KAPITEL 5
M
egan.« Phillip eilte ihr entgegen, als er sie den Hügel herunterkommen sah. »Bist du in Ordnung? Ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht.«
»Mir geht’s gut.« Das stimmte nicht. Sie war wütend und verängstigt und wollte nichts wie weg von hier, von Grady. Sie spürte Gradys Blick im Rücken, als sie auf Phillip zuging. »Es gab etwas, was ich tun musste.«
Phillip sah ihr forschend ins Gesicht. »Und hast du es gemacht?«
»Zur Hölle, ja«, antwortete Grady für sie. »Sie hat die Echos bekämpft, während ich den Hügel zu der Höhle hinaufgelaufen bin. Ich konnte nicht glauben, dass sie das kann. Und sie hat mich mit ein, zwei Dingen überrascht.«
»Wenn du einen Mord als ›Ding‹ bezeichnen willst«, entgegnete Megan eisig und wandte sich an Phillip. »Wusstest du, was vor zwölf Jahren hier passiert ist?«
»Natürlich wusste er das«, warf Grady barsch ein. »Allerdings muss ich zugeben, dass ich ihm nur in groben Zügen von den Ereignissen erzählt habe, um ihn nicht zu sehr zu belasten. Es hätte keinen Sinn gehabt, ihn zu beunruhigen.« Er sah sich besorgt um und wies mit einer Kopfbewegung auf den Camry, der ein paar Meter weiter stand. »Phillip, Sie bringen sie nach Hause. Ich fahre hinter euch her. Ich möchte sicherstellen, dass …«
»Ich brauche niemanden, der mich nach Hause bringt«, fiel ihm Megan ins Wort. »Und ich kann nicht nach Hause. Ich muss nachdenken.« Ihr schwirrte der Kopf, und sie konnte keinen klaren Gedanken fassen.
»Du wirst heimfahren«, bestimmte Grady. »Oder ich bleibe bei dir, bis du dich beruhigt hast und mich mit dir reden lässt. Das ist deine Entscheidung.«
»Ich muss keine Entscheidung fällen, Bastard.« Wieder funkelte sie ihn an. »Ich brauche dich nicht. Nur zu – versuch, mir weh zu tun. Hetz deine verdammten Echos auf mich. Ich werde auch ohne deine Hilfe mit ihnen fertig.«
»Das sind nicht meine Echos«, berichtigte er sie ruhig. »Es sind deine, und ich wollte dir nie weh tun.«
»Schwachsinn.«
Sie ging auf den Camry zu.
»Lass mich mit dir fahren, Megan.« Phillip lief ihr nach. »Wenn du dich beruhigt hast, wirst du merken, dass du einen Freund gebrauchen kannst.«
»Auf den Boden!«
Megan fiel, als Grady sie und Phillip in den Sand stieß.
Eine Kugel zerschmetterte die Windschutzscheibe des Camry.
»Scheiße.« Phillip kroch zu Megan. »Bringen Sie sie in den Wagen, Grady.«
»Steigen Sie ein.« Grady schirmte sie mit seinem Körper ab. »Der Schuss kam von dem Haus da drüben. Ich habe Metall aufblitzen sehen. Wir dürfen nicht riskieren, sie aus der Deckung …«
Ein zweites Geschoss landete im Sand neben ihr.
Ein drittes folgte.
Grady fluchte. »Zur Hölle mit dem verdammten Kerl.« Er rollte mit Megan hinter das Auto. »Bleib hier. Ich versuche, ihn zu schnappen.«
»Wer ist …«
Grady war bereits weg.
Bleib nicht hier liegen. Du musst deine Handtasche, die unter dem Vordersitz liegt, holen und mit dem Handy 911 anrufen. Sie kroch zur Beifahrertür.
Eine Kugel traf den Rückspiegel.
Wo war Grady?
Und Phillip?
Dann sah sie ihn.
Sie kniete neben Phillip im Sand, als Grady zehn Minuten später zurückkam.
