KAPITEL 15
D
as ist ein ziemlich unbeholfener Verband«, stellte Harley fest.
Sie schaute auf, als er zu ihr zurückkam. »Haben Sie ihn erwischt?«
Er nickte, ohne den Blick von ihrer Schulter zu wenden. »Lieber Himmel, mussten Sie die ganze Bluse nehmen?«
»Halten Sie den Mund. Besser ging’s nicht. Ich konnte den verflixten Stoff nicht zerreißen.« Sie war so schwach, dass sie es kaum geschafft hatte, die Bluse richtig festzubinden. »Es war kein Schuss zu hören.«
»Ich hab ihm das Genick gebrochen. Das ist keine solche Sauerei wie mit einem Messer.«
»Ich hatte keine andere Wahl. Ich musste ihn schnell ausschalten.«
»Ich kritisiere Sie nicht. Sie haben sich ausgezeichnet geschlagen, wenn man bedenkt, dass die zu zweit und Sie allein waren, und Sie sind verwundet.«
»Seien Sie nicht so herablassend. Ich hab meine Sache gut gemacht – Punkt.«
Er lächelte. »Das stimmt. Die Ausbildung von Cousin Mark?«
»Er hat mich in ein Camp zur Terrorbekämpfung in der Nähe von Zürich gebracht, als ich sechzehn war. Er wollte dafür sorgen, dass ich in jeder Situation überleben kann.«
»Und ich wette, er hat Ihnen später Gelegenheit gegeben, Ihr Können in der Praxis zu verfeinern.«
Sie sah ihn ausdruckslos an. »Das geht Sie nichts an.«
»Stimmt. Würden Sie sagen, es geht mich auch nichts an, ob wir noch andere Ganoven außer diesen beiden entsorgen müssen?«
»Einen im Haus.« Sie verzog den Mund. »Er war ein viel ungeschickterer Einbrecher als Sie und Grady. Ich wusste bereits Sekunden, nachdem er das Türschloss geknackt hatte, dass er im Haus war.«
»Tot, nehme ich an?«
Sie nickte. »Ich habe ihn in den Keller gelockt. Aber es war nicht so leicht wie bei Falbon. Er wusste genau, was er tun musste.« Sie schwieg einen Moment. »Und er hatte Chloroform bei sich. Molino will mich lebend haben.«
»Dann haben Sie angerufen, um Megan und Grady zu warnen, und haben die Flucht ergriffen. Sie hätten auf Verstärkung warten können. Ich war nur fünf Minuten von Ihrem Haus entfernt, als mich Gradys Anruf erreichte.«
»Es wäre einfach für diese Kerle gewesen, Sprengstoff durchs Fenster zu werfen.« Sie hielt inne, dann wiederholte sie: »Fünf Minuten? Dann haben Sie mich weiterhin überwacht. Auf Gradys Anordnung?«
»Nein, das war meine Entscheidung. Ich muss gestehen, dass ich Ihren Auftritt auf der Straße mit Falbon faszinierend fand, und wollte nicht, dass der Abgang zu abrupt wird. Ich bin zu spät in den Keller gekommen, um Sie noch abzufangen. Sie liefen bereits in den Wald, und Molinos Männer waren Ihnen auf den Fersen.« Er kniete sich neben sie und nahm den Verband ab. »Darf ich? Ich glaube, ich kann das ein bisschen besser. Ich war mal Notarztwagenfahrer und kann Wunden gut versorgen.«
»Darauf möchte ich wetten.« Sie lehnte sich an den Baumstamm. »Nur zu. Zeigen Sie mir, dass Sie ein Experte sind.«
»Auf welchem Gebiet? Ich werde die Entblößung in Grenzen halten. Schließlich möchte ich Sie nicht in Verwirrung stürzen.« Er hatte den Verband abgenommen und stieß einen leisen Pfiff aus. »Das ist ziemlich hässlich. Die Wunde muss genäht werden. Ich bringe Sie besser zurück und überlasse Sie Megans geschickten Händen.«
»Wollen Sie damit sagen, dass Sie das nicht selbst können?« Ihre Lippen zuckten. »Sie stürzen mich nicht in Verwirrung, Harley.«
»Ich könnte Sie schon zusammenflicken.« Er riss die Bluse in Streifen und wickelte sie um die Wunde. »Aber ich bin ein Amateur, und Sie haben so schöne Schultern. Ich möchte nicht für eine unansehnliche Narbe verantwortlich sein.«
»Das würde mir keine Sorgen bereiten.«
»Mir schon.« Als er den Verband fertig hatte, hockte er sich auf die Fersen. »Sie könnten es sich anders überlegen und mit einer Machete auf mich losgehen.«
Sie schauderte. »Nicht mit einer Machete. Ich hasse Klingen. Töten ist schon schlimm genug, aber Messer …«
»Dann muss ich mich also nur vor einer Kugel in Acht nehmen? Was für eine Erleichterung.« Er stand auf und zog sie auf die Füße. »Wir sollten zurückgehen. Können Sie laufen?«
Sie nickte und ging zum Weg.
