KAPITEL 8
W
as soll das heißen?«, fragte Megan, sobald sie im Auto saßen.
»Genau das, was ich gesagt habe. Edmund Gillem ist in seinem Wohnwagen im Zirkus Carmegue gestorben, der damals außerhalb von Rom gastierte. Der Zirkus zieht durch ganz Europa, und Chantilly ist die zweite Station nach Rom.«
»Und ich soll mich in seinen Wohnwagen setzen und abwarten, was passiert?«
»Ganz recht.«
»Wenn er in Rom gestorben ist, woher willst du dann wissen, ob sein Wohnwagen noch mit dem Zirkus unterwegs ist?«
»Die Wohnwagen gehören dem Zirkus und werden an die Artisten und Zirkusleute vermietet.«
»War Edmund Gillem ein Artist?«
»Ja.«
Sie verzog den Mund. »Wahrsager?«
»Nein, das wäre zu auffällig gewesen, das hätte er nicht riskiert. Er war Pferdetrainer, hat mit sechs wunderschönen Tieren, in die er sich blendend einfühlen konnte, gearbeitet und ihnen ganz ordentliche Tricks beigebracht. Nichts besonders Raffiniertes. Nichts, was ihm einen Vertrag in Las Vegas eingebracht hätte. Aber genau so war es ihm recht. Er wollte nicht zu viel Aufmerksamkeit erregen, und sein Job erlaubte ihm, ständig durch die Lande zu reisen.«
»Das klingt nach einem Zigeunerleben.«
»Ihm gefiel es umherzuziehen, und er betrachtete das Reisen als Teil seines Jobs.«
»War er verheiratet?«
»Nicht zum Zeitpunkt seines Todes. Vor einigen Jahren war er mit einer deutschen Ladenbesitzerin verheiratet, aber die Ehe wurde nach fünf Jahren geschieden.«
»Du weißt ziemlich viel über Gillem.«
»Ich habe ausführliche Nachforschungen über ihn angestellt, ehe ich sicher sein konnte, dass er der Mann war, den ich suchte. Er war ein guter Mann. Ich glaube, ich hätte ihn gemocht.«
»Er muss labil gewesen sein, wenn er Selbstmord begangen hat.«
»Kann sein.«
»Du sagtest, die Stimmen konzentrieren sich auf den Ort, an dem eine Tragödie passiert ist, und können auch nur dort gehört werden.«
»Soweit wir wissen.«
»Und du denkst, Gillem hat in seinem Wohnwagen Traumatisches erlebt? Ein Suizid ist sicherlich eine Tragödie, aber der Selbstmörder muss nicht notwendigerweise unter extremem Stress stehen. Manchmal ist er einfach nur traurig und resigniert.«
»Ich glaube nicht, dass Gillems Tod still war. Er ist gewaltsam gestorben. Er hat sich die Kehle mit einer gezackten Spiegelscherbe aufgeschnitten.«
Kaltes Entsetzen packte Megan.
»Er hat keinen Abschiedsbrief hinterlassen. Du wirst diese Frage beantworten müssen.«
»Wenn ich kann.« Sie wiegte den Kopf. »Ich weiß nichts darüber. Keine Ahnung, ob ich überhaupt etwas anderes hören kann als bedeutungsloses Stimmengewirr.«
»In der Höhle konntest du einiges verstehen.«
»Aber gelingt mir das noch einmal?« Wollte sie das überhaupt? Natürlich nicht. Sie fürchtete sich davor, diesen Wohnwagen zu betreten. »Du hast selbst gesagt, du wüsstest nicht, was du von einem Lauscher erwarten kannst. Und ich bin bestimmt die unerfahrenste Lauscherin auf diesem Planeten.«
»Willst du dich drücken?«
Ja.
