KAPITEL 6

E

s war fast Mittag, als Megan den Computer ausschaltete und sich zurücklehnte.

Fertig.

Eigentlich hätte sie müde sein müssen, aber sie war zu aufgedreht, um etwas anderes als Aufregung, Anspannung zu spüren … und Angst.

Sie musste die Angst überwinden. Sie hatte nicht all die Zeit und Mühe aufgewendet, um sich jetzt durch einen Gefühlsausbruch selbst zu blockieren. Geh nach Hause, nimm eine Dusche, und brüh dir eine Kanne Kaffee auf. Denk nüchtern und logisch, geh deine Notizen durch, dann kannst du Schlüsse ziehen.

Gleichgültig, wie diffus und unlogisch diese Schlüsse auch sein mochten.

 

»Du hast angerufen?«, fragte Grady, als sie ihm zwei Stunden später die Haustür öffnete.

»Vor zehn Minuten.« Sie runzelte die Stirn. »Du musst praktisch vor dem Haus gewesen sein.«

»In der Nähe.« Er kam in den Flur und machte die Tür zu. »Ich hab doch gesagt, dass ich unverzüglich komme, wenn du anrufst.«

»Da waren wir im Krankenhaus.«

Er lächelte. »Das macht keinen Unterschied. Ich bin nicht für kurzfristige Verpflichtungen. Du musst einen guten Grund gehabt haben, mich anzurufen. Im Moment gehöre ich nicht zu deinen liebsten Mitmenschen.«

»Das stimmt.« Sie drehte sich auf dem Absatz um. »Komm in die Küche, und setz dich. Ich muss mit dir reden. Ich gebe dir sogar eine Tasse Kaffee.«

»Du bewirtest mich unter deinem Dach? Ist das nicht ein mittelalterlicher Brauch, wenn man auf einen Waffenstillstand aus ist?«

»Ich bewirte dich nicht. Ich biete dir einen Kaffee an.« Sie rückte einen Stuhl zurecht; Tassen und die Kaffeekanne standen bereits auf dem Tisch. »Und ob es einen Waffenstillstand gibt, hängt allein davon ab, was du mir erzählst.«

»Dann fange ich damit an, dir über Phillip Bericht zu erstatten. Ich habe die Klinik angerufen – man hat ihn im Bellehaven Nursing Home untergebracht. Ich habe Harley gebeten, eine Wache für ihn zu organisieren.«

Sie straffte die Schultern. »Moment mal. Du hattest kein Recht, ohne meine Erlaubnis ein Pflegeheim für ihn auszusuchen. Hast du überhaupt eine Ahnung, wie viele schlechte Pflegeheime es gibt? Ein Koma-Patient ist vollkommen hilflos.«

»Ich würde Phillip nicht in eine Einrichtung stecken, in dem er keine gute Pflege bekommt. Es ist ein ausgezeichnetes Heim. Bellehaven hat in einem Nebengebäude eine Koma-Rehabilitationsabteilung eingerichtet, die von Dr. Jason Gardner geleitet wird. Zwar ist es nur eine kleine Station, aber mit höchstem Standard. Dort lassen sie die Kranken nicht einfach dahinvegetieren. Sie wenden experimentelle Medikamente und Methoden an. Die Patienten bekommen eine Physiotherapie und werden sogar psychologisch ausgewertet. Ich habe mit Gardner telefoniert – er setzt sich leidenschaftlich für seine Patienten ein. Das müsste dir gefallen.«

»Tut es.« Phillip brauchte in seiner dunklen Welt jede Hingabe, die man ihm geben konnte. »Hat er Phillip schon untersucht?«

»Nein, das macht er morgen. Augenblicklich ist der Zustand unverändert. Sie werden uns beide benachrichtigen, wenn bis heute Abend eine Veränderung eintritt – zum Guten oder zum Schlechten. Morgen kannst du dich mit Dr. Gardner in Verbindung setzen. Er hat mir seine Nummer gegeben und gesagt, dass er für Angehörige seiner Patienten jederzeit zu sprechen ist.«

»Das klingt, als wäre er ein guter Arzt, ein guter Mensch.« Und nach einer Weile setzte sie hinzu: »Danke.« Es war schlau von Grady, sie gnädig zu stimmen und an ihre Zuneigung zu der einzigen Person zu appellieren, über die sie ohne Streit reden konnten. »Ich hatte damit gerechnet, dass er erst morgen verlegt wird.«

