zu lenken, fuhr der Truck von hinten auf; der SUV schleuderte einmal um die eigene Achse.

Gegenlenken. Und weg von der Brücke. Sie hatte bessere Chancen, wenn sie den Straßendamm hinunterfuhr.

Sie kam wieder auf die Fahrspur und gab Gas.

»Megan!« Phillips Stimme.

Der Truck war erneut neben ihr.

Sieh zu, dass du von der Brücke kommst.

Sie trat das Gaspedal durch und ließ den Truck hinter sich.

Noch zwanzig Meter, dann hatte sie den Fluss überquert.

Der Truck holte wieder auf. Er prallte gegen die Hintertür, als sie das Ende der Brücke erreichte.

Ihr Geländewagen kam von der Straße ab und holperte die Böschung hinunter.

Sie musste vor dem Flussufer abbremsen.

Sie trat auf die Bremse, schlitterte seitwärts und rutschte noch fünfzehn Meter weiter, bis sie von einer Fichte zum Halten gebracht wurde.

Ihr Airbag schnellte aus der Halterung, blies sich in Sekundenschnelle auf und drückte sie in den Sitz.

Hilflos.

Sie sah, dass der Truck am Straßenrand stehen blieb und eine Gestalt zur Böschung ging. Der Mann war groß, dünn und trug Jeans und einen Cowboyhut.

Ihr OnStar-System sagte ihr, dass sich der Airbag aufgeblasen hatte und 911 benachrichtigt wurde.

Der Mann kam bereits die Böschung herunter.

Dann hörte sie die Sirenen.

Beeilt euch. Verdammt, macht schneller.

Der Mann zögerte, dann machte er kehrt und kletterte den Hang wieder hinauf. Einen Augenblick später saß er in seinem Truck und fuhr davon.

Megan war ganz schwach vor Erleichterung.

Gott sei Dank.

 

Phillip kam zwanzig Minuten später zum Unfallort. Inzwischen hatte sich Megan aus dem verbeulten SUV gekämpft und saß in eine Decke gehüllt am Flussufer.

Er reichte ihr einen Thermosbecher. »Heißer Kaffee. Ich dachte, du könntest etwas Koffein gebrauchen.«

Sie nickte und nahm einen Schluck. »Genau genommen könnte ich einen ordentlichen Drink vertragen.«

»Ich würde dir niemals Alkohol an einem Unfallort anbieten. Man weiß nie, ob die Polizei dich ins Röhrchen pusten lässt.« Er setzte sich zu ihr und zog die Decke fester um sie. »Alles in Ordnung, Megan?«

»Nein, ich bin stinkwütend.« Sie schnitt eine Grimasse. »Ich konnte nicht mal sein Nummernschild erkennen. Ich glaube, es war ein blauer Ford Pick-up, aber sicher bin ich mir nicht. Das Einzige, was ich mit Bestimmtheit weiß, ist, dass das ein Irrer war, der aus dem Verkehr gezogen werden müsste. Er hat mir Angst gemacht, verdammt. Als ich in dem SUV festsaß und er die Böschung herunterkam, fühlte ich mich, als wäre mir Freddy aus der Elm Street auf den Fersen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Vielleicht ist er zur Vernunft gekommen und wollte mir helfen. Aber ich war froh, als er sich aus dem Staub gemacht hat.«

»Darüber bin ich auch froh.« Phillip schaute zu den Polizisten, die die Reifenspuren vermaßen und markierten. »Wollen sie, dass du dich im Krankenhaus untersuchen lässt?«

»Ja, aber das mache ich nicht. Mir fehlt nichts, nur die Brust und die Rippen tun ein bisschen weh wegen des Airbags. Ich möchte nach Hause.« Sie neigte müde den Kopf. »Es war eine schreckliche Nacht.«

Phillip nickte und erhob sich. »Lass mich sehen, was ich tun kann. Trink deinen Kaffee, und überlass alles mir.« Er ging zu dem Sergeant, der auf der Böschung stand und Befehle erteilte.

Megan durchdrang ein Gefühl der Zuneigung, während sie Phillip beobachtete. Es war immer gut, ihm alles zu überlassen. Er vermittelte nicht den Eindruck brillant und ultraeffektiv zu sein, aber sie war nie in eine Situation geraten, mit der er nicht fertig wurde. Selbst jetzt neben den bulligen Polizisten beherrschte er in seiner stillen Art die Szene. Er war Anfang sechzig, schlank, feingliedrig, hatte eine hohe Stirn und große blaue Augen. Und er strahlte Ruhe aus. Die Menschen reagierten instinktiv genauso wie sie auf sein sanftmütiges Wesen. Ihre Mutter hatte ihr nie erzählt, dass sie einen Onkel hatte – vielleicht weil er nur ihr Halbbruder und von zu Hause weggegangen war, als Sarah noch ein Teenager gewesen war. Aber von dem Moment an, in dem Phillip nach Myrtle Beach und nach dem Herztod ihrer Mutter die Vormundschaft für Megan übernommen hatte, war ihr klar, dass ihr nichts Schlimmes zustoßen konnte, solange sie Phillip Blair an ihrer Seite hatte.

Und Phillips liebenswürdige Art bewirkte auch dieses Mal Wunder. Sie sah, dass der Polizei-Sergeant zögerte, dann mit den Schultern zuckte und sich abwandte.

»Danke, Sergeant.« Phillip zwinkerte ihr zu, als er auf sie zukam. »Der freundliche Officer ist bereit zu glauben, dass sich eine Ärztin selbst helfen kann. Jetzt darfst du mich aber nicht durch einen Zusammenbruch Lügen strafen.« Er half ihr auf die Füße. »Er bittet dich, morgen oder übermorgen ins Präsidium zu kommen, um deine Aussage zu Protokoll zu geben. Er hofft, dass du dich dann an ein bisschen mehr erinnern kannst.«

»Das hoffe ich auch.« Sie lehnte sich an Phillip, während sie die Böschung hinaufstiegen und zu seinem Wagen gingen. Sie war todmüde, konnte kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen. »Allerdings glaube ich das nicht.«

»Eine heiße Dusche und dann ins Bett«, bestimmte Phillip. »Ich kümmere mich um alles. Vertrau mir.«

Ja, sie konnte Phillip vertrauen. In letzter Zeit gab sie sich alle Mühe, ihm nicht zur Last zu fallen. Sie war nicht mehr die halbwüchsige Waise. Doch heute Nacht durfte sie seinen Trost und seine Kraft, die er stets für sie parat hatte, annehmen …