KAPITEL 20

S

ie sehen schockiert aus«, stellte Molino fest, als der Hubschrauber startete. »Und ich dachte, es würde Sie glücklich machen zu sehen, wie ich Darnell das Hirn wegblase. Immerhin war er derjenige, der aus Phillip Blair Gemüse gemacht hat.«

»Sie sind dafür verantwortlich. Sie haben den Befehl gegeben.« Megan zuckte mit den Schultern. »Und es ist mir gleichgültig, dass Sie Darnell getötet haben. Jetzt gibt es einen fiesen Typen weniger auf der Erde. Apropos fieser Typ – wo ist Sienna?«

»Er erwartet Sie ungeduldig in meinem Haus. Ich dachte, Sie sollten ein anständiges Begrüßungskomitee haben.«

»Und ich dachte, Sie beide wären an den Hüften zusammengewachsen.«

»Wir haben eine wechselseitig zufriedenstellende Beziehung. In letzter Zeit bin ich allerdings nicht sehr glücklich über sein Verhalten. Deshalb war ich bereit, ihn den Löwen vorzuwerfen.«

»Ich bin kein Löwe.«

»Ich weiß. Was für eine Enttäuschung.« Er kicherte. »Sie haben mich idiotisch aussehen lassen in Siennas Augen. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Er war immer noch voll hässlicher Gedanken über meinen Steven, als wir Sie letzte Nacht verlassen haben.« Er wedelte mit der Hand. »Aber ich habe ihm verziehen, bevor ich heute aufgebrochen bin, um Sie zu holen. Immerhin habe ich ihm versprochen, dass er Sie in der ersten Nacht haben kann, und ich halte immer mein Wort.«

»Das ist schwer zu glauben.«

»Na ja, ich halte es, wenn es mir passt.« Er schaute aus dem Fenster. »Wir sind fast zu Hause. Es wird Zeit, dass das Spiel beginnt. Haben Sie Angst, Megan?«

»Nein.«

»Sie lügen. Ich sehe den Pulsschlag an Ihrem Hals. Ich wette, Ihre Hand würde sich kalt und feucht anfühlen.« Er schmunzelte. »Aber ich werde Sie erst berühren, wenn Sie ordentlich gefesselt und bereit sind. Wissen Sie, ich habe viel aus dem Gerichtsprotokoll über Ihren Vorfahren Ricardo Devanez gelernt. Die Foltermethoden, die die Inquisitoren angewandt haben, waren innovativ und sehr zufriedenstellend. Ein paar dieser Methoden habe ich bei Edmund Gillem benutzt. Ich kann es kaum erwarten, mein Repertoire zu erweitern. Es gibt eine besonders aufregende Sache, die man ›den Folterstuhl‹ nennt.«

»Sie sind ein makabrer Unhold. Und Ihr Sohn muss der dämliche Schizo gewesen sein, für den ihn Sienna gehalten hat. Ich bezweifle, dass meine Mutter ihm etwas angetan hat. Wahrscheinlich haben Sie ihm das rezessive Gen vererbt, das ihn schließlich veranlasst hat, überzuschnappen.«

Molinos Lächeln war wie weggewischt. »Lügnerin.«

Das war ein Schuss ins Blaue gewesen, aber sie hatte offensichtlich den Nagel auf den Kopf getroffen. »Ja, das muss es sein. Gibt es Fälle von Geistesgestörtheit in Ihrer Familie? Es ist offensichtlich, dass Sie nicht alle Tassen im Schrank haben. Sie brauchten eine Entschuldigung, weil Sie sich schuldig fühlten, Steven vernichtet zu haben. Er war so verrückt wie …« Ihr Kopf schnellte nach hinten, als Molino ihr mit dem Handrücken ins Gesicht schlug.

Dunkelheit. Alles drehte sich um sie.

»Miststück«, zischte er. »Hure.«

»Sie sind dafür verantwortlich.« Sie hatte den kupfrigen Geschmack von Blut im Mund. »Sienna hat bewiesen, dass ich keine Pandora bin. Meine Mutter war auch keine. Sie haben Ihren Sohn auf dem Gewissen.«

Er schlug sie noch einmal. »Ich bringe dich um, du Miststück. Du verdorbene Lügnerin. Ich zerfetze dich …« Er hielt inne und holte Luft. »Nein, das lasse ich nicht zu. Ich werde langsam vorgehen.« Der Helikopter war schon fast auf dem Boden. »Sie haben gerade dafür gesorgt, dass ich noch mehr Vergnügen haben werde. Ich freue mich schon darauf, Sie an Sienna zu übergeben.«

 

»Grady ist auf dem Weg«, sagte Harley zu Renata. »Er will mich anrufen, wenn er in der Nähe ist. Ich lande jetzt.« Und nach kurzem Schweigen setzte er hinzu: »Wir haben Glück, wenn wir sie lebend da herausbekommen.«

Genau daran hatte Renata in der letzten halben Stunde auch gedacht. »Was hat Grady vor?«

»Keine Ahnung. Ich bin nicht mal sicher, ob er es weiß. Ich schätze, wir müssen uns gemeinsam überlegen, wie wir sie am sichersten …«

»Es gibt keine sichere Methode«, fiel sie ihm heftig ins Wort. »Und Molino wird sie töten, wenn wir nur quatschen und nichts unternehmen.«

»Grady und Venable werden nicht viel Zeit …«

»Zum Teufel mit Grady. Ich kann nicht warten, bis Sie ein Komitee gebildet und beratschlagt haben, was zu tun ist.«

»Und was ist Ihre Alternative?«

»Aufhören zu reden und sie da rausholen.« Sie legte auf.