»Ich wollte, dass er besser untergebracht ist.«

»Damit du ihn von deiner Prioritätenliste streichen kannst?«

»Nein.« Er schaute ihr in die Augen. »Um ihn von deiner zu streichen. Ja, ich wollte, dass er die bestmögliche Pflege erhält, andererseits wollte ich, dass du einen klaren Kopf bekommst. Wenn mich das zu einem Scheißkerl macht, dann soll es so sein.« Er schenkte ihr Kaffee ein. »Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass meine Selbstsucht im Augenblick so wichtig ist, sonst säße ich nicht hier. Jetzt bist du dran, Megan. Warum willst du mich sprechen?«

»Weil du derjenige bist, der mir Antworten geben kann.« Sie umklammerte mit beiden Händen ihre Tasse. »Ich muss mehr wissen.«

»Mehr als was?«

Sie holte ein zusammengefaltetes Papier aus ihrer Tasche und überreichte es ihm. »Als ich in der Höhle war, konnte ich diese Wortfetzen aus der grässlichen Kakophonie heraushören. Das waren die lautesten Echos.«

»Und?«

»Ich musste mich vergewissern, ob das, was du sagst, wahr ist.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, es gibt keine Möglichkeit, es schwarz auf weiß zu beweisen, aber ich muss es glauben.« Sie atmete tief durch. »Deshalb habe ich die letzten sechzehn Stunden am Computer die Todesanzeigen durchgesehen – ich wollte Tatsachen, auf die ich mich stützen kann.«

»Und, hast du sie gefunden?«

Sie antwortete nicht direkt. »Es war nicht leicht. Ich hatte keine Daten, die ich hätte eingeben können, und musste alle Hinweise auf den Baggersee seit 1913, dem Gründungsjahr der Lokalzeitung, durchgehen. Ich war nicht mal sicher, ob ich Meldungen oder Berichte über die Ereignisse, die sich dort abgespielt haben, finden würde. Falls es sich um Verbrechen handelte, könnten sie auch im Verborgenen geblieben sein. Und die Zeitung hat auch keinen Grund, über alle persönlichen Tragödien zu berichten.«

»Gar keinen Grund.« Er fixierte sie. »Aber du bist auf etwas gestoßen. Du … warst fündig.« Er tippte auf den ersten Namen auf dem Papierbogen. »Hiram?«

»1922, Hiram Ludlow, ein Arbeiter im Steinbruch stand wegen Mordes an seiner Frau Joanna vor Gericht. Er hat sie nur wenige Meter von der Höhle entfernt von den Felsen gestoßen. Danach suchte er seinen Bruder Caleb und erschoss ihn. Hiram starb 1935 im Gefängnis.«

Grady deutete auf den zweiten Namen. »Pearsall?«

»1944, Kitty Brandell verklagte Donald Pearsall auf Kindesunterhalt für ihre uneheliche Tochter. Sie arbeitete in der Pearsall Teppichfabrik in der Nähe, und als Donald aus dem Zweiten Weltkrieg nach Hause kam, eroberte er Kitty offenbar im Sturm. Sie trafen sich in diesem Sommer einige Male heimlich in der Höhle – ihre Tochter Gail wurde dort gezeugt. Donald stritt ab, der Vater zu sein; Kitty verlor ihren Job in der Teppichfabrik und wurde praktisch aus der Stadt gejagt. Aber sie wehrte sich, sparte Geld für den Anwalt und strengte eine Gerichtsverhandlung an, als ihre Tochter sieben Jahre alt war.«

»Und hatte sie Erfolg vor Gericht?«

»Nein. Donalds Familie war einflussreich und vermögend. Kitty stand mit leeren Händen da. Sie musste die Gerichtskosten bezahlen, und ihr Ruf war ein für alle Mal dahin, was zu der Zeit ein schreckliches Los war. Ich wollte herausfinden, was aus ihr geworden ist, hatte aber nicht die Zeit, Nachforschungen über die Dinge anzustellen, die außerhalb der Höhle vorgefallen sind.«