»Ich habe auf dich gewartet«, stieß sie hervor. »Phillip ist angeschossen. Wir müssen ihn ins Krankenhaus bringen. Ich habe neun eins eins angerufen. Wer weiß, wann die kommen.«
»Sie müssten jede Minute hier sein.« Grady fiel auf die Knie. »Die Sirenen haben den Schützen verscheucht. Wir haben Katz und Maus gespielt, aber dann sprang er in seinen Wagen und fuhr davon. Wie geht’s Phillip?«
»Ich weiß nicht. Die Kugel ist in seinen Schädel eingedrungen. Er ist bewusstlos.« Sie biss sich auf die Lippe. Reiß dich am Riemen, mach jetzt bloß nicht schlapp – Phillip braucht dich. »Bei Kopfverletzungen weiß man nie. Ein Hirntrauma kann so oder so ausgehen. Er könnte schon morgen wieder bei Bewusstsein sein oder ins Koma fallen. Ich habe die Blutung gestoppt. Mehr kann ich hier nicht für ihn tun.« Sie ballte die Hände zu Fäusten. »Ich fühle mich so verdammt nutzlos. Ich will ihm helfen, Grady.«
»Wir sorgen dafür, dass er die beste Behandlung bekommt, Megan«, sagte Grady. »In der besten Klinik, versprochen.«
»Warum sollte jemand auf Phillip schießen?«, flüsterte sie. »Er ist ein Guter, Grady. Selbst du konntest ihn nicht zu etwas machen, was er nicht ist.«
»Er muss einen Schutzengel gehabt haben.« Grady stand auf, als er das Blaulicht des Notarztwagens in der Dunkelheit sah. »Da sind sie. Es ist eine Schusswunde, und sie werden Fragen stellen. Ich kümmere mich darum, und du fährst mit Phillip in die Klinik.«
Sie nickte, ohne den Blick von Phillips Gesicht zu wenden. Es zerriss ihr das Herz. Am liebsten hätte sie geschrien und mit den Fäusten auf den Sand eingeschlagen. »Ich lasse ihn nicht allein. Ich werde ihn nie alleinlassen.«
Phillip erwachte in den nächsten zehn Stunden nicht aus der Bewusstlosigkeit.
Am folgenden Tag wurde er mit dem Hubschrauber vom Myrtle Beach Hospital zum Emory Hospitals in Atlanta transportiert und dort in die neurologische Abteilung gelegt.
»Keine Veränderung?«, erkundigte sich Grady am nächsten Morgen, als er in den Warteraum kam, in dem Megan saß. Er reichte ihr einen Becher mit Kaffee. »Untersuchungsergebnisse?«
Sie schüttelte den Kopf. »Sie denken, dass er einen Hirnschaden hat, sind sich aber nicht ganz sicher. Er wacht einfach nicht auf. Sie sagen, dass er das Bewusstsein vielleicht nie wiedererlangt.« Sie schluckte. »Ich weiß nicht, wie oft ich angeordnet habe, die Patienten an lebenserhaltende Apparate anzuschließen. Aber das hier ist etwas anderes. Es geht um Phillip.«
»Tut mir leid«, sagte Grady leise. »Er ist ein feiner Kerl. Das hat er nicht verdient.«
»Nein, aber er hat es bekommen. Es spielt also keine Rolle, ob er es verdient hat oder nicht. Ich habe viel über Phillip nachgedacht, als ich hier saß. Bis er in mein Leben trat, hat sich, abgesehen von meiner Mutter, niemand um mich gekümmert. Deshalb hat es so weh getan, als ich dachte, dass er mich hintergangen hat. Ich fühlte mich verarscht und dachte, er hätte mir nur Theater vorgespielt.«
»Er hat dich gern, Megan.«
»Das weiß ich. Ich habe es gefühlt. Und das hat nichts mit diesem übersinnlichen Zeug zu tun. Er war … wir waren ein Team. Er hat gesagt, dass er mich gern zur Tochter gehabt hätte. Ich hätte mir das auch gewünscht. Mein Vater starb, bevor ich geboren wurde. Niemand hätte liebevoller sein können als Phillip. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie gut er zu mir war.«
»Doch, das kann ich.«
»Klar, du hast uns ja zusammengebracht. Selbst das stört mich jetzt nicht mehr. Das einzig Wichtige ist, dass wir diese Jahre miteinander hatten.« Sie holte tief Luft. »Ich habe Fragen, aber im Augenblick will ich an nichts anderes denken als an Phillip.« Sie musste mit Dr. Pretkay sprechen, dem Spezialisten aus dem Johns Hopkins Hospital, den die Ärzte hinzugezogen hatten, obwohl sie ihr kaum Hoffnung machen konnten. Sie wollten nichts unversucht lassen. »Ich muss nur eins wissen. Diese Kugel war nicht für Phillip bestimmt, stimmt’s? Er hat auf mich gezielt.«