Sie ging nicht dran, als Harley kurz darauf noch einmal anrief. Er würde Fragen stellen und argumentieren, aber sie wollte nichts davon hören. Sie war zu angespannt und ängstlich und musste beide Empfindungen loswerden, ehe sie das tun konnte, worin sie am besten war. Die verschiedenen Szenarien gegeneinander abwägen, Ursache und Wirkung einschätzen und den Ausgang voraussagen, der garantierte, dass Megan am Leben blieb und Molino starb.

Sie hatte auf der Fahrt hierher bereits den Prozess eingeleitet, als ihr klar wurde, dass es zu spät war, Molinos Festung anzugreifen.

Sie schaute auf das Kleidchen, das sie immer noch in der Hand hielt. »Ich muss dich jetzt allein lassen. Adia.« Sie faltete das Kleid sorgfältig zusammen und legte es behutsam in den Koffer. »Dank dir wissen wir, wo er ist. Jetzt müssen wir den Hurensohn nur noch kriegen.«

 

»Gerade aus.« Molino hatte die Hand auf Megans Rücken gelegt und schob sie die geschwungene Treppe hinunter zur Tür. »Sie dürfen ihn nicht warten lassen.«

Sie zitterte. Sienna. Ihr wurde schlecht, als sie an seine große, warme, weiche Hand dachte, die plötzlich brutal zugepackt hatte.

»Sie sagen ja gar nichts«, stellte Molino fest. »Sie haben Angst vor ihm, hab ich recht? Frauen sind so sanft und zerbrechlich. Fast so zerbrechlich wie Kinder. Lächerlich, wenn sie versuchen, sich gegen uns zu wehren.«

»Tatsächlich?« Wie konnte sie den Revolver an sich bringen? Wenn sie ihn überrumpelte, könnte sie eine Chance haben. Vorhin war es ihr gelungen, ihn auf die Palme zu bringen, und sie könnte …

»Da hinein.« Er öffnete eine Tür am Fuße der Treppe. »Sienna verlangt immer einen Raum abseits von uns anderen. Er liebt seine Privatsphäre. Ich habe kein Problem damit. Wir sind nicht in allem einer Meinung.« Er trat beiseite, um sie in das Zimmer zu lassen. »Sienna, hier ist das versprochene Geschenk.«

Megan bewegte sich nicht vom Fleck.

»Nicht so schüchtern.« Molino schubste sie in den Raum. »Er wartet.« Er deutete mit der Hand in eine Ecke. »Sagen Sie hallo zu ihm.«

O Gott! Nicht schreien.

Sienna war gefesselt und an die Wand genagelt. Sein Kopf war kahlgeschoren, sein Schädel blutig und eingedrückt. Seine Augen waren weit aufgerissen, das Gesicht im Todeskampf verzerrt.

»Sie haben ihn ermordet«, krächzte sie. »Wieso? Weil er nicht glaubte, dass Ihr Sohn …«

»Ich habe jahrelang mit seiner Skepsis gelebt. Ich hätte sie auch weiter toleriert, wenn ich noch Verwendung für ihn gehabt hätte.« Molino schüttelte den Kopf. »Wirklich zu schade, dass ich ihn loswerden musste, ehe ich mein Versprechen, Sie ihm zu überlassen, einhalten konnte. Natürlich habe ich andere Männer, die sich Ihrer annehmen würden, aber keiner hat die Talente, die Sienna hatte. Sienna verstand etwas von Schmerzen. Er war großartig mit Edmund Gillem.«

Sie konnte den Blick nicht von Siennas Gesicht losreißen. »Haben Sie ihn auch gefoltert?«

»O nein! Na ja, vielleicht ein bisschen. Er hat ständig an seinen Haaren gezupft, deshalb habe ich ihn geschoren. Das hat ihm gar nicht gefallen.«

»An seinen Haaren gezupft?«

Molino grinste. »Er schrie, zog an seinen Haaren und schlug den Kopf gegen die Wand. Er hatte große Schmerzen, deshalb beschloss ich, ihm zu helfen. Genau genommen war ich so mit Sienna beschäftigt, dass ich meine Pläne mit dem kleinen Jungen ganz vergessen habe.«

»Schmerzen? Was haben Sie Sienna sonst noch angetan?«

»Ich? Gar nichts.« Er drehte sich zu ihr um und sah sie an. »Das waren Sie. Ich war so unglücklich, dass Sienna gestern, nachdem er Ihre Hand gedrückt hat, weggegangen ist. Ich hätte wissen müssen, dass Sie mich nicht enttäuschen würden. Mir war nur nicht klar, dass es nicht sofort geschieht.«