»Nein.« Sie würde nicht vor dieser ersten Herausforderung davonlaufen. Dabei ging es nicht nur um die Abmachung mit Grady – sie wusste, dass sie ihr Leben lang Angst haben würde, wenn sie sich den Stimmen nicht noch einmal stellte. »Ich werde mich nicht drücken.« Sie sah aus dem Wagenfenster. »Aber ich möchte, dass du mir eins versprichst.«
»Dass ich dir helfen werde?«
»Nein, dass du draußen bleibst. Ich möchte allein in dem Wohnwagen sein. Ich weiß nicht, ob du mir die Situation erleichtern könntest. Du hast gesagt, in der Höhle wäre es dir geglückt. Falls du es kannst, dann will ich nicht, dass du es tust.«
»Ich kann nicht viel tun, wenn du es nicht zulässt. Du bist mittlerweile zu stark.« Seine Hände umklammerten das Lenkrad fester. »Lass mich dir helfen, Megan. Schließ mich nicht wieder aus.«
»Ich möchte das nicht. Damit muss ich allein fertig werden. Du wirst mich nicht behindern. Versprich es mir.«
Er schwieg eine ganze Weile, ehe er nickte. »Okay, du hast mein Wort.« Und bitter setzte er hinzu: »Bist du jetzt glücklich?«
»Nein.« Sie bemühte sich, ihre Stimme zu stabilisieren. »Ich habe Angst. Aber das spielt keine Rolle. So muss es wohl sein.«
»Du meinst, du willst es so haben?«
Nein. Sie hätte sich gern auf seine Kraft gestützt. Sie wollte Geborgenheit und Schutz gegen Stürme und die Stimmen, die nie verstummten. Sie wiederholte: »So muss es sein.« Dann wechselte sie das Thema. »Sind wir bald da?«
»Nur noch ein paar Kilometer. Ich habe einen Bungalow mit zwei Schlafzimmern gemietet, weil ich ein Auge auf dich haben will.«
»Gute Idee. Ich habe nichts dagegen, beschützt zu werden. Mir geht ohnehin schon genug durch den Kopf. So, wie ich es sehe, ist das dein Job.«
»Und ich erledige ihn. Ich wünschte nur, du würdest …« Sein Handy klingelte, und er schaute auf das Display. »Harley.« Er nahm den Anruf entgegen. »Was ist?« Er hörte eine Weile zu, dann sah er Megan an. »Er hat das Zirkusgelände ausgekundschaftet und keine Spur von Molino oder seinen Leuten entdeckt. Trotzdem können wir nicht absolut sicher sein – Harley sieht sich noch mal genau um. Er kann arrangieren, dass du entweder morgen Nacht in den Wohnwagen kannst oder …«, er hielt kurz inne, »… oder heute noch. Deine Entscheidung.«
Ihre Muskeln spannten sich an. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie so etwas selbst entscheiden müsste. Sie hatte gedacht, dass ihr noch Zeit bliebe, sich mental vorzubereiten.
»Kein Stress«, sagte Grady ruhig. »Morgen Nacht ist prima.«
Das würde jedoch bedeuten, dass sie all die Stunden Angst haben und sich fragen würde, was sie in diesem Wohnwagen erwartete. Und wie sollte sie sich mental vorbereiten? Sie hatte keine Ahnung, was passieren würde. »Heute.«
Grady zögerte, und sie dachte schon, er wollte ihr das ausreden, doch dann sagte er ins Telefon: »Heute.« Dann unterbrach er die Verbindung. »Es ist erst neun. Wir müssen bis drei warten, bevor wir losgehen. Jetzt richten wir uns erst mal im Motel ein.«
»Gut.« Fang nicht an zu zittern. Zeig ihm nicht, wie sehr du dich fürchtest. »Ich gehe unter die Dusche und rufe Dr. Gardner an, um mich vorzustellen und mich nach Phillip zu erkundigen. Dann schicke ich meinem Freund Scott und seiner Frau Jana eine E-Mail und lasse sie wissen, dass es mir gutgeht und sie sich keine Sorgen um mich machen müssen. Ich konnte mich nicht mehr bei ihnen melden, bevor ich Atlanta verlassen habe. Scott werde ich bitten, sich um drei meiner Patienten besonders zu kümmern. Ich vertraue ihm, er wird aufpassen, dass es ihnen gutgeht.«
»Und mehr erzählst du ihnen nicht.«
»Selbstverständlich nicht. Sie würden das alles nicht verstehen – es würde sie verwirren. Zum Teufel, ich verstehe es ja selbst nicht.«
Eins allerdings wusste sie: In wenigen Stunden musste sie sich auf den Weg zum Zirkus Carmegue machen, und ihre Angst wuchs von Minute zu Minute.