Grady nickte. »Du warst das eigentliche Ziel. Auch wenn der Schütze möglicherweise alle Augenzeugen eliminieren wollte.«
»Und in der Nacht, in der ich vom Highway abgekommen bin?«
»Ein erster Versuch. Wahrscheinlich derselbe Mann.«
»Warum?«
»Der Mann, der deine Mutter getötet hat, will die ganze Familie ausrotten.«
»Was? Das klingt nach Mafia und Vendetta.«
»Molino würde sich bei diesem Vergleich geschmeichelt fühlen. Er ist in Sizilien im Schatten der Mafia aufgewachsen.«
»Molino? Ist er der Mann, der meine Mutter auf dem Gewissen hat?«
»Er hat den Befehl gegeben. Einer seiner Männer hat sie umgebracht – Ted Dagnos.«
»Warum wollte Molino den Tod meiner Mutter?«
»Aus Rache.«
»Rache wofür?«
»Das ist eine lange Geschichte, und du hast gesagt, du möchtest im Moment nicht darüber nachdenken. Ich bin da, um deine Fragen zu beantworten, wenn du bereit dazu bist.« Er musterte sie. »Du hast begriffen, dass ich nicht ihr Mörder bin, oder?«
»Wie gesagt, ich hatte viel Zeit zum Nachdenken. Mir fällt es schwer zu akzeptieren, dass sie umgebracht wurde.« Unsicher fügte sie hinzu: »Aber das muss ich wohl. Auch wenn ich vor zwei Tagen in der Höhle Wahnsinn und Chaos durchlebt habe, glaube ich mittlerweile, dass der Tod meiner Mutter kein Unfall war. Alles andere ist mir noch suspekt. Ich brauche Beweise.« Und mit einem Kopfschütteln fuhr sie fort: »Nein, du hast recht. Jetzt möchte ich mich nicht damit befassen. Aber ich will Antworten haben, Grady. Du solltest dich darauf vorbereiten, da ich sie von dir fordern werde.«
»Jederzeit. Sag mir Bescheid, wenn du etwas Neues über Phillips Zustand erfährst.«
Sie nickte. »Kann nicht mehr lange dauern.«
»Soll ich bleiben?«
Sie sah ihn an. »Nein. Ich kann nicht behaupten, dass mir die Vorstellung, mich auf einen Mann zu stützen, der sich als unaufrichtig und manipulativ erwiesen hat, besonders gut gefällt.«
Er lächelte. »Da ist was dran. Aber ich glaube, du hast keine Angst mehr, dass ich dich weiterhin manipuliere.«
»Das stimmt.« Sie hatte nicht mehr das Gefühl, dass unmittelbar Gefahr von ihm ausging. In den letzten Tagen war er ständig für sie da gewesen und hatte schnell und geschickt alles für Phillip arrangiert. Nie drängte er sich vor – im Gegenteil, er hielt sich still im Hintergrund. »Und du warst nicht derjenige, der am Strand auf mich geschossen hat. Wahrscheinlich hast du mir sogar das Leben gerettet. Ich bin überzeugt, dass du aus selbstsüchtigen Gründen gehandelt hast, aber du willst offensichtlich nicht meinen Tod.«
»Ganz offensichtlich.« Er wandte sich zum Gehen. »Du hast meine Handynummer. Ruf mich an, wenn du mich brauchst.«
»Wohin willst du?«
Er zuckte mit den Schultern. »Du willst mich nicht um dich haben, aber ich muss dich im Auge behalten. Ich bleibe in der Nähe. Melde dich bei mir, und ich bin in fünf Minuten hier. Ich sollte dir sagen, dass ich Jed Harley gebeten habe, gelegentlich nach dir zu sehen. Nicht, dass du ihn für einen von Molinos Killern hältst.«
»Und wer ist Jed Harley?«
»Ich habe ihn angeheuert, damit er auf dich aufpasst. Er ist ein guter Mann.«
»Wie gut? In jeder Hinsicht?«
»Er ist vielseitig. Schusswaffen, Messer, Karate, Tai-Chi. Wenn er nicht gerade jemanden unschädlich machen muss, ist er äußerst unterhaltsam.«
»Ich glaube nicht, dass ich einen Hofnarren gebrauchen kann.«
»Harley schert sich nicht darum, was du brauchst. Er ist, was er ist. Da du Probleme hast, meine Anwesenheit zu dulden, muss ich deine Sicherheit mit anderen Mitteln gewährleisten. Dir wird nichts passieren, Megan.« Damit verließ er das Wartezimmer.
