KAPITEL 7

V

ermutlich wird sie alles schneller herausfinden, als mir lieb sein kann, dachte Grady belustigt, als er Megan nachsah. Er hatte nur Glück, dass sie so viel um die Ohren hatte, dass sie sich nicht auf Molino konzentrieren konnte. Es würde ein interessanter Tanz werden, sie so sehr in Bewegung zu halten, dass sie nicht zum Nachdenken kam. Er war nicht sicher, wie viel sie an dem Tag, an dem ihre Mutter ums Leben gekommen war, in der Höhle gespürt und wie viel sie durch den Nebel des Schmerzes verstanden hatte. Es war unglaublich, dass sie diesen Schmerz noch einmal auf sich genommen hatte. Nein, nicht unglaublich. Er hatte sich auf diese Stärke und Entschlossenheit verlassen, als er entschieden hatte, sich ihrer zu bedienen. Niemand kannte Megan so, wie er sie kannte. Schon damals, als er sie in Sarahs Cottage zum ersten Mal sah, hatte er eine Verbindung zu ihr erahnt, die im Laufe des Jahres immer fester wurde. Er hatte sich bemüht, die Beziehung zu ihr brüderlich zu halten, aber in Wahrheit waren seine Gefühle nie die eines Bruders gewesen. Sie war damals ziemlich reif für ihr Alter gewesen und so verdammt lebhaft und strahlend, dass es ihm höllisch schwergefallen war, nicht die Hand nach ihr auszustrecken und sie zu berühren. Er erinnerte sich speziell an einen Morgen, an dem er beobachtet hatte, wie sie ihr Gesicht der Sonne zudrehte und eine Brise ihren leicht gebogenen Hals liebkoste. Gott, ihr Hals und die Schultern waren wunderschön. Er war noch jung, aber nicht unerfahren gewesen und so heiß auf sie, dass er um ein Haar schwach geworden wäre. An jenem Morgen musste er sich umdrehen und weggehen.

Wie oft war er in diesem Sommer vor Megan weggelaufen? Es war eine sinnliche, zärtliche, bittersüße Erfahrung gewesen, diese Monate mit Megan zu erleben. Und danach hatte er das merkwürdige Gefühl gehabt, dass sie ein Teil von ihm geworden war.

Ja, klar. Falls sie ein Teil von ihm war, dann musste er ein Masochist sein, wenn er ihr das zumutete, was sie in Paris erwartete. Er war praktisch nur ihr Reisebegleiter. Sie hingegen würde leiden.

Dann akzeptier es, und zieh es durch. Er nahm sein Handy aus der Tasche und tippte die Nummer der CIA mit der Durchwahl von Venable ein.

»Ich könnte Hilfe brauchen«, sagte er, sobald sich Venable gemeldet hatte. »Molino hat es auf Megan Blair abgesehen, und ich weiß nicht, was auf uns zukommt. Ich möchte sicherstellen, dass ihr bereit seid.«

»In Atlanta?«

»Nein. Wahrscheinlich in Paris. Wir machen uns auf die Suche nach der Chronik.«

»Scheiße. Kannst du sie da nicht raushalten?«

»Nein, ich brauche diese Chronik. Schuldgefühle, Venable?«

»Herrgott noch mal, ja. Ich habe mich immer gefragt, ob ich diesen Alptraum mit Sarah im Dschungel hätte verhindern können. Vielleicht hätte ich etwas anders machen können. Ich war so verdammt jung und eifrig und bin ganz nach Vorschrift vorgegangen.«

»Wir waren beide jung, und ich habe mir in all den Jahren auch Vorwürfe gemacht.«

»Nicht genug, sonst würdest du ihre Tochter nicht mit einbeziehen.«

»Du bist so lange hinter Molino her wie ich. Wir haben die Chance, ihn zu schnappen und die Chronik zu finden. Dazu brauche ich Megan.« Er schwieg eine Weile, dann fügte er hinzu: »Ich habe dich nicht angerufen, um mit dir zu diskutieren, Venable. Wirst du mich unterstützen, wenn ich Hilfe brauche?«

»Natürlich, verdammt noch mal.« Er legte auf.