Megan schluckte. »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.«

»Ihre Mutter hat die Hand meines Jungen genommen und seinen Verstand innerhalb von Sekunden zerstört. Vielleicht sind Sie nicht so gut, wie sie es war. Oder Sie wollten mir nicht offenbaren, dass Sie sind wie sie. Sienna zeigte keinerlei Anzeichen, bis kurz vor Mitternacht. Er überprüfte die Wachen am Rande des Felsens, und die Männer erzählten, dass er ständig den Kopf schüttelte. Eine Stunde, nachdem er sich in sein Zimmer zurückgezogen hatte, hörten wir einen dumpfen Laut. Als ich hinunterging, um nach dem Ärmsten zu sehen, war er bereits hinüber. Er heulte, riss sich die Haare büschelweise aus und schlug den Kopf gegen die Wand, als würde er von Dämonen getrieben.«

»Das ist nicht wahr.«

»Doch. Weshalb streiten Sie es ab? Sie müssen gewusst haben, was ihm blüht. Ich habe ihn lediglich von seinem Leid erlöst.«

»Sie lügen. Sie haben ihn getötet, weil er Zweifel an der Gesundheit Ihres geliebten Sohnes gesät hat und Sie einen Sündenbock brauchten.«

»Ich habe keinen Zweifel an Steven.« Er schaute auf ihre Hände, die sie zu Fäusten geballt hatte. »Was ich alles mit Ihrer Macht zu töten anfangen könnte! Es ist nicht richtig, dass Freaks die Einzigen sind, die …« Sein Handy klingelte. Er drückte auf die Taste, und ein Lächeln erhellte sein Gesicht. »Guten Tag, Miss Wilger. Was für eine Freude, von Ihnen zu hören. Heute ist mein Glückstag.« Er schielte zu Megan, die wie erstarrt dastand. »Ja, unserer Megan geht es so weit gut.« Er stellte das Telefon auf laut. »Wir sollten sie nicht ausschließen. Sie kann Sie jetzt hören.«

»Ist mir egal, ob sie mich hören kann oder nicht«, gab Renata zurück. »Sie hat mir von Anfang an nichts als Ärger gemacht. Ich bekomme Druck von Grady und den CIA-Typen, weil ich versuchen soll, eine Abmachung mit Ihnen zu treffen, damit Sie sie gehen lassen.«

»Dazu ist es zu spät.«

»Gut. Ich glaube nämlich nicht, dass ein Menschenleben so viel wert ist wie die Chronik. Behalten Sie sie.«

»Warten Sie. Legen Sie noch nicht auf.«

»Sie sagten doch, es ist zu spät.«

»Ich könnte einen solchen Deal in Erwägung ziehen. Falls ich sicher sein könnte, dass Sie die Chronik wirklich haben.«

»Ich habe sie.«

»Gibt es einen Beweis?«

»Ich kann Ihnen ein paar Seiten zeigen, die Sie dann auf ihre Echtheit überprüfen lassen können.«

»Ich will die ganze Chronik sehen.«

»Ich bin kein Dummkopf. Ist schon schlimm genug, dass ich gezwungen bin, sie herzugeben. Ganz bestimmt werde ich sie nicht aufgeben, ohne etwas dafür zu bekommen. Die CIA-Leute haben mir eine Entschädigung und Schutz vor dem Rest meiner Familie versprochen, wenn ich Sie dazu bringe, Megan freizulassen. Die Devanez-Familie mag keine Verräter. Ich würde keine drei Tage überleben.«

Molino schwieg eine ganze Weile. »Sie kommen persönlich, um mir diese Seiten zu zeigen?«

»Ja«, antwortete Renata widerstrebend, »ich komme. Wenn Sie sicher sind, dass Sie auf den Handel eingehen wollen. Ich bin in Piedmont in Memphis. Aber ich werde meinen eigenen Helikopter benutzen. Ihre Männer können mich abholen und mich und den Hubschrauber nach Waffen und Wanzen absuchen. Sie können einen Experten auswählen, der das Alter der Seiten bestimmen kann und den ich mitbringen kann. Kennen Sie einen Antiquitätenexperten in der Nähe?«

»Es gibt einen an der Universität in Nashville, den ich häufig zu Rate ziehe. Er wurde im Louvre in Paris ausgebildet – ihn kann man nicht täuschen. Ich handle mit Antiquitäten aus Ägypten und Italien, und manchmal kann ich meinen Quellen nicht trauen.«

»Kaum zu glauben. Okay, ich bringe ihn mit. Aber ich bewege mich keinen Zentimeter vom Helikopter weg, wenn wir gelandet sind. Sie werden Megan zu mir führen müssen, damit ich sehe, dass sie noch am Leben ist. Sie wird bei mir bleiben, bis die Seiten geprüft sind. Falls Sie in den Handel einwilligen, gehe ich wieder an Bord und hole den Rest der Chronik.« Sie unterbrach die Verbindung.

»Sie ist nicht gerade scharf darauf, Sie von hier wegzuholen, oder?«, fragte Molino.