Seine letzten Worte beruhigten sie. Im Moment fühlte sie sich grenzenlos allein, sie war verwirrt und traurig. Grady ließ sich nicht von Zuneigung oder Freundlichkeit leiten, dennoch wollte er sie beschützen. Sie würde diesen Schutz brauchen, wenn es ihr gelang, die Konfusion abzuschütteln.
»Hi. Schlimme Sache, was? Kann ich irgendwas tun?«
Sie öffnete die Augen. Ein großer, schlaksiger Kerl in einem Hawaiihemd stand in der Tür. Sie richtete sich auf. »Nein danke.«
»Bestimmt nicht?« Er kam in den Warteraum. »Ich bin nicht nur ein Wichtigtuer, der seine Nase in Ihre Angelegenheiten steckt. Das würde mich auch ankotzen. Mein Name ist Jed Harley, und ich werde dafür bezahlt, meine Nase in Ihre Angelegenheiten zu stecken.« Er ließ sich auf den Stuhl neben ihr fallen. »Das sollte Ihnen ein besseres Gefühl geben. Beschützen und beruhigen. Das ist mein Job.«
Sie starrte ihn an. Er war Mitte dreißig, sonnengebräunt mit sandfarbenem Haar und strahlend blauen Augen. In dem Hawaiihemd glich er eher einem Strandgutsammler als dem Mann, den Grady beschrieben hatte. »Ihre Manieren am Krankenbett lassen zu wünschen übrig, Mr Harley.«
»Nur Harley.« Er grinste. »Und Sie liegen nicht im Krankenbett. Genau genommen ist mein Umgang mit Kranken vorzüglich. Ich hatte mal einen Job als Notarztwagenfahrer und war verdammt hilfreich. Die Patienten haben mich geliebt. Ich passe mein Benehmen nur der Situation an. Sie sind keine Lady, die ein liebevolles Tätscheln zu schätzen wüsste. Sie sind sehr eigenständig.«
»Woher … liebe Güte, sind Sie auch so ein Freak wie Grady?«
»Um Himmels willen, nein.« Er schauderte. »Gott behüte. Ich bevorzuge das einfache, unkomplizierte Leben. Ich bin nur ein guter Menschenkenner. Ich habe Sie beobachtet, und Sie sind nicht schwer zu durchschauen. Mir kommt es vor, als würde ich Sie schon lange kennen.«
»Reizend«, gab sie sarkastisch zurück. »In letzter Zeit frage ich mich, ob ich mich so gut kenne.«
Wieder grinste er. »Sprechen Sie mit mir. Ich beantworte Ihre Fragen.« Er lehnte sich zurück. »Aber jetzt halte ich den Mund und lasse Sie in Ruhe. Nein, so richtig werden Sie sich wahrscheinlich nicht entspannen, aber Sie müssen sich nicht auch noch mit meinem Unsinn abgeben. Unter anderen Umständen würden Sie mich bestimmt faszinierend finden, davon bin ich überzeugt, aber jetzt ist der falsche Zeitpunkt. Lehnen Sie sich einfach zurück – ich bin für Sie da und werde tun, was immer ich kann.«
Zu ihrer eigenen Überraschung tat sie, was er sagte, und lehnte sich zurück. Der komische Kauz war erstaunlich besänftigend. »Sie brauchen nicht für mich da zu sein. Ich bin sicher, Grady hat nicht gemeint, dass Sie neben mir sitzen und Händchen halten sollen.«
»Ich bin immer ein bisschen übereifrig. Ich bin der Meinung, dass das Leben eine einzige Party mit Feuerwerk sein sollte, und es macht mich hellhörig, wenn jemand von der Party ausgeschlossen ist. Ich muss einfach etwas dagegen unternehmen.« Er verschränkte die Arme vor der Brust und streckte die Beine aus. »Also, ignorieren Sie mich, bis Sie mich brauchen.«
Bizarr, der Typ war einfach bizarr.
Aber eigenartig beruhigend.
Wieder machte sie die Augen zu, legte die Hände auf die Armlehnen und wartete.
Zehn Minuten verstrichen.
Fünfzehn.
Zwanzig.
»Megan.« Plötzlich legte sich Harleys Hand auf ihre. »Ich glaube, da kommt der Arzt.«
Sie riss die Augen auf.
»Dr. Blair?« Dr. Pretkay, der Spezialist vom Johns Hopkins, stand in der Tür. Sie umklammerte Harleys Hand. Pretkays Miene drückte Mitgefühl und … Bedauern aus.