»Sie stehen nicht gerade fest auf den Beinen«, stellte Harley nach ein paar Minuten fest. »Würde es Ihren Stolz sehr verletzen, wenn ich Ihnen ein wenig helfe? Sie sind ein bisschen zu langsam für mich. Ich möchte Sie noch in diesem Jahrzehnt zu Megan und Grady bringen.«
»Mistkerl.« Sie blieb stehen und atmete tief durch. »Ich nehme an, es ist zu spät, um Ihre Hilfe zurückzuweisen. Immerhin habe ich Ihnen erlaubt, einen Mann für mich zu töten.«
»Das ist wahr. Ich schätze, damit haben Sie einen Präzedenzfall geschaffen.« Er nahm behutsam ihren Arm. »Ich verspreche, mir das nicht zu Kopf steigen zu lassen. Stützen Sie sich auf mich.«
Sein Griff ist warm und tröstlich, ging es Renata durch den Kopf. Er war kein ungefährlicher Mann, aber sie fühlte sich sicher. Es war lange her, seit sie sich zum letzten Mal so beschützt gefühlt hatte.
Sie lehnte sich an ihn und ließ zu, dass er sie stützte. »Wenn Sie mich fallen lassen, schlitze ich Ihnen die Kehle auf.«
»Nein, das würden Sie nicht tun.« Er lachte leise. »Sie mögen keine Messer.«
»Sie haben Glück, dass es nur eine Fleischwunde ist«, meinte Megan, als sie den letzten Stich machte. »Aber die Verletzung ist schlimm genug. Es war ein großkalibriges Geschoss. Sie werden eine Narbe behalten.«
»Mein Gott«, stöhnte Harley mit gespielter Erleichterung, »bin ich froh, dass ich es einem Profi überlassen habe, ihre Schulter zu versauen.«
»Ich habe gar nichts versaut«, wehrte sich Megan. »Ich habe mein Bestes getan, aber ich kann nicht …«
»Er macht nur Witze«, fiel ihr Renata ins Wort. »Er hat einen ganz speziellen Humor.«
»Wenigstens hab ich einen«, brummte Harley. »Cousin Mark hätte sich darum kümmern sollen, statt Sie in Kampftaktiken auszubilden.«
Megan schaute von Harley zu Renata. Die beiden waren grundverschieden. Renata war konzentriert und vorsichtig, und Megan spürte nahezu die elektrisierende Kraft, die sie anspornte. Im Gegensatz dazu vermittelte Harley den Eindruck, total entspannt zu sein, und er ging auf Menschen zu. Dennoch spürte Megan ein Band, ein Verständnis … irgendetwas.
»Es war ein guter Schlachtfeldverband, Harley«, lobte Megan, während sie selbst einen professionellen Verband anlegte. »Sie muss noch eine Weile ein Antibiotikum schlucken und aufpassen, dass die Nähte nicht reißen, aber bald ist alles ausgestanden.« Stirnrunzelnd berührte sie eine runde weiße Narbe auf Renatas Oberarm. »Das sieht auch aus wie eine Schussverletzung.«
Renata nickte. »Syrien.« Sie zog ein frisches Shirt an. »Sind Sie bereit? Wir sollten von hier verschwinden. Ich glaube zwar nicht, dass Molinos Männer Zeit hatten, Hilfe anzufordern, aber …«
»Wenn Grady wieder da ist«, sagte Harley. »Er hat ein paar seiner CIA-Kumpel angerufen. Sie schicken einen Säuberungstrupp her. Er trifft sie im Wald.«
»Wenn es hilft, könnte ich Mark anrufen.«
»Ich bin versucht, Sie darum zu bitten«, erwiderte Megan erbittert. »Ich würde Ihren Cousin gern kennenlernen.«
»Liebe Güte, Megan wird fürsorglich und mütterlich«, ächzte Harley. »Vielleicht sollte ich mal ein Wörtchen mit ihr reden, Renata.«
»Klappe, Sie wissen gar nichts. Megan ist eine Lauscherin – sie kann nicht anders.«
»Entschuldigung. Ich bin nicht vertraut mit all den Feinheiten dieser parapsychologischen Geschichten.« Er ging zur Tür. »Ich denke, Sie haben für eine Weile genug von mir. Ich sehe mich draußen ein wenig um. Ruft mich an, wenn ihr mich braucht.« Er bedachte Renata mit einem spöttischen Blick. »Falls das Ihre Würde nicht verletzt.«
Er wartete nicht auf eine Antwort.