»Sie glaubt nicht, dass es mein Leben wert ist, die Tausende von Menschen, die in der Chronik verzeichnet sind, an Sie auszuliefern.«

»Tausende? Sie meinen, da draußen laufen Tausende Freaks herum?«

»Keine Ahnung. Das war nur eine Vermutung.«

»Als ich von der Chronik erfuhr, war mein Interesse nicht so groß, weil ich erpicht darauf war, Sie ausfindig zu machen. Doch jetzt, da ich Sie habe, frage ich mich, wie mein Leben aussehen wird, wenn ich kein Ziel mehr verfolge. Steven hätte es nicht gern, wenn ich jetzt aufhöre. Nein, ich denke wirklich, ich muss diese Chronik an mich bringen.«

»Dann gehen Sie auf den Handel ein?«

Er sah sie überrascht an. »Selbstverständlich nicht. Schrauben Sie Ihre Hoffnungen nicht zu hoch. Aber wir müssen ein bisschen tricksen, damit sie denken, ich würde es tun. Ich sorge dafür, dass dieses Wilger-Miststück abgeholt und hergebracht wird.« Er schüttelte den Kopf. »Und ich kann noch eine Weile warten, bis ich die Folterinstrumente an Ihnen ausprobiere.« Er drehte sich weg. »In der Zwischenzeit lasse ich Sie hier bei Sienna. Schließlich habe ich ihm versprochen, dass er Zeit mit Ihnen verbringen darf.« Er schaute über die Schulter. »Übrigens – habe ich schon erwähnt, dass Sie dies alles für nichts tun? Ich werde weder Phillip Blair noch den Jungen länger als eine Woche am Leben lassen.«

Im nächsten Moment schloss sich die Tür hinter ihm, und der Schlüssel drehte sich im Schloss.

Megan war allein mit dem grotesken Kadaver, der einst Sienna gewesen war.

Molino hatte behauptet, dass sie ihn eigentlich getötet hatte. Sie konnte das nicht glauben. Molino suchte nach einer Rechtfertigung für den Wahnsinn seines Sohnes. Sie war keine Pandora. Ganz bestimmt nicht.

Der Schock war so intensiv, dass sie an nichts anderes mehr denken konnte. Sie musste damit aufhören.

Sein letzter Tiefschlag, dass er beabsichtigte, Phillip und Davy zu töten, sollte sie in Panik versetzen. Aber Grady würde nicht zulassen, dass den beiden jetzt, da sie in Sicherheit waren, noch etwas passierte.

Sie wandte den Blick von Sienna ab und sah sich in dem Raum um. Er war luxuriös und mit kräftigen Farben eingerichtet, aber es gab kein Fenster.

Waffen. Ein Mann wie Sienna musste doch einen Revolver oder ein Messer haben … irgendetwas. Sie suchte alle Schubladen systematisch ab.

Nichts. Nicht einmal eine Nagelfeile. Molino musste schon in dem Moment, in dem er Sienna getötet hatte, geplant haben, sie hier zusammen mit ihm einzusperren.

Warum auch nicht? Was konnte schrecklicher sein, als mit dieser grausigen Leiche in einem Zimmer festzusitzen?

Sieh ihn nicht an.

Sie setzte sich auf einen Stuhl neben der Tür und hoffte, sich irgendwie selbst verteidigen zu können, bis Hilfe kam. Der Anruf von Renata sollte ihr, Grady und Harley Zeit verschaffen. Als Renata in ihr Leben getreten war, hatte sie diese unbeteiligte Fassade zur Schau gestellt, aber mittlerweile hatte sie sich verändert. Gott, sie alle hatten sich in den letzten Tagen verändert. Megan, Renata, Harley, Grady.

Grady.

Was immer Renata vorhatte, Grady musste involviert sein. Bitte, lieber Gott, lass nicht zu, dass Grady etwas zustößt, dass irgendjemand verletzt wird.

Aber sie durfte sich nicht nur auf ihr Wunschdenken verlassen. Sie musste eine Möglichkeit finden, etwas zu tun.

 

Grady beendete das Telefonat mit Renata und wandte sich an Venable. »Sie glaubt, er hat den Köder geschluckt.« Er nahm sein Gewehr. »Ich bin hier weg. Ich lasse dich wissen, was auf diesem Berg vor sich geht.«

»Zwanzig meiner Männer hocken in diesem verdammten Wald auf ihren Hintern«, sagte Venable. »Wann kann ich ihnen sagen, dass sie losschlagen können? Gib mir die Gelegenheit, meinen Job zu machen.«

»Wenn auch nur ein Mann aus der Deckung kommt, bevor ich dir grünes Licht gebe, erschieße ich ihn persönlich«, gab Grady harsch zurück. »Wenn Molinos Männer Wind von unserem Vorhaben bekommen, ist Megan tot.«

»Ich bin Profi. Das würde mir niemals passieren.«

Grady schüttelte den Kopf. »Renata hat recht. Als sie mich anrief, wollte ich ihr zuerst nicht folgen. Ich wollte hier warten und das verdammte Haus in die Luft jagen, sobald sie zurückkommen.« Er verzog den Mund. »Aber sie hat die Sache durchdacht und meinte, es bestünde eine siebenundachtzigprozentige Chance, dass Megan dabei ums Leben kommt. Das ist ein zu großes Risiko und hat mich abgeschreckt. Also befolgen wir Renatas Plan. Erst mussten wir Zeit gewinnen, um sicherzugehen, dass Molino die Finger von Megan lässt. Renata und die Chronik. Dann brauchten wir einen Mann im Wald, der uns mit Informationen versorgt. Da Harley bereits in der Nähe war, konnte er dorthin gelangen, bevor Molino mit Megan gelandet war. Als Nächstes muss jemand da oben die Wachleute ausschalten. Das bin ich.«

»Und wie stehen die Chancen, dass Megan bei diesem Unterfangen ums Leben kommt? Was hat eure Freundin Renata errechnet?«, wollte Venable wissen.