Er sah auf den dritten Namen. »Was ist mit Baby John?«

»Darüber konnte ich nichts finden«, antwortete sie kopfschüttelnd. »Vielleicht hat er keine Gewalt in der Höhle erfahren. Oder seine Mutter hat sich wie ein verwundetes Tier in die Höhle verkrochen, nachdem ihr kleiner John gestorben oder verletzt worden war. Es gibt keine größere Tragödie, als ein Kind zu verlieren.«

Grady malte ein Fragezeichen neben die Notiz »Baby John«. »Zwei von drei. Nicht schlecht.«

»Nicht schlecht? Es ist furchtbar. Alles ist schrecklich.« Sie brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen, als er den Mund aufmachte. »Ja, ich weiß, du spielst auf meine ›Trefferquote‹ an. Aber ich kann die Stimmen nicht von den traumatischen Erlebnissen trennen. Ich kann meinen eigenen Schmerz nicht lindern. Es ist, als würde ich ihn einsaugen und könnte ihn nicht mehr abschütteln. Ist das Phillips Frau jemals gelungen?«

Er nickte. »Aber sie hat die Emotionen niemals so stark empfunden wie du. Nora konnte die Stimmen nicht unterscheiden. Sie waren nur wie eine Geräuschkulisse, wie die Schreie der Insassen einer Irrenanstalt. Ich denke, so ergeht es den meisten Lauschern.«

»Wieso habe ich dann dieses Glück?«, fragte sie sarkastisch.

Er schaute in seine Tasse. »Dein besonderes Talent hat vielleicht noch andere Facetten.« Er wechselte das Thema. »Du hast meine Frage nicht beantwortet. Du hast nach Tatsachen gesucht, an die du dich klammern kannst, nach überzeugenden Beweisen. Hast du sie gefunden?«

»Es könnten alles nur Vermutungen sein, Zufälle.«

»Hast du sie gefunden?«, wiederholte er. »Glaubst du mir? Akzeptierst du, was du bist?«

Sie schwieg eine Weile – sie sträubte sich, es auszusprechen. Dieses Eingeständnis würde alles verändern: ihre Vergangenheit, ihre Gegenwart und die Zukunft. Sie würde sich selbst nicht mehr so sehen wie bisher.

»Ziemlich unheimlich, wie? Du brauchst dich dem nicht allein zu stellen, wenn dir das hilft. Ich bin für dich da.«

»Ich will deine Hilfe nicht.« Das entsprach nicht der Wahrheit. Sie wollte jede Hilfe, die sie bekommen konnte, aber sie konnte sie nicht annehmen. »Ich bin, was ich bin, und muss allein mit den Problemen fertig werden.«

»Und was genau bist du, Megan?«, fragte er leise. »Sag es.«

»Ich bin eine einigermaßen intelligente Frau und Ärztin.«

»Und?«

Sie zögerte, dann bekannte sie stockend: »Ich bin eine Lauscherin, verdammt.«

Er lächelte. »Endlich.«

»Aber ich bin nicht Nora und werde mich nicht wie sie von dir abhängig machen.«

»Das habe ich begriffen, als ich hinter dir herfahren musste und du beschlossen hattest, deinen Dämonen zu begegnen. Die meisten Menschen wären traumatisiert gewesen. Ich glaube, dass es deinem Charakter widerspricht, dich von jemandem abhängig zu machen.«

Sie hörte ihm gar nicht mehr zu. »Dämonen«, wiederholte sie. »Davon hast du schon einmal gesprochen. Aber ich darf die Stimmen nicht als Dämonen ansehen, wenn ich mit ihnen leben muss. Es sind Menschen. Schlechte Menschen, gute Menschen, egoistische, großzügige, hilflose, mächtige – es sind Menschen. Nichts anderes. Hätte ich es mit Dämonen zu tun, wäre mein Leben wahrlich die Hölle.«

»Mein Gott.«

»Was?«

»Du passt die Situation bereits deinen Bedürfnissen an.«

»Ich versuche zu überleben, und ich werde überleben.«

»Davon bin ich überzeugt.« Er trank einen Schluck Kaffee. »Aber du hast mich bestimmt nicht hergebeten, damit ich dir zusehe, wie du mit deiner Gabe kämpfst. Du hast gesagt, dass du Antworten willst.«

»Ich denke in geordneten Bahnen. Deshalb befasse ich mich mit einem Problem nach dem anderen.«