Renata zog die Stirn kraus, als die Haustür ins Schloss fiel. »Er ist so ein Idiot.«
»Das denken Sie nicht wirklich«, widersprach Megan. »Also sagen Sie es auch nicht.«
Renata sah sie erstaunt an. »Sie sagen mir, was ich tun soll?«
»Ja.« Megan lehnte sich zurück und begegnete ihrem Blick. »Ich finde, es ist Zeit, dass das jemand tut. Sie mögen Expertin im Töten und im Kampf bestens ausgebildet sein, dennoch sind Sie kriminell eigensinnig.«
»Was?«
»Sie haben mich schon verstanden. Wir versuchen, Ihnen zu helfen, und Sie hören nur auf uns, wenn es Ihnen in den Kram passt. Ich hab das satt. Ja, ich habe Mitleid mit Ihnen, aber …«
»Ich will Ihr Mitleid nicht.« Sie funkelte Megan an. »Ich brauche niemanden, der …«
»Seien Sie still. Mir ist egal, was Sie wollen. Harley hat recht; Ihnen sind offenbar ein paar wichtige Erfahrungen entgangen, die Sie menschlicher gemacht hätten. Sie sind intelligent, scharfsichtig und zielstrebig, aber, verdammt, es gibt mehr im Leben. Sie haben mich verteidigt, weil Sie dachten, meine Milde Ihnen gegenüber hinge mit meiner sogenannten Begabung zusammen, oder? Das ist Unsinn. Ich glaube nicht, dass Ihre Chronik meinen Charakter diktieren oder erklären kann. Meine Gefühle sind in der Seele, mit der ich geboren wurde, begründet und wurden von den Menschen, mit denen ich zusammengelebt habe, geformt. Von meiner Mutter, von Phillip …« Sie hielt inne und atmete tief durch. »Selbst von Ihnen, Renata. Sie sind ständig in Abwehrhaltung – mir tut es weh, auch nur daran zu denken. Wenn ich mich also entscheide, mit Ihnen zu fühlen, dann müssen Sie das akzeptieren. Verstanden?«
Einen Moment lang schwieg Renata, dann sagte sie: »Verstanden.« Und langsam machte sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht breit. »Eigentlich doch nicht. Ich habe nie zuvor jemanden wie Sie kennengelernt.«
Megan schüttelte den Kopf. »Ist das alles, was ich aus Ihnen herausbekomme?«
»Haben Sie erwartet, dass ich in Ihre Arme sinke und meine Seele entblöße?«
Nicht eine so harte Nuss wie du, dachte Megan resigniert. »Ein paar offene, ehrliche Worte wären schön.«
Renata dachte nach. »Okay, Harley ist kein Idiot. Ich … ich weiß einfach nicht, was er denkt, und das stört mich. Ist das ehrlich genug?«
»Ein Anfang.« Und nach einem Moment fügte Megan hinzu: »Und jetzt sagen Sie mir: Wollen Sie Molino gemeinsam mit uns unschädlich machen, oder wollen Sie uns und die ganze Welt nur benutzen, um ihn allein zu erwischen?«
»Das muss ich mir noch überlegen.«
»Nein, darüber haben Sie längst nachgedacht. Ich will eine Antwort. Das ist der beste Weg. Geben Sie’s zu.«
»Vielleicht.«
»Renata.«
»Okay.« Sie lächelte. »Ich bemühe mich, mit Ihnen gemeinsam zu arbeiten … solange die Chronik nicht gefährdet ist.«
»Das war schlimmer, als einen Zahn zu ziehen«, erwiderte Megan.