Megan erlebte Dr. Jason Gardner als warmherzigen, offenen Mann, genau wie Grady ihn beschrieben hatte.
»Ich habe den Befund Ihres Onkels gelesen und kann Ihnen gar nichts versprechen, aber ich werde mein Bestes tun, um ihn wieder zurückzuholen«, sagte er sanft. »Ich werde Sie nie anlügen, Dr. Blair. Man hat Ihnen gesagt, wie ernst sein Zustand ist, und viele neigen dazu, Komapatienten nicht allzu große Chancen einzuräumen.«
»Natürlich. Die meisten Patienten bleiben nicht mehr als vier Wochen in tiefem Koma. Danach sterben sie entweder, oder sie kommen in einen vegetativen Zustand. Was können wir unternehmen, um die beiden Möglichkeiten auszuschließen?«
»Bestimmt hat Ihnen Ihr Mr Grady von den Verfahren erzählt, mit denen ich meine Patienten behandle.«
»Haben Sie Erfolg mit Ihren Therapien?«
»Nicht so oft, wie ich es mir wünsche. Am liebsten wäre mir, ich könnte sie alle zurückholen«, meinte er betrübt. »Es ist ein ständiger Kampf zu verhindern, dass die Heimverwaltung meine Abteilung schließt, weil die Resultate die Kosten nicht rechtfertigen. Ich kann ihnen nicht begreiflich machen, dass schon ein einziges gerettetes Menschenleben all die Gelder wert ist. Aber ich verliere nie die Hoffnung. Und ich arbeite unermüdlich und versuche alles, um die Patienten wieder ins Leben zu rufen. Sie können sicher sein, dass Phillip Blair jede Chance erhält und dass wir, meine Kollegen und ich, alle Anstrengungen unternehmen werden.«
»Was kann ich tun? Sollte ich bei ihm sein?«
»Nicht, solange keine Besserung eingetreten ist. Manche Patienten reagieren, andere nicht. Und letzten Endes weiß ich nicht, ob der Erfolg auf meinen Bemühungen basiert oder auf Gottes Entscheidungen. Ist das ein wissenschaftlicher Ansatz?«
»Zumindest ein aufrichtiger. Darf ich Sie morgen wieder anrufen?«
»Jederzeit.«
Als sie auflegte, bewegten sie unterschiedliche Gefühle. Gardner hatte sich nicht optimistisch gezeigt, aber das hatte sie auch nicht erwartet. Es war nur gut zu wissen, dass sich ein Mann, der fest daran glaubte, dass man einen komatösen Zustand aufbrechen konnte, um Phillip kümmerte. Wie Grady gesagt hatte: Gardner besaß Leidenschaft, und diese Triebfeder konnte Berge versetzen … oder Phillip vielleicht aus der Dunkelheit befreien.
»War das Gardner?« Grady stand in der Tür zu ihrem Zimmer.
»Ja. Horchst du immer an den Türen anderer?«
»Ich wollte dich nur bitten, das Telefonat kurz zu halten. Von jetzt an sollte kein Anruf länger als drei Minuten dauern. Handys sind wunderbare technische Geräte, aber sie können geortet werden.«
»Ich werde daran denken.« Sie schaute auf ihre Uhr. Kurz nach Mitternacht. Noch drei Stunden, bis sie zum Zirkus aufbrechen würden. Gütiger Himmel, war sie nervös! Sie wünschte, das alles wäre schon vorbei. Am liebsten wäre sie sofort losgefahren.