Es war seltsam, dass Grady die harte Schiene mit Megan Blair fuhr und nicht Venable, der schon seit Jahren für die CIA arbeitete. Nein – eigentlich war es nicht überraschend. Die Ereignisse mit Sarah waren ihnen allen an die Nieren gegangen. Venable war ein guter Agent, und vermutlich hätte er in dieser Nacht im Dschungel gar nichts anderes tun können. Grady hatte geglaubt, sein Bestes gegeben zu haben, und trotzdem war es nicht gut genug gewesen.

Aber dieses Mal musste so etwas nicht wieder passieren. Keine Fehler mehr.

Er wählte hastig eine andere Nummer.

 

Megan blieb erstaunt in der Küchentür stehen. »Was, um alles in der Welt, machen Sie hier, Harley?«

»Ich warte auf Sie.« Jed Harley grinste, als er aufstand. »Und muss durchschnaufen. Grady hat mir nicht viel Zeit gelassen hierherzukommen.« Sein Blick fiel auf den kleinen Koffer, den sie in der Hand hatte. »Sie reisen mit leichtem Gepäck.«

»Mein Computer ist in diesem Koffer, die Arzttasche steht im Flur. Ich beabsichtige nicht, diese Reise lange auszudehnen. Wo ist Grady?«

»Er ist unterwegs, um alles vorzubereiten, und hat mich gebeten, Sie sicher nach Paris zu bringen.« Er verneigte sich leicht. »Ich werde Sie gesund und munter abliefern. Was meinen Sie, wie groß meine Chancen sind?«

»Woher soll ich das wissen? Wahrscheinlich nicht sehr hoch. Fifty-fifty vielleicht. In letzter Zeit würde mich wohl kaum jemand als ›munter‹ beschreiben.«

»Dann muss ich mich wohl darauf konzentrieren, Sie am Leben zu erhalten.« Er nahm ihren Koffer. »Gehen wir. Wie ich mir vorstellen kann, sind Sie nicht sehr begeistert, dass ich an Gradys Stelle getreten bin. Besser, wir machen uns schnell auf den Weg, damit Sie keine Gelegenheit haben, das zum Ausdruck zu bringen. Ich bin ein empfindsames Wesen.«

Er hatte recht. Sie war enttäuscht gewesen, als sie Harley auf dem Stuhl vorgefunden hatte, auf dem kurz zuvor noch Grady gesessen hatte. Eigentlich hätte sie erleichtert sein müssen. Harley hatte sie im Krankenhaus getröstet, und seine ungewöhnliche, leicht verrückte Art war ihr sehr sympathisch. Wenn sich Grady in ihrer Nähe aufhielt, war sie immer auf der Hut. Ständig bewegte sie sich an der Grenze zwischen Argwohn und zaghaftem Vertrauen. Gott, die Zaghaftigkeit sollte sie sich bewahren. Er hatte zugegeben, dass er ihr nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte. Und die Enttäuschung darüber war noch spürbar. Vielleicht lag das daran, dass jede Minute mit Grady eine Herausforderung war – die Ansprüche, die er an sie stellte, und seine Präsenz zwangen sie dazu, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen.

Harley seufzte. »Sie eilen nicht herbei, um mir den Kopf zu tätscheln und mich mit Mitgefühl zu überschütten. Normalerweise ernte ich mit dem Spruch über meine zart besaitete Seele eine enthusiastischere Reaktion.«

»Quatsch.« Sie lächelte. »Sie brauchen kein Kopftätscheln. Sie wüssten gar nicht, was Sie mit so einem Unsinn anfangen sollten.«

»Das könnte ich lernen. Sie nehmen mir das nicht ab? Dann muss ich mir wohl oder übel eine andere Taktik einfallen lassen. Lassen Sie mich darüber nachdenken.« Er nahm ihren Arm. »Auf dem Weg nach Stockholm.«

»Stockholm? Ich dachte, wir fliegen nach Paris?«

»Das tun wir – über Stockholm. Grady braucht noch ein bisschen Zeit, um den Weg zu ebnen.«

»Und Molino soll, wenn er uns folgt, nicht wissen, welches Ziel wir in Wirklichkeit anpeilen?«