»Offensichtlich hast du einen Bocksprung über das erste gemacht. Stell mir deine Fragen.«

»Bocksprung?« Sie war wie eine Schnecke gekrochen, als es galt, sich einzugestehen, dass sie eine verdammte Lauscherin war. Trotzdem hatte sie es akzeptiert und musste den nächsten Schritt tun. »Du hast gesagt, dass meine Mutter von einem gewissen Molino umgebracht wurde. Ein Rachemord. Warum?«

»Er hat sie für den Tod seines Sohnes Steven verantwortlich gemacht. Molino ist der Abschaum der Menschheit, aber seinen Sohn hat er geliebt. Er war stolz auf ihn und der Ansicht, dass der Junge ganz nach ihm schlug; wahrscheinlich hatte er recht damit. Nach allem, was ich weiß, war Steven ein Lügner, ein Sadist und Vergewaltiger. Das alles hatte er mit Molino gemein.«

»Und er dachte, dass meine Mutter seinen Sohn getötet hat?« Sie schüttelte den Kopf. »Er hat sich geirrt, oder?«

»Das hängt davon ab, von welchem Standpunkt aus man das betrachtet.«

»Nein, das tut es nicht. Sie war lieb und sanftmütig.«

»Ja, aber auch liebe und sanftmütige Menschen töten aus Notwehr.«

»Aus Notwehr? Wer, zum Teufel, ist dieser Molino?«

»Abschaum, wie gesagt. Er hat jede Menge Dreck am Stecken. Er ist ein Drogendealer, besitzt etliche Bordelle in Afrika und Südamerika, und er mischt im weltweiten Kinderhandel mit.«

»Was?«

»Er bezahlt Banditen dafür, dass sie Kinder in den afrikanischen Dörfern stehlen, in den USA und Europa kümmert er sich selbst um die Entführungen. Er verkauft die Kinder an Kunden in der ganzen Welt. Das ist ein ausgesprochen lukratives Geschäft. In Afrika gibt es den Glauben, dass man sich vom Aids-Virus befreien kann, wenn man ein Mädchen entjungfert.«

Megan konnte das nicht fassen. »Nein«, hauchte sie entsetzt.

»Ich würde dir die hässlichen Einzelheiten gern ersparen, aber du musst begreifen, was für ein Hurensohn Molino ist.« Und nach einem Moment fügte er hinzu: »Und warum dich deine Mutter verlassen hat, als sie gebeten wurde, bei seiner Ergreifung mitzuhelfen.«

»Und wer hat sie gebeten?«

»Die CIA. Sie wurden von der Regierung scharf kritisiert, weil die Ganoven den Markt mit den Drogen überschwemmten, mit denen Molino sie für ihre Dienste bezahlte.« Er hob die Schultern. »Natürlich war das nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Molinos Netzwerk war so ausgedehnt, dass sie glaubten, ihn nicht aufhalten zu können, dennoch entschieden sie sich, es zu versuchen.«

»Und wieso haben sie meine Mutter einbezogen?«

»Sie mussten seinen Aufenthaltsort ausfindig machen und ihn in einer verfänglichen Situation schnappen, um Beweise gegen ihn zu haben. Damals war er in Afrika unterwegs, und die üblichen Informanten erwiesen sich als nutzlos. Deshalb liehen sie sich mich von meiner Einheit aus und beauftragten mich, ihn aufzuspüren.« Er wiegte den Kopf. »Leider war das nicht mein Fachgebiet. Ich kann kontrollieren, nicht lokalisieren. Deshalb hab ich Michael Travis, den Leiter der Psychic Investigative Group in Virginia, angerufen und gebeten, mir jemanden zu schicken, der den Auftrag übernehmen konnte. Er nannte mir den Namen einer Frau, die er drei Jahre zuvor kennengelernt hatte. Sie war zu ihm gekommen, weil sie vermutete, dass ihre Tochter eine Lauscherin ist, und wollte wissen, wie man die Echos ausschalten kann. Ihre eigenen konnte sie blockieren, bei ihrem Kind jedoch brauchte sie Hilfe. Das kleine Mädchen hatte mit sieben zum ersten Mal die Stimmen gehört, und damals war es ihr noch gelungen, sie zum Schweigen zu bringen, doch als das Mädchen in die Pubertät kam, wurde sie nicht mehr allein damit fertig.«

»Das Mädchen war ich?«, flüsterte Megan.