»Zweiunddreißig Prozent«, antwortete Grady. »Wenn alles gut läuft.«

Gott, das Risiko ist immer noch zu hoch, und es ist lächerlich, davon auszugehen, dass alles wie vorgesehen verläuft, dachte er. Nichts geht jemals so wie geplant.

Als er den halben Berg hinter sich hatte, rief er Harley an. »Berichte.«

»Megan befindet sich in einem Raum im Untergeschoss. Molino hat sie die Treppe runtergeführt und kam allein zurück. Er hält sich zurzeit im Haupthaus auf.«

»Renata hat sich vor fünf Minuten gemeldet«, sagte Grady. »Sie konnte Megan ein bisschen Zeit verschaffen – Gott sei Dank. Wo bist du?«

»In dem Fichtenwald, knappe tausend Meter vom Haus entfernt. Drei Männer patrouillieren das Grundstück ab, und ich habe vier weitere Männer im Haus gesehen. Vielleicht sind es mehr, aber das … Warte einen Moment. Zwei Männer verlassen das Haus. Ich glaube, Molino hat angebissen. Sie laufen zum Landeplatz. Vielleicht fliegen sie los, um Renata abzuholen.« Er hielt kurz inne. »Das könnte ein günstiger Zeitpunkt für mich sein, etwas näher heranzukommen und zu sehen, ob ich Megan eine Waffe zukommen lassen kann, für den Fall, dass etwas schiefgeht.«

»Es wird nichts schiefgehen«, behauptete Grady. Vielleicht wurde es wahr, wenn er es laut aussprach. »Und ich bin unterwegs, um den Weg für Venables Leute frei zu machen. Ich schalte die Wachen aus, dann gehe ich zum Haus. Bleib, wo du bist, verdammt. Ich muss alles wissen, was in diesem Haus vor sich geht, und du musst für Megan da sein. Ich will es sofort wissen, wenn Molino in das Untergeschoss geht.«

»Was immer du willst. Wenn du dich mir anschließen willst, solltest du wissen, dass ein bewaffneter Wachmann hinter dem Haus steht. Die anderen beiden gehen den Waldrand am Felsen ab – die Strecke ist ungefähr eine Viertelmeile lang. Ein Gewehr. Eine Handfeuerwaffe.«

»Das ist alles?«

»Ja, hebt ab. Bist du sicher, dass ich nicht …«

»Halt dich an den Plan. Bleib auf deinem Posten.« Grady legte auf.

 

»Kommen Sie raus, Megan«, rief Molino, als er die Tür öffnete. »Ich habe gerade Nachricht erhalten, dass unsere kleine Freundin in ein paar Minuten landet. Wir gehen zum Landeplatz, damit sie sich sicher fühlt und sieht, dass meine Absichten über jeden Zweifel erhaben sind.«

»Und was haben Sie vor, wenn die Echtheit der Seiten bewiesen ist?«, wollte Megan wissen, als sie die Treppe hinaufstieg.

»Liebe Güte, Sie wissen bestimmt, dass es viele Möglichkeiten gibt, das, was man will, auch ohne Verhandlungen zu bekommen. Ich muss mich nur vergewissern, dass sie die echte Chronik hat.« Er schubste sie in Richtung Landeplatz. »Und dann können Sie zurück zu Sienna. Bestimmt vermisst er Sie schon. Ah, da kommt sie ja.«

Ein braun und beige lackierter Hubschrauber setzte auf. Zwei Männer sprangen heraus.

»Gestatten Sie, dass ich Sie miteinander bekannt mache.« Molino deutete auf den großen rothaarigen Mann. »Das ist David Condon. Er hat den Helikopter geflogen, der Sie hergebracht hat, Megan. Der andere Gentleman ist Ben Stallek. Ich war vorhin etwas abgelenkt, sonst hätte ich Ihnen die Herren bereits vorgestellt. Habt ihr Notting mitgebracht?«

Ein kleiner Mann in kariertem Hemd stieg aus der Maschine. »Das wird Sie eine schöne Stange Geld kosten. Ich wurde von einem Golfspiel weggerissen, um mit hierherzukommen.«

»Ich werde nicht viel Ihrer Zeit beanspruchen. Es handelt sich nur um eine vorläufige Untersuchung.« Und zu Megan gewandt, fügte er hinzu: »Dieser gereizte Gentleman ist sehr gelehrt, sonst würde ich seine Unhöflichkeit nicht dulden.«

»Er ist außerdem ziemlich gierig.« Renata stieg aus und überreichte Molino einen großen Umschlag. »Gehen Sie vorsichtig mit diesen Seiten um.«

»Ich bin mit dem, was mir gehört, immer vorsichtig.« Molino ging mit Notting zum Haus. »Condon, du bleibst hier. Stallek, du kommst mit uns.« Er warf noch einmal einen Blick über die Schulter. »O Condon, falls eine der Damen Dummheiten macht, schieß. In den Bauch, denke ich. Bauchwunden sind herrlich schmerzhaft.«

Condon zog seine Waffe und zielte auf Megan.