»Nein, das war es nicht. Eines Tages bitte ich Mark, Ihnen zu erzählen, wie er drei Zähne bei einem Verhör durch die Taliban verloren hat.« Sie stand auf. »Und jetzt muss ich meine Ausrüstung zusammenpacken, bevor Grady zurückkommt. Unsere Zeit ist knapp.«
»Ich kann das für Sie machen. Sie sollten sich ausruhen.«
»Niemand außer mir fasst mein Equipment an. Ausruhen kann ich mich später.« Sie durchquerte vorsichtig das Wohnzimmer. Megan sah, dass sie sich Mühe gab, nicht zu schwanken.
»Und wer benimmt sich jetzt idiotisch?«, fragte Megan leise. »Kein Mensch wird Ihre wertvolle Ausrüstung kaputtmachen.«
»Aber Sie könnten sich verletzen. Jemand wie Harley mag mit all den Fallen, die ich gelegt habe, umgehen können, aber für jeden anderen wäre das ein Drahtseilakt.« Sie warf einen Blick über die Schulter. »Und ich möchte nicht Ihre Einzelteile aufklauben, wenn Sie einen falschen Schritt machen. Lassen Sie die Finger von meinen Sachen.«
Wie tödlich sind diese »Sachen« genau?, fragte sich Megan. Harley hatte gesagt, dass die technischen Geräte James Bond vor Neid erblassen lassen würden, und offensichtlich waren sie ein todbringender Schatz. Sollte sich Renata allein darum kümmern. Megan hatte von Renata bekommen, was sie brauchte; die Chronik war allerdings nach wie vor unerreichbar. Dafür hatte Megan ein Versprechen auf Zusammenarbeit erwirkt, und das musste genügen.
Würde es genügen? Die Ereignisse der Nacht hatten ihr gezeigt, wie nah ihnen Molino war. Sie schienen diesem Bastard immer nur einen Schritt voraus zu sein.
Oder weniger als einen Schritt. Renata hätte heute Nacht ums Leben kommen können, und wer weiß, ob Molinos Männer anschließend Jagd auf Grady und sie gemacht hätten.
Die Zeit ist knapp, hatte Renata gesagt. Megan hatte es satt, vor dem Schatten, den Molino auf ihr Leben warf, davonzulaufen.
Sie machte ihre Arzttasche zu und erhob sich. Komm zurück, Grady. Es wird Zeit, dass wir selbst ein paar Schatten werfen.
Grady kam eine halbe Stunde später zu Renatas Haus. »Gehen wir«, sagte er kurz angebunden. »Ich habe Harley gebeten, den Wagen zu holen und uns hier aufzulesen. Wir sind hier weg.«
»Hat die CIA Schwierigkeiten gemacht?«
»Nein. Venable hat deutlich gesagt, was jetzt zu tun ist. Als Harley die Umgegend abgesucht hat, fand er frische Reifenspuren am Ausgang des Kellers. Spuren, kein Fluchtauto. Das heißt, dass es vier Männer waren, nicht nur drei. Der Fahrer hat die Geschehnisse beobachtet und sich aus dem Staub gemacht, als sich seine Komplizen nicht mehr blicken ließen. Er dürfte Molino sofort über alles ins Bild gesetzt haben. Molino weiß inzwischen, dass wir mit Ihnen zusammenarbeiten, Renata.« Er sah sie an. »Begleiten Sie uns?«
Sie nickte. »Das scheint mir eine gute Idee zu sein.« Sie nahm ihren Koffer und steuerte die Tür an. »Im Moment.«
»So gefällt es mir. Absolute Kooperation.« Grady streckte die Hand nach ihrem Koffer aus. »Ich nehme das – dann geht es schneller.«
»Niemand fasst ihre ›Sachen‹ an«, sagte Megan. »Anscheinend gehen sie bei nicht sachgemäßer Behandlung in die Luft.«
»In diesem Fall hab ich eine Ausnahme gemacht«, erwiderte Renata. »Aber Sie würden sich aufregen, wenn er in tausend Stücke zerfetzt würde. Wohin fahren wir?«
»Zum Flughafen. Wir chartern eine Maschine nach Atlanta. Uns ist es gelungen, den letzten Anruf von dem Handy, das ich Molinos Männern abgenommen habe, zu verfolgen. Eine Nummer im Bereich Süd-Tennessee wurde angewählt.«
»Und du glaubst, dass Molino dort ist?«, hakte Megan nach.