»Willst du eine Tasse Kaffee?«, wollte Grady wissen.
Sie lehnte ab.
»Wie wär’s mit einem Spaziergang?«
Sie runzelte die Stirn. »Um Mitternacht? Was hast du vor?«
»Warten ist immer schwer.«
Und wie gewöhnlich spürte Grady, was in ihr vorging. »Ich werde es überstehen.« Sie setzte sich an ihren Computer. »Ich kann mich beschäftigen.«
Sie fühlte Gradys Blick, und kurz darauf schloss er die Tür.
Ablenkung war das Motto. Nur noch drei Stunden …
Zirkus Carmegue
Die Fahnen auf dem Rummelplatz waren ein bisschen ausgebleicht, doch die rote Schrift wirkte frech und fröhlich; es war derselbe Farbton wie die Streifen des Zeltes, das in der Mitte des Platzes stand. Es war kurz vor drei Uhr morgens, die Jahrmarktbuden waren geschlossen, und alles wirkte verlassen.
»Edmund Gillems Wohnwagen steht auf der anderen Seite«, raunte Grady. »Er wird von einem Zirkusarbeiter namens Pierre Jacminot bewohnt, aber Harley hat ihn bestochen, damit er für diese Nacht in die Stadt fährt. Er müsste die Tür unverschlossen gelassen haben.«
»Gott sei Dank, dann wird man uns nicht wegen Einbruchs verhaften.« Sie folgte Grady über den Rummelplatz. Es war unheimlich, durch die Gasse zu gehen, die tagsüber so umtriebig und heiter wirkte und jetzt finster und menschenleer war.
Auch der Wohnwagen, zu dem sie gingen, war verlassen. Dies war der Ort, an dem sich ein Mann auf schreckliche Weise umgebracht hatte.
»Das wäre unproduktiv«, sagte Grady. »Du hast sowieso genug zu überstehen, auch ohne dass du mit den französischen Gendarmen zu tun bekommst.«
»Vielleicht.« Sie sah den kleinen silbernen Wohnwagen schon von weitem. Ihre Hände waren kalt und feucht. »Was, wenn Edmund nicht zu der Party kommt?«
»Dann wirst du erleichtert aufatmen, und ich muss einen anderen Weg finden.« Auch sein Blick war auf den schimmernden Wohnwagen gerichtet. »Du kannst die Sache aufschieben bis morgen.«
»Ich habe Zauderer schon immer gehasst. Ich bin keiner, Grady.« Sie kamen vor der Tür des Wohnwagens an. »Lass mich einfach reingehen.«
»Sofort.« Er öffnete die Tür, trat beiseite und drückte Megan eine kleine Taschenlampe in die Hand. »Schalt die Lichter nicht ein. Bist du sicher, dass du mich nicht dabeihaben willst?«
»Im Moment würde ich jeden in diesem Wohnwagen willkommen heißen, sogar Dracula.« Sie stieg die drei Stufen hoch in den dunklen Wagen und wurde von dem scharfen Geruch nach Zitronenpolitur und Schweiß empfangen. »Ich bin okay.« Sie machte die Tür hinter sich zu.
Finsternis.
Einsamkeit.
Gegen das Gefühl der Einsamkeit konnte sie nichts tun, aber gegen die Dunkelheit. Sie knipste die Taschenlampe an.
Sie stand in einem winzigen Raum mit bequem aussehendem Bettsofa und einem Fernseher. Eine noch winzigere Küche führte aus dem Zimmer. Ein schwarzes Sweatshirt lag auf der Couch.
Edmunds Sweatshirt?
Nein. Es musste dem neuen Bewohner gehören – Pierre … wie war sein Nachname noch mal? Es schien ihr, als würde im Augenblick alles, was sie betraf, mit Edmund Gillem zusammenhängen und sich auf ihn fokussieren.