Grady nickte. »Michael Travis half deiner Mutter, so gut er konnte, aber er merkte, dass sie stärker war als er. Er machte ausführliche Tests mit ihr und fand heraus, dass sie erstaunlich vielfältige Talente besaß. Sie war nicht nur eine Lauscherin, sondern auch eine Finderin. Man brauchte ihr nur einen Handschuh, einen Schal oder eine halbgerauchte Zigarette zu geben, und sie konnte die Person nicht nur aus einer meilenweiten Entfernung erspüren, sondern sie auch aus einer Menschenmenge herauspicken. Michael meinte, dass sie genau die Richtige für den Job wäre. Wir mussten sie nur noch dazu bringen, mit uns zusammenzuarbeiten. Leider wollte sie sich auf nichts einlassen, was mit parapsychologischen Phänomenen zu tun hatte, und war nur an den Methoden interessiert, die ihr und ihrer Tochter halfen, zu überleben und ein normales Leben zu führen. Michael war sehr enttäuscht, weil er Hinweise auf Talente erkannte, die man nur selten findet. Er wollte noch weitere Tests durchführen. Sie lehnte ab.«

»Sie hat ihm die Bitte abgeschlagen?«

»Er hat sie nie wiedergesehen. Aber er behielt sie im Auge, weil er glaubte, es sei unverantwortlich, ein solches Potential zu ignorieren.«

»Das klingt so … klinisch.« Sie fröstelte. »Sie war kein Potential, sie war meine Mutter. Es war ihr gutes Recht, euer verdammtes Potential zu ignorieren und ein normales Leben zu führen. Ihr hättet sie in Ruhe lassen sollen.«

»Wir haben sie zu nichts gezwungen. Wir erklärten ihr die Situation und überließen ihr die Entscheidung.« Seine Lippen zuckten. »Ich will nicht behaupten, dass die Leute von der CIA sie nicht überredet haben. Sie zeigten ihr ein paar Fotos von den Kindern, die sie aus den Händen ihrer ›Besitzer‹ befreien konnten. Zwei von ihnen waren bereits mit Aids infiziert.«

»O Gott.«

»Danach hat sie sich bereit erklärt, diesen einen Auftrag zu übernehmen, aber nur diesen. Sie meldete dich für sechs Wochen in einem Feriencamp an. Du warst dreizehn. Erinnerst du dich?«

»Klar. Ich wollte nicht in dieses vermaledeite Camp. Ich wollte bei ihr bleiben. Sie sagte, ich müsste mehr unter Gleichaltrigen sein.« Nie im Traum hätte Megan daran gedacht, dass Sarah in jenem Sommer auf Verbrecherjagd gehen würde. Ihre Mutter hatte sie immer gedrängt, anderen Kindern gegenüber aufgeschlossener zu sein, deshalb erschien es vollkommen normal, dass sie sie ins Ferienlager schickte. »Wohin ist sie gefahren?«

»Nach Zentralafrika. Molino sollte sich dort mit einem seiner Gaunerkomplizen, Kofi Badu, zu einer Geldübergabe treffen. Damals lernte ich sie kennen. Wir kamen uns … nahe.«

»Wie nahe?« Und nach einer Weile setzte sie hinzu: »Wart ihr ein Liebespaar?«

»Nein. Sie war verängstigt, und ich versuchte, ihr zu helfen. Ich war daran gewöhnt, dass mich alle als Freak ansahen, aber sie war dem zum ersten Mal ausgesetzt. Sie hatte ihr Talent immer versteckt.« Er begegnete Megans Blick. »Dachtest du das, als ich in dem bewussten Sommer bei euch am Strand auftauchte? Dass wir ein Liebespaar sind?«

»Anfangs nicht. Aber manchmal kam es mir vor, als könntet ihr gegenseitig eure Gedanken lesen.« Und sie war eifersüchtig gewesen, erinnerte sie sich. Ihre Mutter hatte recht gehabt. Sie hatte sich Hals über Kopf in Neal Grady verknallt. Vom ersten Augenblick an hatte er sie gefangen genommen. Er war ihr Freund und Lehrer gewesen, trotzdem hatte sie sich auch sexuell zu ihm hingezogen gefühlt. Es hatte Momente gegeben, in denen sie ihn nur anzuschauen brauchte, und ihr Herz begann, schneller zu schlagen.