Renata ignorierte ihn. »Hat dir Molino etwas angetan, Megan?«

»Nicht viel.« Sie schaute Renata an. »Du siehst furchtbar aus. Woher hast du diese blauen Flecken?«

»Sie wollten, dass ich mich ausziehe. Ich hatte etwas dagegen.« Sie spähte zu Condon. »Und er hat es genossen. Das werde ich nicht vergessen.« Ihr Blick wechselte zu Megan. »Der Test dauert höchstens fünfzehn Minuten. Notting hat die Chemikalien, die er braucht, bei sich. Aber Molino wird keine Eile haben, sobald er weiß, dass die Seiten echt sind.«

»Sind sie das?«

»Ja. Wo ist Sienna?«

»Tot. Molino behauptet, dass er verrückt geworden ist und ich daran schuld bin, und dass er ihn töten musste. Ich glaube, das ist Unsinn. Molino hat nach einem Vorwand gesucht, ihn umzubringen.«

»Mir ist egal, warum er gestorben ist. Mich interessiert nur, dass er von der Bildfläche verschwunden ist.« Sie schaute zu dem Fichtenwald etwa tausend Meter weiter unten an der Straße. »Die abgebrochene Fichte sieht tot aus, findest du nicht? Diese Witzbolde haben sie wahrscheinlich als Zielscheibe benutzt. Aber ich wette, sie ist nicht tot.«

Megan runzelte verwirrt die Stirn. Was redete Renata da von Fichten?

»Ist der Baum tot, Condon?«, rief Renata dem Wachmann zu. »Sie leben hier. Sie sollten wissen, wenn …«

Der Wachmann kam auf sie zu. »Was wollen Sie …« Condon krümmte sich und öffnete den Mund zu einem lautlosen Schrei. Er taumelte vorwärts und fiel.

Ein Messer steckte in seinem Rücken.

»Grady«, murmelte Renata. »Gute Arbeit.«

Grady kam aus dem Geräteschuppen. »Bringen Sie Megan weg«, befahl er knapp. »Sofort!« Er verschwand hinter der Scheune.

»Los.« Renata schubste Megan zu den Bäumen. »Die Fichten. Dort ist ein Gewehr versteckt, und ich hoffe bei Gott, dass Harley auch dort ist. Er sollte es zumindest sein.«

»Was hast du vor?«

»Ich helfe Grady mit den Männern im Haus. Harley soll Venable anrufen und ihm sagen, dass er heraufkommen kann. Beeil dich, und hol dir das Gewehr.« Sie lief Grady nach.

Megan wollte ihr folgen. Nein, sie hatte nicht einmal eine Waffe. Das Gewehr! Sie musste sich das Gewehr holen und Venable rufen.

Sie floh die Straße hinunter zu dem Fichtenwald.

»Miststück!«, kreischte Molino wütend.

Sie spähte über die Schulter und sah, dass er aus dem Haus gerannt kam. Gott, er war ihr ziemlich dicht auf den Fersen.

Er zielte auf sie.

Sie musste sich das Gewehr, das im Wald versteckt war, beschaffen.

Keine Zeit.

Sie duckte sich, als eine Kugel an ihrem Kopf vorbeizischte.

Noch ein Schuss. Ein anderer Klang …

Das Schmatzen, als die Kugel in Fleisch eindrang. Sie drehte den Kopf und sah, dass Molino stolperte. Blut sickerte aus einer Wunde in seiner Brust, die Waffe fiel ihm aus der Hand, aber er war noch auf den Beinen.

»Lauf, Megan«, rief Harley aus dem Wald. »Er ist dir zu nahe. Ich habe keine freie Schussbahn auf ihn.«

»Betrügerin. Du versuchst, mich zu bescheißen.« Molino hatte sie eingeholt und legte ihr die Hände um den Hals. »Steven lässt nicht zu, dass du betrügst. Ich schlachte dich …«

Noch ein Schuss. Molino zuckte zusammen, als die Kugel seinen Arm traf.

Megan stieß ihn von sich, und er fiel auf die Seite.

Aber er packte sie, warf sie um und rollte sie zum Rand des Abgrunds. »Ich schlachte dich. Ich schlachte alle die … Freaks.«

Sie kämpfte verzweifelt. Er wollte sie in den Abgrund stoßen. Er dürfte eigentlich keine Kraft mehr haben. Aber es war, als hätten ihn die Schüsse gar nicht getroffen. Hätte sie doch nur dieses Gewehr, das im Wald lag, an sich gebracht.

Kein Gewehr.

Aber sie hatte eine andere Waffe.

»Es ist zu spät«, keuchte sie. »Ihr Steven kann Ihnen nicht helfen. Meine Mutter hat ihn getötet.« Sie streckte die Hand nach Molino aus. »Wissen Sie, wie es ist, verrückt zu werden? Sprechen Sie mit Steven. Ich werde Sie berühren, Molino.«

Er erstarrte und ließ ihre Hand nicht aus den Augen, als wäre sie eine Kobra, die bereit war zuzubeißen.