Verdammt. Verdammt. Verdammt.
Phillip war nicht groß, aber in dem weißen Krankenhausbett wirkte er noch schmächtiger.
»Hi, Phillip«, begann Megan verlegen, als sie sich dem Bett näherte. »Ich bin nicht sicher, ob du mich verstehen kannst. Die Experten sind sich nicht einig, wie viel Koma-Patienten mitbekommen.« Sie ergriff seine Hand. Sie war kühl und schlaff, ganz anders als sonst. »Ich dachte, ich versuch’s wenigstens. Wenn du verstehen kannst, was um dich herum vorgeht, fühlst du dich wahrscheinlich hilflos, und das ist echt scheußlich.« Fang jetzt bloß nicht an zu heulen. »Sie sagen, dass sie im Moment nichts tun können, um dir zu helfen. Deshalb bringen wir dich in ein privates Pflegeheim, dort wird man sich großartig um dich kümmern. Vielleicht kann ich dich dort nicht gleich besuchen, aber ich werde nicht aufhören, nach einer Therapiemöglichkeit für dich zu suchen.« Sie schluckte und flüsterte: »Ich liebe dich. Danke für all die Jahre, Phillip.« Nein, das klang wie ein Abschied, und sie würde Phillip nicht aufgeben, egal, was Pretkay sagte. »Aber wir werden noch viele gemeinsame Jahre haben. Lass mir nur etwas Zeit, mich über alle Möglichkeiten zu informieren.« Sie beugte sich über ihn und hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn. »Bis bald.«
Sie ging eilends hinaus. Als sie in den Korridor kam, war sie blind vor Tränen.
»Hey, ganz ruhig.« Grady zog sie in die Arme und wiegte sie. »Wehr dich nicht gegen mich. Du brauchst eine Schulter zum Anlehnen, und ich möchte dir helfen.«
Sie ließ ihn gewähren. Er fühlte sich warm, stark und lebendig an. Genau das brauchte sie jetzt nach der Begegnung mit dem halbtoten Phillip. »Pretkay sagt, dass Phillip vielleicht nie wieder aufwacht. Er hat mich gefragt, ob ich will, dass sie die lebenserhaltenden Apparate ausschalten.« Sie vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter. »Zum Teufel mit ihm. Das kommt gar nicht in Frage. Phillip hatte noch nicht mal die Chance, sich aus dem Koma zu befreien. Und ich hatte noch keine Chance, um ihn zu kämpfen.«
»Schsch.« Grady strich ihr übers Haar »Du hast recht. Wir kümmern uns um ihn. Und wir werden eine Möglichkeit finden, ihm zu helfen.«
»Allerdings.« Sie stieß ihn von sich und wischte sich über die Augen. »Und das Erste, was wir tun, ist, den Hurensohn zu suchen, der auf ihn geschossen hat. Ich will nicht, dass der Mistkerl in der Gegend herumschleicht, solange Phillip hier liegt wie ein Zombie.«
»Ich habe schon daran gearbeitet.« Grady presste die Lippen zusammen. »Sieh mich nicht so erstaunt an. Ich bin derjenige, der Phillip zu dir geschickt hat. Es stand nie außer Frage, dass ich den Schützen jagen würde. Was meinst du, was ich gemacht habe, während du hier im Wartezimmer gesessen hast?«
»Wer war es?«
»Das werde ich bald erfahren.«
Sie verzog den Mund. »Von einer Kristallkugel?«
»Nein, von den Leuten vom Kriminallabor der Atlanta Police. Man hat Reifenspuren von seinem Truck im Sand und Fasern auf der Veranda, auf der er gekniet hat, gefunden.«
»Das ist nicht viel.«
»Aber ein Anfang. Ich habe Kontakte zur CIA, und sie treiben die Ermittlungen voran. Und ich habe mit Michael Travis gesprochen; er meinte, dass er jemanden kennt, der uns vielleicht unterstützen könnte.«
Sie erinnerte sich an den Namen. »Phillip sagte, ein Michael Travis sei Leiter einer Psychic Investigative Group in Virginia. Ich dachte, du brauchst keine Kristallkugel – hast du das vorhin nicht gesagt?«
»Ganz recht. Michael hat von der Atlanta City Hall gesprochen. Seine Kontakte sind nicht beschränkt auf …«
»Freaks.«
»Nenn sie, wie du willst.« Er schaute ihr in die Augen. »Dazu hast du jedes Recht.«