»Wahrscheinlich.«
»Du hast gesagt, er hätte sein Hauptquartier in Madagaskar.«
»Das ist jetzt, da er die Chance hat, das zu bekommen, was er will, zu weit weg vom Schuss. Mittlerweile müsste Molino richtig frustriert sein. Er hat uns im Blick und möchte zuschlagen.«
»Können wir seinen Aufenthaltsort ausfindig machen?«
»Dabei kommt vermutlich nichts raus. Molinos Telefone sind wahrscheinlich mit einem halben Dutzend anderen Nummern und Rufweiterschaltungen in den Vereinigten Staaten verbunden, damit man sie nicht orten kann. Ich habe Venable gebeten, sich darum zu kümmern.« Grady zuckte mit den Schultern. »Uns bleibt nicht viel anderes übrig, als abzuwarten und die Augen offen zu halten.«
»Das stimmt nicht«, widersprach Renata entschieden. »Sie müssen ihn aus der Reserve locken. Sie wissen, dass er immer seine Männer schickt, Grady. Er macht sich nie selbst die Hände schmutzig. Was meinen Sie, wie er sonst so lange überleben konnte? Edmund sagte, er hätte einen ausgeprägten Selbsterhaltungstrieb. Er ist nur ein einziges Mal persönlich in Erscheinung getreten, und das war, als er Edmund aufgespürt hatte. Ich glaube, er hat sich nur aus der Deckung gewagt, weil er Sie unbedingt finden will, Megan. Damals war er vermutlich nur hinter der Chronik her, weil er hoffte, Ihre Adresse wäre darin aufgelistet. Er muss gedacht haben, dass ihm nichts passieren kann, und hatte nichts dagegen, einem Freak Schmerzen zuzufügen.«
Megans Augen wurden riesengroß. »Wollen Sie damit sagen, ich bin daran schuld, dass er Edmund gefoltert hat?«
»Nein, Molino hätte trotzdem einen anderen geschickt, der die Drecksarbeit für ihn erledigt. Er wäre nicht selbst tätig geworden. Und nachdem er erfahren hatte, dass Sie in der St. Andrews Klinik arbeiten, brauchte er die Chronik nicht sofort und hat sich wieder in sein Versteck verkrochen.« Sie sah Megan an. »Wie hat er sich benommen, als er bei Edmund war?«
»Er war aufgeregt, bösartig und hat frohlockt, weil er einen ›Freak‹ erwischt hat.«
»Stand er irgendwie unter Druck?«
Megan überlegte. »Ja, er wirkte fieberhaft.«
»Da haben Sie die Antwort. Wir müssen ihn reizen, seine Blutgier anstacheln und mit seinem Unmut, weil er Sie nicht zwischen die Finger bekommt, spielen. Ihn dazu bringen, dass er selbst in Erscheinung tritt.«
»Ich bin überzeugt, Sie verraten uns auch, wie wir vorgehen müssen«, sagte Grady.
»Ja.« Sie wandte sich wieder an Megan. »Grady denkt, dass ich Sie als Lockvogel für Molino einsetzen will. Dass ich versuche, Sie zu manipulieren.«
»Aber Sie haben doch vorgeschlagen, selbst der Köder zu sein.«
»Ja, das stimmt«, erwiderte Renata achselzuckend.
»Frag sie.« Grady richtete den Blick auf Renatas Gesicht. »Etwas hat sich geändert. Vielleicht sagt sie dir die Wahrheit.«
»Sie braucht mich nicht zu fragen«, und mit einem Blick auf Megan fuhr sie fort: »Ich habe mit Ihnen gespielt.«
»Was?«
»Ich brauchte Sicherheit. Molino will Ihren Tod mehr als die Chronik. Ihre Mutter hat seinen Sohn getötet. Und er möchte sich an ihrer Tochter rächen. Molino ist nicht bei Verstand, wenn es um den Tod seines Sohnes geht. Edmund meinte, dass er regelrecht fanatisch wird, wenn er nur Ihren Namen hört. Im Vergleich zu Ihnen ist die Chronik für ihn lediglich von untergeordneter Bedeutung. Ja, er will sie an sich bringen, aber er ist regelrecht versessen darauf, Sie zur Strecke zu bringen. Er würde jedes Risiko eingehen, um Sie zu schnappen – um mich oder die Chronik in die Hände zu bekommen, würde er längst nicht so viel aufs Spiel setzen. Ich würde nicht als Köder taugen. Wir müssen ihn dazu bringen, diese Risiken einzugehen.«
Megan biss sich auf die Lippe. »Verdammt, das hätten Sie mir auch gleich sagen können, statt mich zu manipulieren.«
»Ich musste handeln«, erklärte Renata. »Ich habe erkannt, dass ich nur das Szenario kreieren muss – den Rest würden Sie selbst erledigen. Aber Sie haben einen starken Willen, und es musste Ihre Idee sein. Das war mir absolut klar. Ich konnte immer schon Wirkung und Ursache erkennen. Es war wie ein Projekt, an dem ich für meine Firma arbeite. Ich hätte nicht zugelassen, dass Molino Ihnen ein Haar krümmt. Aber ich konnte das, was ich im Sinn habe, nicht allein erreichen.«
»Reizend«, meinte Grady.