»Oh, er folgt uns. Aber nicht lange. Sobald wir in Stockholm ankommen, lösen wir uns in Luft auf. Kommen Sie, wir verpassen noch unsere Maschine, wenn wir nicht auf die Tube drücken.« Er lächelte, als er ihren Ellbogen umfasste. »Ich verspreche, dass Sie sich auf dem Flug nicht langweilen werden. Ich hatte im Klinikwartezimmer keine Möglichkeit zu zeigen, wie witzig und geistreich ich sein kann. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, freundlich zu sein und Sie zu trösten.«

»Und das ist Ihnen gelungen.« Auch jetzt machte er einen guten Job. Ihr wurde bewusst, dass sie nicht mehr annähernd so nervös und ängstlich war, seit er hier war. Harley lenkte sie nicht nur ab, sondern gab ihr mit der sanften Berührung, mit der er sie zur Haustür dirigierte, denselben Trost wie im Krankenhaus. »Und Sie sollten bei dem bleiben, was Sie gut können. Im Augenblick wäre es für mich zu anstrengend, Ihren Witz zu bewundern.«

»Was für ein Glück. Den Stress bin ich los.«

Und auch sie spürte, dass sie nicht mehr so unter Druck stand. Sie hatte einen langen Flug vor sich und Gelegenheit, über all das nachzudenken, was ihr Leben auf den Kopf gestellt hatte.

Und viele Stunden, um sich auf ihre nächste Begegnung mit Grady vorzubereiten.

War das Gradys Absicht gewesen, als er Harley beauftragt hatte, sie nach Paris zu bringen? Vielleicht.

»Lassen Sie uns gehen.« Sie trat vor ihm aus dem Haus. »Je früher wir anfangen, umso schneller haben wir’s hinter uns.«

 

»Sie sitzt in einer Maschine nach Stockholm«, sagte Sienna und drehte sich zu Molino um. »Darnell sagt, dass das Flugzeug vor vierzig Minuten gestartet ist.«

»War Grady bei ihr?«

»Nein, Grady hat ihr Haus knappe zwei Stunden vor ihr verlassen. Darnell dachte, dass es dir lieber wäre, wenn er bleibt und die Blair im Auge behält. Sie ist mit Jed Harley an Bord gegangen – das ist der Typ, der ihr im Wartezimmer der Klinik beigestanden hat.«

Molino fluchte leise. »Das ist genauso, als wäre sie in Gradys Begleitung. Harley arbeitet seit vier Jahren für ihn. Wen haben wir in Stockholm?«

»Niemanden. Aber Max Wieder ist in Berlin. Soll ich ihn anrufen und nach Stockholm schicken?«

Molino nickte. »Ich will, dass er am Flughafen ist, wenn die Maschine landet. Vielleicht steigen sie in ein anderes Flugzeug, und ich will wissen, wohin sie fliegen.« Er verzog das Gesicht. »Abgesehen davon, dass sie zu Grady wollen. Das alles muss sein Werk sein.«

»Er versucht, sie zu schützen?«

»Kann sein. Aber deswegen würde er sie nicht außer Landes schicken. Ich wette, er hat sie auf die Chronik angesetzt.«

»Angesetzt?«

»Wenn sie ein Freak wie ihre Mutter ist, könnte sie ihm helfen, das Ding zu finden.«

»Oh, ich verstehe.«

Siennas Ausdruck blieb unbewegt, aber Molino spürte seine Skepsis und vielleicht auch eine Spur Spott. Er wusste, dass Sienna nichts von dem übersinnlichen Humbug hielt, und wünschte, er könnte das auch. Sogar als Steven starb, hatte Sienna nicht geglaubt, dass besondere Kräfte im Spiel gewesen waren. Was wusste er schon? Er hatte sich in Miami aufgehalten, als Steven getötet wurde. Molino hingegen wusste, dass dieses Miststück dafür verantwortlich gewesen war. Er hatte gesehen, wie es passierte.

Er erinnerte sich an den Schmerz, der ihn erfasst hatte. Hexe. Hexe. Hexe. Er hatte dafür gesorgt, dass sie in der Hölle schmorte, aber ihre Tochter war noch am Leben. Genau wie all die anderen grässlichen Freaks, die so waren wie sie.