»Haben Sie Angst? Das sollten Sie. Sie haben meine Mutter ermordet, und sie will Ihren Tod. Selbst wenn ich keine Pandora bin, kann sie durch mich handeln. Immerhin bin ich ein Freak. Sie wissen alles über Freaks, stimmt’s?« Sie berührte seine Wange.

Er schrie und verdrehte die Augen. »Nein!« Er kroch weg von ihr. »Freak. Monster.«

»Sie sind das Monster.« Sie robbte zu ihm. Nur noch einen halben Meter, und er fiel in die Tiefe. »Sie werden sterben, Molino. Glauben Sie, dass der Wahnsinn und das Leid den Menschen ins Grab folgen? Ich hoffe es.«

»Geh weg von mir.« Er rutschte näher zum Abgrund. »Komm nicht näher.«

»Aber ich möchte Sie berühren. Ich will Ihre Hand halten.« Sie schnellte mit ausgestreckter Hand vorwärts.

Er schrie und stürzte in die Tiefe.

Im Fallen packte er ihren Arm.

Sie rutschte, und er zog sie über den Rand.

»Steven …«, keuchte Molino. »Er wird mich nicht sterben lassen. Wir werden …«

Er stieß einen Schrei aus, als sich der Griff um ihren Arm lockerte. Er fiel.

 

Sie rutschte!

Megans Nägel bohrten sich in eine schmale Felsritze.

Nicht fallen. Lass Molino nicht gewinnen.

Ihre Füße fanden Halt auf einem kleinen Vorsprung, aber die Erde unter ihren Sohlen bröckelte, gab nach, während sie nach etwas tastete, was nicht da war.

Ihre Finger rissen auf und bluteten.

»Halt dich fest, Megan.« Harleys Gesicht tauchte über ihr am Rand des Abgrunds auf. »Ich komme dir entgegen, so weit ich kann. Ich werde dein rechtes Handgelenk umfassen und versuchen, dich nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen.«

Hoffnung.

Er streckte die Hand nach ihr aus. »Ich kann dich nicht erreichen.« Er robbte noch ein wenig näher. »Grady kommt aus dem Haus gerannt. Wir lassen dich nicht fallen, Megan.«

Wenn sie sie rechtzeitig festhalten konnten.

Sie rutschte noch ein paar Zentimeter tiefer, als noch mehr Erde unter ihren Füßen wegbrach. Ihre Arme schmerzten, aber sie hielt sich fest.

»Gott im Himmel, nur ein paar Zentimeter …« Harley streckte sich ihr entgegen – er konnte sie nicht erreichen. Er versuchte es einmal. Zweimal. Beim dritten Versuch gelang es ihm, ihr Handgelenk zu umfassen. »Ich hab dich.«

Die Erdkrume, auf der sie stand, bröckelte vollends weg.

Sie stürzte!

»Hilf mir.« Harley hielt sie an einem Handgelenk fest, und sie baumelte über dem Abgrund. »Fass zu. Ich kann das nicht allein.«

Ihre Finger schlossen sich um seine Hand.

»Megan, gib mir deine andere Hand.« Grady kniete neben Harley und streckte ihr die Hand entgegen. »Wag es nicht zu fallen.«

»Halt den Mund.« Sie keuchte und versuchte, mit der Linken nach ihm zu greifen. »Ich tue mein Bestes.«

»Und es ist gut.« Er beugte sich vor und umfasste mit beiden Händen ihre Linke. »Wunderbar. Jetzt musst du nur noch ein wenig aushalten, bis wir dich hochgezogen haben.«

Sie fühlte sich, als würden ihr die Schultern ausgekugelt, als die beiden Männer sie langsam den Felsen hinaufzerrten. Sie brauchten mindestens drei Minuten, bis ihr Oberkörper auf festem Grund lag.

»Mein Gott.« Gradys Stimme war heiser. Plötzlich hielt er sie in den Armen und wiegte sie. Sein Herz klopfte so heftig wie ihres. »Mein Gott.«

Leben. Sie war nahe dran gewesen, ihres zu verlieren, ihn zu verlieren. Sie klammerte sich an ihn, während sie mit geschlossenen Augen dalag und um Atem rang.

»Okay?«, flüsterte Grady an ihrer Wange.

Sie schlug die Augen auf. Grady und Harley kauerten neben ihr. Sie schob Grady weg, dann zog sie ihn wieder an sich. Noch nicht. Sie wollte ihn noch nicht loslassen. »Nein, ich habe Angst und fühle mich sehr verletzlich.«

»Du solltest dich verletzlich fühlen.« Harley grinste. »Fliegen ist nicht gerade eine Stärke der Menschen.« Er kroch zum Rand und schaute hinunter ins Tal. »Molinos war es sicher nicht. Er liegt da unten wie eine zerbrochene Chucky-Puppe.« Er stand auf. »Aber in den Filmen ersteht der Böse Chucky immer wieder von den Toten auf.« Er drehte sich um und ging zur Straße. »Ich denke, ich gehe hinunter und vergewissere mich, dass er nicht wieder aufspringt.«

Megan verstand ihn gut. »Ich weiß, dass er da unten liegt.« Sie stand auf und ging zum Rand. »Aber ich möchte es mit eigenen Augen sehen.«

Grady war neben ihr und stützte sie. »Molino ist kein Chucky. Niemand könnte einen solchen Sturz überleben.«

»Das ist mir bewusst, aber Molino war zu lange der Schwarze Mann. Ich kann nicht glauben, dass er nicht für immer im Schatten lauert.« Sie starrte in den Abgrund. Da lag er, ausgestreckt auf dem Felsen.