Um Himmels willen, damals war sie erst fünfzehn gewesen. Es war eine absolut normale Reaktion eines jungen Mädchens, das auf einen so attraktiven Mann wie Neal Grady trifft.

»Ich kann dir versichern, dass es nichts mit Übersinnlichem zu tun hatte, wenn wir unsere Gedanken erraten haben«, sagte Grady. »Wir saßen uns auf der Pelle, als wir im afrikanischen Dschungel waren, und das schweißt zusammen.«

»Hat meine Mutter Molino gefunden?«

»Ja.« Er verzog den Mund. »Wir gaben ihr ein rotes Hemd, das Molino in seinem Bordell auf Madagaskar hatte liegen lassen – das genügte ihr. Wir flogen in den Dschungel, wo wir ein Versteck von Kofi Badu vermuteten, und verbrachten drei Tage dort. Sie ortete Molino und führte ein Team zu ihm.«

»Und da hat sie Molinos Sohn getötet?«

»Nein, das war später. Der Vorstoß erwies sich als Reinfall. Sie hatten uns erwartet. Wir verloren sieben Männer … und deine Mutter wurde gefangen genommen.«

Megan zuckte zusammen. »Was?«

»Wir haben sie zwei Tage später wiederbekommen. Aber da war es bereits passiert. Sie hatte Molinos Sohn getötet.«

»Molinos Sohn ist mir egal«, gab sie hitzig zurück. »Was war mit meiner Mutter? Haben sie ihr etwas angetan?«

»Ja. Aber sie hat es überlebt und ist gestärkt aus der Sache hervorgekommen.«

»Was haben sie mit ihr gemacht?«

»Bist du sicher, dass du das wissen willst?«

»Ja, verdammt.«

»Molinos Sohn hat sie vergewaltigt.«

Megan wurde übel. »Dann bin ich froh, dass er tot ist.« Lieber Himmel, was hatte ihre Mutter durchgemacht! »Sie hat sich mir gegenüber nie etwas anmerken lassen. Als ich aus dem Ferienlager heimkam, war sie wie immer.«

»Ich hab dir gesagt, dass sie die Sache heil überstanden hat. Sarah war stark genug, um sich nicht von dem Dreck unterkriegen zu lassen.« Er atmete durch. »Aber als wir nach Hause kamen, beschlossen wir, Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen und sie für eine Weile verschwinden zu lassen. Deshalb haben wir euch beide sofort von Richmond weggebracht.«

»Mir hat sie gesagt, dass sie in Carolina einen besseren Job bekommen hätte.«

»Wir wollten ihr neue Kreditkarten und Papiere mit einem anderen Namen geben, doch das hielt sie nicht für nötig, da Molino vor der CIA auf der Flucht war. Sie sagte, dass Molino möglicherweise eines Tages festgenommen wird. Manchmal glaubte Sarah das, was sie glauben wollte. Du solltest nichts von ihm oder dem Talent erfahren, das sie dein Leben lang vor dir geheim hielt. Ich hab versucht, ihr das auszureden.«

»Warum?«

»Molino ist unermüdlich. Er bohrt, bis er auf etwas stößt. Er blieb lange im Untergrund, und Sarah fühlte sich mit jeder Woche sicherer. Dabei war er in dieser Zeit keineswegs untätig, sondern suchte und bestach jeden, der etwas über Sarah und ihren Verbleib wissen könnte. Nach ihrem Tod entdeckten wir, dass Molinos Männer am Tag zuvor Michael Travis’ Bibliothek durchsucht und alle Akten und Berichte über sie gestohlen hatten. Verdammt«, fuhr er fort, »ich wusste, dass er sie finden würde. Schon von Kindesbeinen an war ihm das Prinzip der Vendetta vertraut gewesen, und er würde nicht eher ruhen, bis er Sarah und ihre ganze Familie vernichtet hatte. Jahre vergingen, Sarah wurde immer sicherer, und mir wurde immer mulmiger zumute. Deshalb habe ich das Cottage in eurer Nachbarschaft gemietet und blieb in eurer Nähe.«

»Aber nicht an diesem letzten Tag.«

»Nein. Sarah wollte nicht, dass ich mit euch komme. Ihr ging es allmählich auf die Nerven, mich ständig um sich zu haben. Sie wollte Molino vergessen, und ich hinderte sie daran.«

