PROLOG
Stimmen.
Megan spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte, und sie versuchte, die Angst auszublenden. Mama sollte nichts merken. Mama war heute Nachmittag so fröhlich und entspannt gewesen. Megan wollte ihr das nicht verderben.
»Warum so still?« Ihre Mutter begann, die Sachen in den Picknickkorb zu packen. »Worüber denkst du nach?«
Stimmen.
Megan suchte fieberhaft nach einer Antwort. »Ich wünschte, Neal wäre mitgekommen. Hast du ihn nicht eingeladen?«
»Nein, zum Kuckuck. Ich wollte einen Mutter-Tochter-Nachmittag. Neal möchte immer das Geschehen beherrschen.« Sie lächelte verschmitzt. »Er bekommt immer deine ganze Aufmerksamkeit. Aber verübeln kann ich dir das nicht. Als ich ihm das erste Mal begegnet bin, erinnerte er mich an ein Porträt von einem Renaissance-Prinzen, das ich einmal in einem Museum in Florenz gesehen habe. Sehr elegant und ein wenig einschüchternd.«
Schalte diese Stimmen aus. Gütiger Gott, sie wünschte wirklich, sie könnte sie verscheuchen. »An Neal ist nichts einschüchternd. Wie kannst du so was sagen?«
»Hey, ich greife ihn ja nicht an. War nur ein Vergleich.«
Stimmen.
Worüber haben wir gesprochen?, überlegte Megan. Konzentrier dich. Ach ja, stimmt – Neal. »Ich habe Neal gern um mich. Er ist witzig.«
»Wenn er will. Aber ich bin froh, dass du ihn magst. Ich mag ihn auch. Er ist mir ein guter Freund.« Ihr Lächeln verblasste, während sie Megan musterte. »Du hörst mir gar nicht zu. Was ist denn los, Kleine?«
»Nichts.«
»Megan!«
»Stimmen«, flüsterte Megan. »Mir gefällt es hier nicht, Mama. Ich höre Stimmen.«
»Unsinn.« Ihre Mutter wandte den Blick abrupt ab. »Ich habe dir doch gesagt, dass du dir das nur einbildest.« Sie warf die Plastikbecher in den Korb. »Und es gibt keinen Grund dafür, dass du dich hier unwohl fühlst.« Sie setzte sich auf die Fersen und betrachtete die untergehende Sonne, die den Baggersee unter ihnen in ein goldenes Licht tauchte. »Hier ist es wunderschön. Wir haben ein Dutzend Mal hier oben gepicknickt, und du hast diese albernen Stimmen nie erwähnt. Hast du sie schon früher an diesem Ort gehört?«
Megan nickte. »Aber du willst ja nicht, dass ich über sie spreche.«
»Weil sie nicht existieren.« Sie streckte die Hände aus und legte sie an Megans Wangen. »Und du sollst nicht über Dinge reden, die es gar nicht gibt. Als du noch klein warst, hat das nicht so viel ausgemacht. Doch mittlerweile bist du fünfzehn, und die Leute achten mehr auf das, was du sagst. Diese Sache muss unter uns beiden bleiben.«
»Sonst halten mich die Leute für verrückt.« Megan versuchte ein Lächeln. »Das kann ja auch nicht normal sein. Vielleicht bin ich wirklich verrückt. Was meinst du, Mama?«
»Selbstverständlich bist du das nicht.« Sie beugte sich vor und hauchte Megan einen Kuss auf die Nase. »Wer legt die Grenzen fest? Wer kann wirklich sagen, was normal ist? Ich habe gehört, dass Komponisten ihre Musik im Kopf hören, und alle Welt nennt sie Genies. Wahrscheinlich wird sich diese Sache mit den Stimmen mit der Zeit verlieren.«
»Das hast du schon gesagt, als ich sieben war.«
»Und mittlerweile hörst du sie nicht annähernd so oft wie damals, oder?«
»Stimmt.«
»Und hast du nicht gesagt, dass sie nicht schreien, sondern flüstern?«
Megan nickte.