Eine zerbrochene Chucky-Puppe, hatte Harley gesagt.

Monster.

Jemand kam aus dem Unterholz und ging auf Molino zu. Venable? Harley?

Nein, Renata. Sie hätte wissen müssen, dass Renata denselben Instinkt hatte wie Harley und ganz sichergehen wollte, dass Molino tot war.

»Zufrieden?«, fragte Grady.

Megan nickte. »Ich denke schon. Im Moment bin ich ziemlich taub. Ich kann meine Gefühle nicht sortieren. Darüber zerbreche ich mir später den Kopf.« Sie wollte nicht an den Tod denken. Sie war ihm zu lange zu nahe gewesen. Sie brauchte Hoffnung und Leben. »Bring mich nach Bellehaven. Ich muss nach Phillip und Davy sehen.«

 

»Tot?«

Renata, die neben Molino kauerte, sah zu Harley auf. Sie nickte. »Gebrochenes Genick. Eine Schusswunde in der Brust, eine andere im Arm, und sein Kopf muss auf den Felsen aufgetroffen sein. Über ihn brauchen wir uns keine Gedanken mehr zu machen.«

»Sie hätten sich ohnehin keine Gedanken um ihn machen müssen.« Er stellte sich neben sie. »Ich war auf dem Weg, mich von seinem Tod zu überzeugen.« Er lächelte. »Oh, stimmt ja. Das hätte bedeutet, dass Sie einem anderen vertrauen müssten.«

»Ich denke, das hätte ich getan – ich bin nur einfach daran gewöhnt, das zu tun, was man mir beigebracht hat.« Sie stand auf. »Und dies war Molino. Deshalb bin ich auch nicht zu euch gelaufen, als ihr Megan über den Rand gezogen habt. Ich musste hier herunter und mich vergewissern. Es durfte kein Irrtum sein.«

»Ich begehe keine Irrtümer, Renata«, erwiderte er ruhig.

»Nein, das tun Sie nicht.« Sie sah ihn an. »Natürlich hätten Sie den Bastard besser treffen können.«

»Ich stand fast tausend Meter weit weg. Und Megan war ihm zu nahe.«

»Na ja, im Großen und Ganzen haben Sie Ihre Sache heute gut gemacht.«

Er lachte leise. »Ich fühle mich, als hätten Sie mir eine Goldmedaille verliehen.« Er neigte den Kopf zur Seite. »Nur ist mir noch nie ein Wettkampfrichter begegnet, der so demoliert ist. Sie sehen aus, als hätten Sie sich im Dreck gewälzt, diese verdammte Wunde an der Schulter blutet wieder, und Ihre Wange ist geschwollen und blau.« Er streckte die Hand aus und berührte ihre Wange. »Molino?«

»Condon – einer von seinen Männern.« Sie wich einen Schritt zurück, und er ließ die Hand sinken.

»Cousin Mark hätte Ihnen beibringen sollen, besser auf sich aufzupassen.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Mark sagt, die erste Regel der Sicherheit ist, seine Aufgabe zu erledigen und sich auf nichts einzulassen. Diese Regel hab ich verletzt.«

»Dafür ist Ihnen Megan zweifellos sehr dankbar.«

»Weshalb? Ich hätte Molino finden müssen, bevor er sie in die Fänge bekam. Ich hab einen lausigen Job gemacht.«

»O ja. Ich sehe, dass alles nur Ihr Fehler war.«

»Ich wäre besser gewesen, wenn ich mich nicht von Emotionen hätte ablenken lassen.« Sie machte kehrt und ging zur Straße, die auf den Berg führte. »Ich muss Megan sehen und anschließend Mark anrufen, um ihm von Molino zu erzählen.«

»Sehen Sie sich nur an. Sie hinken sogar.«

Sie warf einen Blick über die Schulter – Harley schaute ihr mit gerunzelter Stirn nach. »Mir geht’s gut. Kümmern Sie sich um Ihre Angelegenheiten.«

»Dies ist meine Angelegenheit.« Er folgte ihr. »Megan hätte es nicht gern, wenn ich Sie allein da hinaufgehen ließe. Sie wissen, was für ein weiches Herz sie hat. Sie hat heute schon genug durchgemacht. Ich mache Sie ein wenig sauber, bevor Sie ihr unter die Augen treten.« Er schlang ihr den Arm um die Taille. »Kommen Sie. Sie haben sich schon einmal an mich gelehnt, und es war gar nicht so schlimm«

Warum nicht? Sie war verletzt und hatte ein leeres Gefühl, das … Einsamkeit sein könnte. Wahrscheinlich war dies das letzte Mal, dass sie Hilfe von Harley oder den anderen in Anspruch nehmen musste. Bald war sie wieder auf sich allein gestellt.

»Sie haben recht; Megan ist viel zu weichherzig.« Sie lehnte sich an ihn. »Aber ich möchte nicht, dass sie sich schlecht fühlt …«