»Deshalb ist sie ums Leben gekommen.«

»Ja.«

»Scheiße.« Tränen liefen Megan über die Wangen. »Meinetwegen. Stimmt’s? Sie wollte Sicherheit und Normalität für mich, und Molinos Leute haben uns gefunden.«

»Es war ihre Entscheidung, Megan. An alldem trägst du keine Schuld. Du warst der einzige Mensch, den sie liebte, und sie wollte nicht, dass du dich verfolgt fühlst, nur weil sie sich mit Molino angelegt hat.«

»Aber sie hat ihn nicht aufgehalten, oder? Er ist immer noch auf freiem Fuß und handelt mit Drogen und Kindern. Er hat meine Mutter ermordet, und alles, was sie getan hatte, war umsonst. Wie kann das sein?«

»Er ist clever. Und er ist reich. Er hat Kontakte zu den Regierungen vieler Länder. Korruption. Bestechung. Angst.« Und mit einem Achselzucken fuhr er fort: »Sein Hauptquartier ist in Madagaskar, und es ist sicher wie ein Fort. Und wenn er herumreist, hat er Geld genug, um sich praktisch unsichtbar zu machen. Die CIA versucht schon seit Jahren, seiner habhaft zu werden, und sie sind nicht imstande, den Bastard zu finden. Zweimal hätte ich ihn fast geschnappt, aber er ist mir entwischt.«

»Geschnappt?«

»Sarah war meine Freundin. Du glaubst doch nicht, dass ich den Kerl, der sie getötet hat, am Leben lasse?«

»Ich weiß nicht, was ich von dir halten soll, Grady.«

»Vor zwölf Jahren wusstest du, was du von mir halten sollst.«

Sommersonne. Sanfte Wellen. Gradys Lächeln.

»Schon damals hast du mir etwas vorgemacht.«

»Vielleicht«, erwiderte er. »Vielleicht aber auch nicht. Es war eine schöne Zeit für mich. Ich hatte das Gefühl, eine Familie zu haben. Nichts hat mich zu solchen Empfindungen gezwungen. Ich war da, um euch beide zu beschützen, und Emotionen sind immer hinderlich. Ich hätte nicht auf Sarah hören sollen, als sie mich bat, euch für eine Weile allein zu lassen. Aber was sie dachte und fühlte, war mir zu wichtig. Diesen Fehler werde ich nicht noch einmal machen. Nicht mit dir, Megan. Deshalb habe ich Phillip gebeten, dir zu sagen, dass er Sarahs Halbbruder ist – auf diese Weise konnte er dich überreden, seinen Nachnamen anzunehmen. Ich musste eine Möglichkeit finden, deine Spuren nach Sarahs Tod zu verwischen.«

»Phillip sagte, dass wir gemeinsam einen Neuanfang machen würden und die Namensänderung von Nathan in Blair Teil davon ist. So würden wir zu einer Familie werden.« Sie zitterte. Sie wollte Grady nicht glauben und sich nicht milde stimmen lassen. »Du brauchst dir nicht den Kopf über meine Gefühle zu zerbrechen. Vielmehr solltest du dir überlegen, wie du sicherstellen kannst, dass ich eine Chance mit diesem Molino bekomme.«

»Um ihn zu töten?«

Töten. Das Wort klang hässlich und war ihr fremd. Sie hatte sich jahrelang ausbilden lassen, um Leben zu retten, und jetzt beabsichtigte sie, eins auszulöschen.

»Siehst du? Für jemanden wie dich ist das kein leichter Entschluss.«

»Er hat meine Mutter umgebracht. Phillip erwacht vielleicht nie wieder aus dem Koma. So schwer ist der Entschluss gar nicht. Du kannst mir doch helfen, oder?«

»Ja, aber man muss immer einen Preis zahlen. Wenn du mir hilfst, helfe ich dir. Ich verspreche dir, dass wir Molino kriegen.«

Ein Preis. Er hatte schon vorher davon gesprochen, dass er ihre Hilfe wollte. »Was soll ich tun?«

»Ich bin auf der Suche nach etwas ganz Bestimmtem und denke, dass du mich wirksam unterstützen kannst.«