Einbildung.
Oder auch nicht.
Was sollte sie jetzt tun? Auf die Couch wollte sie sich nicht setzen. Und auch nichts berühren, was einmal Edmund gehört hatte. Sie kauerte sich neben der Tür auf den Boden und schwenkte den Lichtstrahl der Taschenlampe durch den Raum. Ein Druck von einem Mohnfeld hing über dem Fernseher. Die Möbel waren billig und abgenutzt, aber der graue Teppich sah ganz neu aus. Sie leuchtete die Wände ab. Sie waren mit Holz vertäfelt, das mit den Jahren nachgedunkelt zu sein schien. Nur ein Rechteck neben den Vorhängen war heller als der Rest der Wand. Dort musste ein Foto oder ein Bild gehangen haben.
Oder ein Spiegel.
Er hat sich die Kehle mit einer gezackten Spiegelscherbe aufgeschnitten.
Ein neuer Teppich.
Weil die Blutflecken nicht aus dem alten rausgegangen waren?
Gott, war ihr schlecht!
Armer Kerl.
Er war ein guter Mann. Ich glaube, ich hätte ihn gemocht.
Warst du ein guter Mann, Edmund?
Was hat dich dazu gebracht, dir das Leben zu nehmen?
Eine überwältigende Traurigkeit umgab sie. Das Leben war kostbar, und Edmunds mentale Qualen mussten extrem gewesen sein, wenn sie ihn dazu gebracht hatten, seinem Leben ein Ende zu setzen.
Gut, es war höchste Zeit, sich nicht mehr den Kopf zu zerbrechen und zu sehen, ob ihre sogenannte Gabe nur Firlefanz war oder ob sie ihr Antworten liefern konnte.
Sie atmete tief durch und knipste die Taschenlampe aus. Es war stockfinster, aber vor ihrem geistigen Auge sah sie das helle Rechteck an der Wand, wo einst der Spiegel gehangen hatte.
Edmund …
Sie nahm ihren Mut zusammen und öffnete sich den Stimmen.
Nichts. Nicht einmal ein Flüstern. Kein Brüllen. Gar nichts.
Erleichterung durchströmte sie. Sie hatte es versucht. Sie hatte getan, was sie versprochen hatte. Es war nicht ihre Schuld, dass sie nichts hören konnte. Vielleicht war das alles doch nur Humbug.
Und dann kamen sie.
Ein eindringlicher Schrei, der Megan durch Mark und Bein fuhr.
»Sagen Sie es. Seien Sie kein Narr, Gillem. Wo ist die Chronik?«
»Nein.« Er ächzte. »Das werde ich Ihnen nie sagen, Molino. Sie würden mich sowieso töten.«
»Vielleicht nicht. Versuchen Sie’s.«
»Nein.«
»Sienna, überrede ihn.«
Ein weiterer langgezogener Schmerzensschrei.
»Wir wissen, dass Sie sie nicht hier haben. Wo haben Sie sie versteckt?«
»Ich hatte … die Chronik nie.«
»Aber Sie wissen, wer sie hat. Wer hat sie, Gillem?«
»Keine … Ahnung.«
»Fang mit seinen Hoden an, Sienna.«
Ein Schrei, der Megan dazu brachte, sich an die Wand zu drücken, als würde der Schmerz ihren, nicht Edmunds Körper befallen. Mach dem ein Ende, Edmund. Sag es ihnen. Lass nicht zu, dass sie dir noch mehr weh tun.
»Warum schützen Sie sie, Gillem? Das sind nur Freaks. Sie würden Ihnen nicht helfen. Diese Finder, Lauscher oder Gedankenleser. Wahrscheinlich sind die meisten von ihnen ohnehin Betrüger.«
»Warum wollen Sie sie dann finden?«, keuchte Edmund.
Molino antwortete nicht darauf. »Erzählen Sie mir von den Pandoras.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.«
»Wer sind sie? Wie viele gibt es?«
»Keine Ahnung …«
»Allmählich verliere ich die Geduld. Die Chronik. Sienna, los.«
Edmund schrie wieder.