»Seien Sie nicht so selbstgefällig«, wies ihn Renata mit unvermittelter Schärfe zurecht. »Glauben Sie vielleicht, ich habe das gern getan? Molino ist einfach eine zu große Bedrohung. Ich muss ihn irgendwie loswerden.« Und zu Megan gewandt, setzte sie hinzu: »Sie müssen ihn loswerden.«
»Und das rechtfertigt alles?«
»Ja. Und wenn Sie Molinos Telefonnummer haben, können Sie ihn vielleicht dazu bringen, dass er persönlich die Verfolgung aufnimmt. Rufen Sie ihn an. Bringen Sie ihn auf die Palme. Entfachen Sie seinen Zorn.«
»Halten Sie den Mund, Renata«, warnte Grady.
»Sehen Sie? Er möchte Sie diesem Risiko nicht aussetzen.« Sie legte eine kurze Pause ein. »Da gibt es noch etwas, was Sie wissen sollten. Ich habe gestern Abend einen Anruf getätigt und die Blockierung meines Handys aufgehoben, damit es leicht zu orten ist.« Sie verzog das Gesicht. »Zu leicht. Ich hätte nicht gedacht, dass sie schon so früh bei mir auftauchen. Ich war nicht vorbereitet.«
Megan riss die Augen auf. »Sie haben Molinos Männer wissen lassen, wo Sie zu finden sind?«
Grady stieß einen Fluch aus.
»Grady hat versucht, mir ein Hindernis in den Weg zu stellen. Er wollte nicht, dass Sie noch mehr in Gefahr geraten. Ich hingegen dachte, es könnte Sie ein bisschen antreiben, wenn ich Sie mehr in Molinos Fokus bringe.« Sie begegnete Megans Blick. »Das ist gelungen, oder?«
»Und Sie wurden angeschossen.«
»Eine Fehlkalkulation, wie gesagt.«
»Und warum erzählen Sie mir das alles?«
»Ich mag keine Lügen. Mark sagt, sie sind manchmal nötig, aber Sie wollte ich nicht belügen. Feinde lügt man an, aber Sie sind nicht mein Feind. Ich musste Sie bloß in die richtige Richtung schubsen. Alles Weitere liegt bei Ihnen.« Renata hielt kurz inne, dann fragte sie: »Wollen Sie immer noch, dass ich mit Ihnen komme?«
Megan sah sie an – widerstreitende Gefühle tobten in ihr. Wut, Enttäuschung und Mitleid. Am liebsten hätte sie Renata gepackt und geschüttelt wegen ihrer fast kindlichen Engstirnigkeit, die sich mit Brillanz und dieser verdammten Begabung paarte. Aber war ihr diese Engstirnigkeit nicht in die Wiege gelegt und anerzogen worden? Sie versuchte nur, zu überleben und ihre Pflicht zu tun – auf die einzige Art, die sie kannte.
»Und?«, fragte Renata vorsichtig nach.
Oh, zum Teufel. »Natürlich kommen Sie mit.« Megan ging zur Tür. »Sie mögen ja denken, dass Sie nicht der Trumpf sind, der Molino aus der Reserve lockt, aber jedes bisschen hilft. Sie haben gesagt, Sie sind auch eine Finderin. Meine Mutter hat Molino einmal aufgespürt. Vielleicht können Sie das auch. Außerdem haben Sie die Chronik.«
»Und sie würde vermutlich jeden Handel eingehen, um sie zu behalten«, warf Grady ein.