»Ich bin nicht wie meine Mutter. Ich kann Menschen oder Sachen nicht aufspüren.«

»Genau genommen ist die Gabe des Findens relativ weit verbreitet. Meistens geht sie mit bedeutenderen Fähigkeiten einher. Man weiß nie, welche Talente sich noch zeigen.« Er zuckte mit den Schultern. »Aber ich baue darauf, dass du dieses spezielle geerbt hast. Ich brauche nur eine Lauscherin – das ist nützlich genug.«

Sie schauderte, als sie sich daran erinnerte, wie schrecklich die Episode in der Höhle gewesen war. Und jetzt erwartete er, dass sie sich diesem Trauma noch einmal aussetzte?

»Und es wird vermutlich schlimmer als das, was du bisher erlebt hast.« Er beobachtete sie aufmerksam. »Ist es dir das wert?«

Lieber Gott, selbstverständlich war es das wert. Sie konnte alles ertragen, wenn sie Molino damit vernichten konnte. Seine groteske Präsenz überschattete ihr ganzes Leben. »Ich will nicht deine Marionette sein und werde nichts tun, was ich als unmoralisch ansehe.«

»Dann muss ich zusehen, dass ich diesen Teil des Projektes von dir fernhalte oder dich dazu verführe, zur dunklen Seite überzuwechseln.« Energisch setzte er hinzu: »Wir müssen sofort weg von hier. Molino hat dich observieren lassen, und ich möchte dich außer Reichweite bringen, dann können wir uns freier bewegen. Mich überrascht, dass er nichts mehr unternommen hat, seit Phillip angeschossen wurde. Wir werden ihm keine weitere Gelegenheit geben, dich anzugreifen.«

»Und wohin willst du mich bringen?«

»Nach Frankreich. Sprichst du französisch?«

»Highschool-Französisch. Ich habe viel vergessen. Muss ich das?«

»Ich weiß es nicht.«

»Und ich habe keinen Reisepass.«

»Kein Problem. Ich habe einen für dich.«

Ihr fiel wieder ein, was Phillip gesagt hatte – Grady hatte ihm Papiere besorgt, die bewiesen, dass er ihr Onkel war. »Wie praktisch. Du musst dir deiner Sache ziemlich sicher gewesen sein.«

»Nein, aber ich bin gern allseits bereit. Wie die Pfadfinder.«

Wie er so dasaß, dunkel, entspannt und träge, erinnerte er sie daran, dass ihre Mutter ihn einmal mit einem Renaissance-Prinzen mit für damalige Verhältnisse mörderischer Ausstrahlung verglichen hatte. »Du bist definitiv kein Pfadfinder.« Sie schob ihren Stuhl zurück. »Ich packe ein paar Sachen zusammen und rufe in der Klinik an, um mich für längere Zeit abzumelden. In einer Stunde bin ich bereit zum Aufbruch.«

Er nickte. »Ich muss auch noch einiges erledigen.«

Sie ging zur Tür. »Dann bist du also doch nicht ganz so bereit.« Sie drehte sich noch einmal zu ihm um. »Hast du mir die Wahrheit gesagt, Grady?«

»Absolut.«

Sie musterte ihn forschend. »Aber du hast mir noch nicht alles gesagt, stimmt’s?«

Er schwieg einen Moment. »Ich hätte wissen müssen, dass du das merkst. Nein, nicht alles.«

»Warum nicht?«

»Mir würde es keinen Vorteil verschaffen. Und Unwissenheit bringt dich in keine größere Gefahr, als ohnehin schon besteht.«

Er würde ihr nicht mehr preisgeben. »Ich werde alles erfahren, Grady.«

»Daran zweifle ich nicht. Aber nicht jetzt und nicht von mir.«

»Ich könnte das zur Bedingung machen.«

»Nur zu, zwing mich dazu«, forderte er sie ruhig, aber bestimmt auf. »Nicht jetzt, Megan.«

Sie zögerte. Im Augenblick hatte sie keine Lust, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Sie glaubte ihm, dass er ihr keine Lügen aufgetischt hatte. Der Rest konnte warten, bis sie sich und die Situation besser im Griff hatte. »Ich werde alles herausfinden, Grady. Mach dich besser darauf gefasst, Pfadfinder.« Sie ging durch den Flur und knallte ihre Zimmertür hinter sich zu.