Aber er verriet nichts.
Der Schmerz war unvermindert, die Schreie hallten wider.
»Nein«, flüsterte Megan. Sie rollte sich auf dem Boden zusammen. »Sie quälen uns, Edmund. Das ist es nicht wert … Sag es ihnen.« Was konnte so wichtig sein, dass er eine solche Bestrafung auf sich nahm? Er brachte seine Ablehnung kaum noch über die Lippen, dennoch gab er ihnen nicht, was sie verlangten.
Mutig, dachte Megan düster, und gut. Gute Männer sollten nicht so gefoltert werden.
Himmel, sie wollte diese Stimmen ausschließen. Sie fühlte sich, als würde sie eins mit Edmund. Der Schmerz war unerträglich.
Sie konnte und würde es nicht tun. Sie spürte Edmunds grauenvolle Einsamkeit. »Es ist gut, Edmund. Ich werde dich nicht verlassen.« Sie streckte die Hand nach oben und verschloss die Tür, bevor sie den Kopf in der Armbeuge vergrub. »Steh es durch. Diesmal bist du nicht allein. Ich bleibe bei dir … bis zum Ende.«
Er musste in den Wohnwagen. Zur Hölle mit seinem Versprechen.
Gradys Nägel bohrten sich in seine Handflächen, als er die Fäuste ballte. Schmerz umwirbelte Megan in der Stärke eines Tornados.
»Was passiert da?« Harley kam auf ihn zu. »Du siehst aus, als wolltest du den Wohnwagen zertrümmern.«
»Das würde ich tun, wenn ich könnte. Sie hat die verdammte Tür abgeschlossen.«
»Und du traust ihr nicht zu, dass sie das allein übersteht?«
»Sie hat Schmerzen. Ich gehe zurück zum Auto und hole ein Brecheisen.«
»Das dauert zu lange. Lass mich sehen, was ich tun kann.« Er bückte sich, um das Türschloss zu inspizieren. »Hab ich dir schon erzählt, dass ich mal Schlosser war?«
»Nein.«
»Gut, das wäre nämlich eine Lüge. Aber in meiner vergeudeten Jugend habe ich mich mit Safeknackerei befasst.«
»Beeil dich«, drängte Grady schroff.
Harley verzog das Gesicht. »Nur noch ein paar Sekunden.«
Das Schloss sprang auf.
Grady riss die Tür auf und stürmte in den Wohnwagen.
Megan lag zusammengerollt auf dem Boden. Sie war bewusstlos.
Oder tot?
Nein, sie öffnete die Augen. »Ich musste bis zum Ende bleiben. Es … ist vorbei, oder?«
»Ja.«
»Gott sei Dank.« Sie schloss wieder die Augen. »Er hat so viel ertragen …«
Grady wusste nicht, ob sie wieder in Ohnmacht gesunken war, doch er wollte nicht abwarten, bis er das ergründet hatte. Er hob sie hoch und trug sie ins Freie. »Ich bringe sie zurück ins Motel, Harley. Du schließt den Wohnwagen und kommst dann nach.«
Harley nickte. »Ich bin in zehn Minuten bei euch.«
Grady saß neben ihrem Bett, als Megan das nächste Mal die Augen aufschlug.
»Du … du hast mir nicht gesagt, dass er gefoltert wurde«, wisperte sie.