»Möglich.« Sie betrachtete Renatas Gesicht. So viel Trotz, Wildheit und Verletzlichkeit. »Stimmt das?«
Renata schwieg einen Moment. »Ich weiß es nicht.« Und müde fügte sie hinzu: »Wahrscheinlich. Wir sollten besser dafür sorgen, dass ich nicht vor die Wahl gestellt werde.«
»Sie sind auf dem Weg nach Atlanta«, sagte Sienna. »Vor zwei Stunden sind sie an Bord einer Maschine gegangen. Sie laufen uns direkt in die Arme.«
Molino schüttelte den Kopf. »Sie sind zu eifrig. So einfach wird das nicht. Aber nichts, was Wert hat, ist leicht zu haben.« Er lächelte. »Du bist sicher froh, wenn das vorbei ist, stimmt’s?«
»Ja«, gestand Sienna unumwunden. »Es stört unsere Geschäfte. Ich stimme dir ja zu, dass die Chronik wertvoll ist. Wenn wir die Nummern dieser Schweizer Bankkonten bekämen, hätten wir für unser Leben ausgesorgt. Aber du kannst an nichts anderes denken als an Megan Blair. Ich habe mich gefragt«, fuhr er fort, »ob es dir nicht lieber wäre, wenn du die Geschäfte für eine Weile mir überlassen könntest, während du dich auf Megan Blair und alles, was mit ihr zusammenhängt, konzentrierst.«
»So ehrgeizig, Sienna?«, fragte Molino sanft. »Und nachdem ich das Miststück kaltgemacht habe, stelle ich fest, dass ich ein für alle Mal aus allem herausgedrängt wurde?«
»War ja nur ein Vorschlag«, gab Sienna gleichmütig zurück. »Es wird immer schwieriger, den Hurensohn Kofi Badu unter Kontrolle zu halten. Er hat andere Kaufinteressenten für die Kinder, und du gibst ihm das Geld nicht so schnell, wie er es gern hätte. Er will sich mit dir treffen und neu verhandeln.«
»Das heißt, er will mehr Geld.«
Sienna nickte. »Und du willst dich nicht damit abgeben. Also lass mich das machen.«
Molino schüttelte den Kopf. »Sag ihm, dass wir ihn nächste Woche treffen. Arrangier das.«
»Wenn du abspringst, geht er uns flöten.«
»Und du wirst mir vorwerfen: ›Das hab ich dir doch gesagt.‹« Sienna würde das nie von sich geben, dachte Molino. »Aber ich werde nicht abspringen. Ich erledige die Sache mit Megan Blair in den nächsten Tagen.«
»Wie?«
»Ich habe über sie nachgedacht. Sie will mich finden? Gut, ich lasse es zu. Ich bringe sie dazu, auf Knien zu mir zu rutschen.« Er grinste und entblößte dabei die Zähne. »Du hast mir nie geglaubt, dass ihre Mutter tatsächlich imstande war, meinen Jungen in den Wahnsinn zu treiben, hab ich recht? Würdest du Megan Blair gern vergewaltigen? Ich überlasse sie dir für eine Nacht, bevor ich ihr die Kehle aufschlitze. Ich lasse dich sogar mit ihr spielen, wie du es mit Gillem getan hast. Wäre das nicht die Gelegenheit für dich zu beweisen, dass ich ein Narr bin?«
»Ich habe nie gesagt, dass du ein Narr bist.«
»Nur zu«, forderte Molino ihn auf. »Tu’s. Trau dich.«
Sienna zuckte mit den Schultern. »Wenn du darauf bestehst. Es wird mir Spaß machen, das Miststück zu vögeln. Ich hab noch nie vor etwas Angst gehabt, was man nachts besorgen kann. Aber erst musst du sie schnappen und lebend herbringen.«
»Deswegen mache ich mir keine Sorgen.« Molino griff nach seinem Handy. »Ich habe ein paar Asse im Ärmel. Jetzt ziehe ich eins nach dem anderen heraus.«
Die Maschine, die Grady gechartert hatte, landete am frühen Nachmittag in Georgia – nicht auf dem internationalen Flughafen, sondern auf einem kleinen privaten Flugplatz im Norden der Stadt.