»Siehst du? Das ist doch ein Fortschritt. Und bis du einundzwanzig wirst, verschwinden sie ganz.«
Megan runzelte die Stirn und schlug zaghaft vor: »Vielleicht … sollte ich eine Therapie machen.«
»Nein«, wehrte die Mutter vehement ab. »Keine Ärzte. Wir reden mit niemandem darüber, verstanden?«
Megan nickte, obwohl sie nicht verstand. Sie wusste nur, dass es ihrer Mutter gar nicht recht war, wenn sie über die Stimmen sprach. Vielleicht wollte sie einfach nicht wahrhaben, dass ihre Tochter … nicht normal war. Okay, belass es dabei. Könnte ja auch sein, dass die einfache Lösung des Problems, die ihre Mutter im Sinn hatte, die richtige war. Megan wollte ihre Mutter auf keinen Fall aufregen.
»Schau nicht so düster.« Ihre Mutter strich mit der Fingerspitze über die zwei Linien auf Megans Stirn. »Du bekommst noch Runzeln wie ich.«
»Du hast keine Runzeln. Du bist so hübsch.« Das stimmte. Sarah Nathan war nicht im herkömmlichen Sinne schön, aber ihr braunes Haar schimmerte im Schein der untergehenden Sonne, und das charaktervolle Gesicht strahlte Herzenswärme und Vitalität aus.
»Ich habe jede Menge Runzeln. Aber wenn man viel lacht, dann verlieren sie sich in den Lachfältchen.« Sie verzog das Gesicht. »Das solltest du dir zu Herzen nehmen, meine kleine ernste Maus. Du lächelst nicht genug und gibst mir dadurch das Gefühl, keine gute Mutter zu sein.«
»Das stimmt doch gar nicht. Es gibt keine bessere Mutter als dich. Und ich bin nicht immer ernst.«
»Okay, du bist nachdenklich.« Sie stand auf und zog Megan auf die Füße. »Komm. Es wird bald dunkel. Höchste Zeit, ins Cottage zurückzukehren. Du musst morgen zur Schule, und ich hab viel zu tun.« Sie gab Megan die Picknickdecke. »Wegen der Schule brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Du bist deiner Klasse voraus. Weißt du, mir wäre es lieber, du würdest dich weniger auf deinen Notendurchschnitt konzentrieren und stattdessen mehr darauf achten, Spaß zu haben.«
»Ich habe Spaß.«
»Nicht genug. Streng dich ein bisschen mehr an. In letzter Zeit erlebe ich dich nur ausgelassen, wenn du mit Neal zusammen bist. Du bist jung. Das Leben vergeht so schnell, dass die guten Zeiten hinter dir liegen, ehe du dich’s versiehst.« Sie lächelte. »Du wirst noch viel Schönes erleben – den Abschlussball und enge Freundschaften, die erste Liebe und all das.«
»O Gott!«
Sarah fuhr ihrer Tochter durchs Haar. »Freche Göre. Zeig ein bisschen Gefühl.« Ihr Lächeln verschwand, während sie den Pfad hinuntergingen. »Sind die Stimmen weg?«
»Ja«, log Megan. Na ja, im Grunde war es keine Lüge. Sie waren zwar nicht ganz weg, aber mittlerweile hörte sie nur noch ein dumpfes Rauschen, wie eine Meeresbrandung in der Ferne. Es hatte jedoch keinen Sinn, ihre Mutter noch mehr zu beunruhigen, wenn sie sich doch so sehr wünschte, dass die Stimmen verstummten.
»Ich sag dir doch, dass es mit der Zeit besser wird.« Sie hakte sich bei Megan unter. »Ich scheine gerade eine Glückssträhne zu haben, und du solltest nicht vergessen, was ich dir über den Spaß im Leben gesagt habe.«
»Mama, ich bin nicht …« Sie verstummte, weil sie spürte, wie sich ihre Mutter anspannte. »Was ist los?«
»Nichts.«
Das entsprach nicht der Wahrheit. Etwas war geschehen. Sarahs Miene sprach Bände.
Angst.
Megan folgte dem Blick ihrer Mutter zu dem Fichtenhain am Fuße des Hügels.
Dort stand ein Mann und beobachtete sie.
»Wer ist das? Kennst du ihn?«
»Vielleicht.« Sarah holte tief Luft. »Ich rede besser mit ihm. Geh du zurück zum Baggersee.«
Megan weigerte sich.