»Ich wusste das nicht genau.«
»Aber du hast es geahnt.«
»Ich hielt es für durchaus möglich. Molino will die Chronik an sich bringen.«
»Ja, das stimmt.« Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Er hat Edmund unaussprechliche Dinge angetan. Molino und ein Mann namens Sienna.«
»Sienna ist Molinos rechte Hand.«
»Ich glaube, Molino hat es genossen. Er hat sich richtig Zeit gelassen. Er nannte ihn einen Freak und erklärte ihm, was er ihm als Nächstes antun würde – er wollte, dass er Angst hatte.« Sie schauderte. »Ein schrecklicher Mensch.«
»Das wusstest du schon, bevor du dich auf diese Sache eingelassen hast.«
»Ich wusste das, aber ich kannte ihn nicht. Edmund und ich saßen gemeinsam im Dreck, und wir konnten nicht entkommen.«
»Edmund und du?«
»So kam es mir vor. Das letzte Mal war es anders. Erst wollte ich ihn verlassen, konnte aber nicht. Er war ganz allein, als er starb, und ich durfte ihn nicht im Stich lassen. Mir war klar, dass ich nichts für ihn tun kann, aber das spielte keine Rolle.« Sie schüttelte den Kopf. »Das ist schwer zu erklären.«
»Du hättest die Tür nicht abschließen dürfen.«
»Ich wollte nicht, dass du uns unterbrichst. Ich dachte, dass du möglicherweise weißt, wie sehr wir leiden.«
»Nicht Gillem hat gelitten, sondern du, verdammt.«
»Wir beide waren das.« Sie hob die Hand und rieb sich die schmerzende Schläfe. »Du hattest recht, Edmund war ein guter Mann. Er hat etwas Besseres als so einen Tod verdient. Er hätte ein langes, erfülltes Leben haben müssen.«
»Was meinst du, wenn du sagst, dass ihr beide gelitten habt?«
»Ich habe einiges über Lauscher herausgefunden, was du an deinen Freund Michael Travis weitergeben kannst. Erstens, Edmund Gillem hätte Zulu sprechen können, und ich hätte ihn verstanden. Es ist eine emotionale Übermittlung. Zweitens, die Beteiligten hätten gar nichts sagen müssen. Ich wusste, was sie fühlten und dachten.« Sie schloss die Augen, als die Emotionen dieser Nacht wieder auf sie einstürzten. »Insbesondere war mir bewusst, was Edmund durchmachte. Er wollte nicht sterben.«
Grady schwieg einen Moment, dann: »Verdammt, ich bin richtig hilflos. Ich möchte etwas für dich tun. Wie kann ich dir helfen? Hast du Kopfschmerzen? Möchtest du ein Aspirin? Verdammt, das klingt lächerlich.«
Sie öffnete die Augen. »Mir tut alles weh, allerdings glaube ich nicht, dass Aspirin etwas dagegen ausrichten kann.« Sie betrachtete das helle Licht der Morgensonne, das durchs Fenster fiel. »Wie spät ist es?«
»Kurz vor elf. Du warst fast sieben Stunden weggetreten. Hast mir eine Heidenangst eingejagt.«
»Gut. Du solltest auch etwas von der Last spüren.« Sie setzte sich auf. »Schließlich hast du mich in diesen Wohnwagen geschickt. Ich hatte auch ganz schön Angst.« Sie schwang die Beine über den Bettrand. »Jetzt gehe ich unter die Dusche, putze mir die Zähne und ziehe mich an. Ich brauche all die kleinen Dinge, die unseren Alltag ausmachen, um von Edmund, Molino und den Ereignissen im Wohnwagen loszukommen.«
»Darf ich dir eine Frage stellen?«
»Nein, darfst du nicht.« Sie steuerte das Badezimmer an. »Wir reden später weiter. Bestell das Essen in dein Zimmer. Ich muss nachdenken und einiges verarbeiten, ehe ich wieder mit dir spreche.«
Er stellte seine Frage trotzdem: »Warst du bis zum Ende bei ihm?«
Sie blieb stehen, drehte sich jedoch nicht zu ihm um. »Du meinst bis zu dem Moment, in dem ihm klar wurde, dass er nicht länger durchhalten konnte und sicherstellen musste, dass sie die Chronik nicht in die Hände bekommen?«
»Ja.«
»Du hast verdammt recht«, antwortete sie bewegt. »Sie dachten, er wäre bewusstlos, und ließen ihn allein zurück. Der Spiegel war die einzige Waffe, die ihm zur Verfügung stand. Er hat sie benutzt.« Sie machte die Tür hinter sich zu und lehnte sich, von Trauer überwältigt, dagegen. Brich jetzt nicht zusammen. Sie hatte die Nacht durchgestanden, und die Erinnerung daran würde sie für den Rest ihres Lebens begleiten, aber sie durfte nicht zulassen, dass sie dieses Erlebnis schwächte. Edmund war nicht schwach gewesen. Er hatte gelitten und seinen Tod herbeigeführt, aber er hatte dem Drecksack nicht gegeben, was der von ihm haben wollte.