»Wir müssen sofort weiter«, sagte Harley, als er Renata ihr Gepäck reichte. »Ich habe den Piloten bestochen, damit er seinen Flugplan in letzter Minute nach Kennesaw, Georgia, ändert, aber Sienna ist nicht blöd. Wenn er weiß, wo wir abgeflogen sind, kennt er mittlerweile auch den Zielflughafen. Er wird in Kürze hier sein.«
»Wohin fahren wir?«, wollte Megan wissen, die Harley und Grady den Gang hinunterfolgte.
»Dalton, Georgia«, antwortete Grady. »Ungefähr eine Stunde Fahrzeit von hier. Harley hat ein Haus außerhalb der Stadt angemietet. Wir richten uns dort ein und warten.«
»Worauf?«
»Auf weitere Entwicklungen.«
»Ich soll abwarten?«, hakte Megan nach. »Nein, Grady. Ich glaube, Renata hat recht. Wir müssen ihn reizen. Wir sollten das Feuer ein wenig schüren und selbst ein, zwei Anrufe tätigen.«
»Ich hatte befürchtet, dass du das vorschlägst.«
»Renata sagte, dass wir seine Blutgier anstacheln sollen. Das ist schwer zu bewerkstelligen, wenn er uns immer nur seine Männer auf den Hals schickt.«
»Verdammt noch mal. Du gibst keine Ruhe, bis du nicht mit ihm gesprochen hast, oder?«
»Nein«, erwiderte sie prompt und hoffte, dass man ihr den Abscheu vor diesem Gedanken nicht anmerkte. Der Gedanke, Molino von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen, war schockierend und abstoßend. Sie kannte ihn sehr gut von Edmund Gillems Ende und aus allem, was Grady über die Begegnung ihrer Mutter mit diesem Unmenschen und seinen Männern erzählt hatte. Aber es wäre etwas ganz anderes, ihn leibhaftig vor sich zu haben. »Wenn es hilft. Was soll ich sagen?«
»Du musst je nach Situation reagieren. Du hast gute Instinkte und scheust dich nicht davor, deine Meinung deutlich zu artikulieren. Dir wird einfallen, was du sagen musst.« Grady warf einen Blick auf Renata. »Vielleicht kann dich auch deine kleine Freundin coachen. Sie hat ja behauptet, dass sie Ursache und Wirkung erkennen kann.«
»Machen Sie halblang« warf Renata ein. »Wenn wir die Hunde loslassen, sollten Sie besser darauf vorbereitet sein, Megan zu schützen.«
»Ich lasse die Hunde nicht los. Das tun Sie«, entgegnete Grady, während er die Gangway hinunterging. »Und sobald sie diesen Anruf gemacht hat, verstecke ich sie irgendwo, bis der ganze Spuk vorbei ist.«
Renata schnaubte verächtlich. »Glauben Sie wirklich, dass sie das zulässt?«
»Hört auf, so zu reden, als wäre ich nicht anwesend«, protestierte Megan. »Ich mache, was ich will, Grady. Und ich lasse mich nicht irgendwo verstecken.«
»Sag ich doch«, murrte Renata. »Mann, ich hätte nie gedacht, dass ich es einmal genießen würde, so was zu jemandem zu sagen.«
»Und hören Sie auf, sich wie ein selbstgefälliges Kind zu benehmen«, schalt Megan. »Sehen wir lieber zu, dass wir weiterkommen.« Sie holte Harley ein und ging mit ihm auf einen dunkelblauen Wagen zu, der auf der Piste parkte. »Ich möchte weg von den beiden. Sie sind wie zwei Katzen, die um eine Maus streiten.«
Harley grinste. »Ganz und gar nicht. Katzen würden die Maus töten. Grady und Renata kratzen sich die Augen aus, weil sie beide Ihr Überleben sichern wollen.«
»Grady vielleicht. Aber Renata?«
Harley nickte. »Sie mag sich gezwungen fühlen, Sie als Köder zu benutzen, aber ich glaube, dass sie ihren eigenen Hals riskieren würde, um zu verhindern, dass Molino Sie in die Finger bekommt. Sie ist nicht so hart gesotten, wie sie Sie glauben machen möchte.«
»Ich halte sie nicht für hart gesotten.« Megan hatte immer Renatas Verletzlichkeit gesehen. »Manchmal tut sie mir richtig leid.« Sie setzte sich auf den Beifahrersitz. »Und manchmal möchte ich sie regelrecht schütteln.«
»Wie eine widerspenstige kleine Schwester?«, fragte Harley sanft.
»Wenn die Schwester Calamity Jane heißt.«