Weil ich eine von ihnen bin, dachte sie niedergeschlagen. »Noch gestehe ich mir das nicht ein.«
»Was? Nicht einmal nach all dem, was du in der Höhle durchgemacht hast?«
»Es könnte nach wie vor ein mentales Problem sein. Ich bin sehr pragmatisch und habe keine Beweise für etwas anderes.«
»Natürlich hast du welche«, erwiderte er harsch. »Akzeptier es, Megan.«
»Erst wenn ich es mir selbst beweisen kann. Ich denke nicht, dass ich schizophren bin. Aber kann ich meinen Instinkten trauen, obwohl mir mein logischer Verstand etwas anderes sagt? Mich gegen das stellen, was mir meine Mutter gesagt hat? Allerdings gibt es für das, was du im Zoo mit mir gemacht hast, keine logische Erklärung. Phillip glaubt das, was du mir erzählt hast, und er hat mich noch nie in die Irre geführt. Ich weiß es einfach nicht.« Sie ballte die Fäuste. »Du hast gesagt, dass die Stimmen gewöhnlich einer emotionsgeladenen Situation entspringen, stimmt das?«
»Ja.«
»Dieses Krankenhaus muss voll mit solchen Echos sein. Warum höre ich sie hier nicht?«
»Ich helfe ein wenig nach.«
»Ein wenig?«
Er nickte. »Du blockst sie selbst zum größten Teil ab. Das ist unglaublich. Du machst das instinktiv. Ich hatte keine Gelegenheit, dir die Technik beizubringen.«
»Wieso solltest du mir das beibringen wollen? Das würde dir die Möglichkeiten nehmen, mich mit den Stimmen unter Druck zu setzen.«
»Richtig. Daran habe ich auch schon gedacht. Aber letzten Endes wirst du die Echos allein zum Schweigen bringen können, und es ist besser, wenn du mir freiwillig hilfst.«
»Allein?«, wiederholte sie ungehalten. »O ja. Diese großartige Gabe, die mich in den Wahnsinn treiben kann wie Phillips Frau.«
»Sie war nicht annähernd so stark wie …«
»Ich will nichts davon hören«, unterbrach sie ihn. »Nicht jetzt. Ich muss nach Hause und etwas überprüfen. Danach werde ich Phillips Sachen zusammenpacken.« Sie schauderte. »Das macht man, wenn jemand gestorben ist. Aber er wird nicht sterben, Grady. Und er wird nicht in dieser stillen Hölle bleiben.« Sie ging den Flur hinunter. »Ich muss einen Weg finden …«
Der Computer-Bildschirm leuchtete blau, daneben brannte auf dem Tisch in der Bibliothek die Schreibtischlampe.
Tu’s. Starr nicht auf den Bildschirm. Zapf das World Wide Web an. Man kann im Internet alles finden, wenn man nur gründlich genug sucht. Zumindest verrät es, wo man die gewünschte Information finden kann.
Aber sie wollte eigentlich gar nicht wissen, ob ihre Mutter sie angelogen hatte.
Los, spring ins kalte Wasser.
Konzentrier dich. Erinnere dich an die Echos, die deutlich zu verstehen waren.
Hiram.
Ein langer Schrei, der immer leiser wurde …
Eine stürzende Frau?
John, mein Baby …
Was für ein Baby?
Pearsall. Eine Frau, der ein Mann namens Pearsall unrecht getan hatte.
Megan wusste nicht einmal, zu welcher Zeit diese Episoden passiert waren. Ich habe erbärmlich wenig, worauf ich aufbauen kann, dachte sie frustriert. Natürlich könnte sie noch einmal in die Höhle gehen und die Stimmen erneut heraufbeschwören.
Ja, vor allen Dingen. Auf keinen Fall mache ich das noch einmal durch.
Sie tippte »Myrtle Beach« in das Suchprogramm ein.
Sie wollte die Dateien mit den Zeitungsmeldungen durchforsten und sehen, ob die Stimmen Echos waren, wie Grady behauptete. Sie erhielt nur wenige, fast gar keine Verweise. Gott allein wusste, wie viel Zeit sie die Suche kosten würde.
Das spielte keine Rolle. Sie würde nicht aufgeben.
Grady lehnte sich auf dem Fahrersitz zurück. Sein Blick war auf das Licht gerichtet, das durch ein Fenster der Bibliothek fiel. Megan war die ganze Nacht da oben gewesen, und er ahnte, was sie dort machte.
Nur zu, Megan. Prüf es nach.
Ich halte dir so lange den Rücken frei.