Sie straffte die Schultern und ging unter die Dusche.
»Wir stehen das durch, Edmund«, murmelte sie. »Molino wird niemandem mehr weh tun. Ich verspreche dir, dass er keinen Sieg davontragen wird.«
Gradys Handy klingelte in dem Augenblick, in dem Megan im Bad verschwunden war.
»Ist sie wieder bei Bewusstsein?«, fragte Harley.
»Seit ungefähr fünfzehn Minuten.«
»Und ist sie okay?«
»Nein, sie ist tief betroffen. Was hast du erwartet? Sie hat letzte Nacht die Hölle durchlebt.«
»Ganz ruhig. Blaff mich nicht an. Ich weiß nicht genug, um irgendetwas zu erwarten. Oberflächlich betrachtet, hat sie lediglich eine Stunde im Dunkeln verbracht.«
»Entschuldige.«
»Kein Problem. Wird sie sich davon erholen?«
»Vielleicht. Sie ist … anders.«
»Inwiefern?«
Das konnte Grady nicht genau sagen. Er hatte auch nicht gewusst, was sein würde, wenn Megan erwachte. Er hatte nur gebetet, dass sie keine bleibenden Schäden davongetragen hatte. Und sie könnte nach wie vor beeinträchtigt sein, auch wenn er noch nicht sah, in welcher Hinsicht. Er hatte Verwirrung und Angst gespürt, als sie den Wohnwagen betreten hatte. Und seit dem Aufwachen hatte Megan tiefgründiger, stärker gewirkt – gefestigter.
Und Grady hatte puren Stahl unter dieser Stärke wahrgenommen. »Wir werden sehen. Ich glaube, sie beschäftigt sich gerade mit alldem. Hast du Molinos Mann auf dem Zirkusgelände ausfindig gemacht?«
»Molinos Frau«, korrigierte Harley. »Marie Ledoute, eine Trapezkünstlerin. Sie ist eine eingefleischte Zockerin und schmeißt in der letzten Zeit mit Geld nur so um sich. Mit ihrer normalen Gage wäre das gar nicht möglich. Sie war sehr neugierig heute Morgen und hat Fragen gestellt; sie wollte unbedingt wissen, wo sich Pierre in der Nacht herumgetrieben hat.«
»Hat er es ihr gesagt?«
»Nein, aber das wird er bestimmt tun und zudem alles andere ausplaudern, was sie wissen will. Im Moment ist sie mit ihm im Bett.«
»Behalt sie im Auge. Wahrscheinlich wird sie sich nicht mit Molino in Verbindung setzen, solange sie noch mit Pierre Jacminot zusammen ist. Das verschafft uns einen kleinen Vorsprung.«
»Stimmt.« Harley legte auf.
Unser Vorsprung ist nicht groß, dachte Grady. Sobald Molino erfährt, wo wir uns aufhalten, wird er uns jemanden auf den Hals hetzen. Ich sollte Megan von hier fortbringen.
Nein, noch nicht. Er hatte die eigenartige Vorstellung, dass es so wäre, als würde man einen Schmetterling aufschrecken, der gerade seinen Kokon verlässt. Sie hatte in der letzten Nacht keinen Schaden davongetragen, und er würde jetzt kein Risiko eingehen. Sie brauchte Zeit, und die würde er ihr geben.