»Tu, was ich dir sage«, wies ihre Mutter sie scharf zurecht. »Das hier ist meine Angelegenheit. Kennst du die Höhle auf der anderen Seite des Berges? Bleib dort, bis ich zu dir komme und dich hole.«
»Nein, ich komme mit dir.«
»Das wirst du nicht tun. Du gehst zu dieser Höhle, und zwar sofort.«
Megan zögerte immer noch.
»Hör zu, Megan, ich komme zurecht. Ich muss nur kurz unter vier Augen mit ihm sprechen.« Sie machte sich auf den Weg. Ihre Stimme war wie ein Peitschenhieb: »Los, verschwinde.«
»Okay, aber wenn du in zwanzig Minuten nicht zurück bist, komme ich zu dir.« Megan machte kehrt und lief den Weg zurück bergauf.
Das war nicht gut.
Egal, was ihre Mutter gesagt hatte, da stimmte etwas nicht.
Töte den Bastard.
Neal Gradys Klinge schlitzte dem Mann die Kehle auf, Blut spritzte. Neal schubste ihn weg, und er sank zu Boden.
Er gönnte dem Mann keinen weiteren Blick, als er über die Straße und durch das Wäldchen stürmte.
Er kam zu spät.
Grady fluchte, während er den Hang hinunterrutschte und zu der Frau lief, die zusammengekrümmt am Fuße des Hügels lag.
Tot?
Noch nicht, aber beinahe.
Er ging neben ihr auf die Knie; seine Augen brannten. »Sarah, verdammt.«
Sarah öffnete langsam die Augen. »Hallo, Neal. Ich bin froh … du bist da. Aber … du solltest eine Sterbende nicht verfluchen.«
»Sei still. Spar dir die Kräfte. Vielleicht kann ich noch etwas tun.«
Sie versuchte, den Kopf zu schütteln. »Nicht für mich, das weißt du. Aber Megan … Ich wollte ihn von ihr fernhalten. Aber er hat sie gesehen. Er … hat sie gesehen. Und wird sie verfolgen.«
»Nein, das wird er nicht«, erwiderte er grimmig. »Ich bin zu spät gekommen, um dich zu retten, aber nicht zu spät für ihn. Ich habe dem Hurensohn die Kehle aufgeschlitzt.«
»Gut. Megan wird … mir ist kalt, Neal. Ich darf noch nicht sterben. Ich muss dir …«
»Gütiger Gott, Sarah, du bist eine solche Närrin«, sagte er mit bebender Stimme. »Ich hab dir schon vor sechs Monaten geraten, von hier zu verschwinden. Du hättest fliehen und Megan vor ihm verstecken sollen.«
»Ich hab mich sicher gefühlt und dachte, dass du dich irrst. Ich wollte Megan nicht schon wieder irgendwo anders hinbringen. Ich habe mich so bemüht, ihr ein normales Leben zu bieten. Nicht so ein Leben wie meines oder deines.« Sie holte scharf Luft. »Alles wird so … verschwommen. Ich hatte nicht erwartet, dass es so ist. Ich … habe Angst. Du kannst mir doch helfen, oder?«
Er nickte. »Ja, ich kann dir helfen.«
»Das dachte ich mir. Darf ich … dich berühren?«
»Ja.« Er legte sich neben sie und nahm sie in den Arm. »Entspann dich einfach, Sarah.«
»Das geht nicht. Noch nicht. Megan. Du musst Megan helfen.«
»Um Himmels willen, Sarah, du hast sie nicht einmal vorbereitet. Du hast sie belogen. Ich weiß nicht, ob ich etwas für sie tun kann.«
»Versuch’s.«
»Ich kann dir nichts versprechen. Du weißt, was passiert ist, als du sie einmal allein gelassen hast.«
»Versuch’s«, wiederholte sie. »Bitte, Neal.«
»Keine Versprechen.« Er strich ihr zärtlich über die Wange. »Ich sehe, was ich machen kann.«
»Das weiß ich. Sie ist stark, Neal. Viel stärker als ich. Sie hat eine Chance … Du wirst auf sie aufpassen. Du … magst sie. Du hast … meine Megan gern.«
»Ja. Aber jetzt sei still, und ruh dich aus.«
Sie schwieg nur einen kurzen Moment. »Neal, ich bin … keine Pandora.«
»Doch, das bist du«, flüsterte er. »Aber das spielt jetzt keine Rolle. Halt dich an mir fest. Ich helfe dir, das durchzustehen.«
»Das hatte ich gehofft.« Sie schmiegte sich an ihn. »Ja, hilf mir …«
Sie ergab sich ihrem Schicksal. Wärme ersetzte die Kälte, Licht durchflutete die Dunkelheit. Gesunder Menschenverstand statt Verrücktheit.
»Danke, Neal«, hauchte sie.
»Schsch, lass einfach los …«
Megan schrie.
Der gequälte Laut zerriss Neal das Herz.
Verdammt, Sarah war ihm gerade entglitten, und Megan spürte bereits den Verlust.
Schmerz.
Er schob Sarah sanft von sich und stand auf.
Ein quälender Stich. Er musste zu ihr, bevor sie sich das Herz aus dem Leibe riss.
Bevor sie ihn zerfetzte.
Er musste sie finden.
Wo bist du, Megan?
Mehr Schmerz.
Kopflose Panik und Qual.
Er musste sie suchen.
Finden.
Ihr helfen.
Mama!
Megan kauerte an der Höhlenwand, als sie der Schmerz durchfuhr.
Keine Pandora. Keine Pandora. Keine Pandora.
Stimmen. Geplapper. Schreie.
Nicht Mamas Stimme. Wo bist du, Mama?
Gegangen.
Die Stimmen waren noch da. Sie fielen über sie her, schlugen sie, stachen auf sie ein.
Geht weg! Geht weg! Geht weg!
Hilf mir, Mama!
Mama war fort.
Panik machte sich breit. Sie war allein mit den Stimmen, die an ihr rissen und sie schier umbrachten.
Wieder stieß sie einen Schrei aus. Hilf mir!
»Es gibt nur eine Möglichkeit, wie ich dir helfen kann, Megan.«
Ein Mann stand in der Höhlenöffnung. Dunkel, schlank, groß. War das derselbe Mann wie der, mit dem ihre Mutter sprechen wollte?
Mama war fort und würde nie wiederkommen.
Von ihr gegangen.
Nein, dies war nicht der Fremde. Es war Neal Grady. Erleichterung durchströmte sie. Neal würde ihr helfen.
Neal steht hinter jemandem. Stahl funkelt, als sein Messer den Hals durchschneidet. Blut sprudelt …
Mord.
Mama? Ist das Mamas Hals?
Nein!
Instinktiv warf sie sich gegen seine Knie und riss ihn zu Boden.
Die Stimmen wurden wieder laut, und sie wand sich in Qualen.
»Hör auf, mich zu bekämpfen«, sagte er heiser. »Ich will dir nichts antun.«
Sie biss ihm ins Handgelenk.
»Mein Gott, Sarah hatte recht. Du bist viel stärker, als sie es jemals war.«
Sie konnte ihn kaum verstehen, weil die Stimmen so laut waren und an ihr zerrten.
Wehr dich gegen sie. Wehr dich gegen ihn.
Sie versuchte, zur Höhlenöffnung zu kriechen.
»Nein.« Er packte sie. »Es ist vorbei, Megan.«
Mama.
»Hör auf damit.« Sein Gesicht war schmerzverzerrt. »Sie kann dir nicht mehr helfen. Und ich bin nicht sicher, ob ich es kann.«
Mama.
»Mach das nicht. Ich hab ihr gesagt, dass ich nichts versprechen kann …«
Mama!
»Verdammt, Megan, du musst bei mir bleiben.« Er schlug ihr mit dem Handrücken ins Gesicht.
Finsternis.
Doch die Stimmen waren noch da, rissen an ihr, verschlangen sie.
»Okay, ich mach das nicht länger mit«, flüsterte er. »Du gewinnst, Megan. Oder vielleicht gewinnt Sarah.« Er packte sie an den Armen und hielt sie fest. »Ich bringe dich zum Schweigen. Kämpf nicht mit mir. Ich werde dir nicht weh tun. Du wirst lediglich einschlafen, und ich verjage die Stimmen.«
Sie öffnete die Augen und sah ihn benommen an. »Was …«
»Schsch.« Er strich ihr behutsam das Haar aus der Stirn. »Du wolltest Hilfe. Ich gebe sie dir. Du wirst dich nicht an die Stimmen, den Schmerz und all dies erinnern.« Seine Lippen wurden schmal. »Ich wünschte, ich hätte so viel Glück.«