Aber nicht mehr lange.

Er würde Siennas verborgene Verachtung ignorieren wie all die Jahre zuvor. Molino mochte sich ärgern, aber verübeln konnte er ihm nicht, dass er nicht daran glaubte, dass Steven ein Opfer dieser Hexe geworden war. Manchmal, wenn Molino mitten in der Nacht aufwachte, glaubte er selbst nicht daran.

Aber für ihn war es die Wahrheit, bis er sich gerächt und all die Freaks endgültig ausgerottet hatte.

Bis er Megan Blair vernichtet und die Chronik gefunden hatte.

 

»Wir haben einen Verfolger.« Harleys Blick war auf den Rückspiegel des Mietwagens geheftet, den sie sich am Stockholmer Flughafen genommen hatten. »Schwarzer Volvo. Ein Mann, glaube ich. Das bedeutet vermutlich Observation, nicht Mord.«

»Wie beruhigend«, murmelte Megan. »Darf ich darauf hinweisen, dass in dem Auto, das mich vom Highway drängeln wollte, auch nur ein Mann saß?«

»Ja, aber damals war ich nicht bei Ihnen.« Er schmunzelte. »Mein Ruf ist furchteinflößend. Ich versetze sie in Angst und Schrecken.«

»Ich finde Sie nicht furchteinflößend.«

»Weil ich mir Mühe gebe, Ihnen gegenüber meine aggressive Seite zu zügeln.« Wieder schaute er in den Rückspiegel. »Den hänge ich ab. Ich hab keine Lust, ihn auf den Fersen zu haben, wenn wir das Dock erreichen.«

»Dock?«

»Wir fahren mit einem Schnellboot zu einem Privatflugplatz an der Küste. Von dort aus fliegen wir nach Paris.« Er trat aufs Gaspedal. »Halten Sie sich fest. Es geht los.«

Festhalten ist gut, dachte sie, als Harley abrupt nach rechts in eine schmale Gasse einbog und gleich darauf mit quietschenden Reifen nach links auf einen Boulevard fuhr.

»Er ist noch an uns dran«, brummte Harley. »Er ist ziemlich gut. Ich muss mich wohl etwas mehr anstrengen. Was für ein Spaß …«

Spaß? In der nächsten Viertelstunde kam sich Megan vor, als würde sie in einer Achterbahn sitzen. Irgendwann erreichten sie das Dock, nachdem Harley zufrieden festgestellt hatte, dass sie den Volvo abgehängt hatten. Megan war benommen und hatte die Orientierung vollkommen verloren.

»Gibt es in Stockholm keine Verkehrspolizei?«, fragte sie, als sie ausstieg. »Ich wundere mich, dass wir nicht angehalten wurden.«

»Genau genommen sind die Stockholmer ausgesprochen gesetzestreu. Deshalb sollten wir schnell in dieses Boot springen und die Stadt verlassen. Ich bin sicher, man hat mindestens ein Dutzend Mal die Polizei unsertwegen alarmiert.« Er half ihr in das Boot. »Grady würde es sicherlich nicht gefallen, wenn man uns hier festnehmen würde.«

»Daran hätten Sie denken sollen, bevor Sie losgerast sind, als wären wir auf der Rennstrecke in Indianapolis.«

»Nein, die Rennfahrer sind geschickt, aber ihnen fehlt die Spontaneität. Auf normalen Straßen bin ich viel besser als die. Habe ich schon erwähnt, dass ich einmal Stuntfahrer in Hollywood war?«

»Nein. Sie sagten, Sie waren Notarztwagenfahrer. Was waren Sie sonst noch?«

»Oh, alles Mögliche«, wich er ihr aus und startete den Motor. »Ich liebe die Abwechslung.« Er warf ihr einen Blick zu. »Und ich bin nicht wie Grady oder Sie – ihr beide seid von dem parapsychologischen Zeug gehemmt. Ich mache, was mir gefällt, und überlass die richtig schweren Bürden anderen.«

»Wie nett von Ihnen. Ich beabsichtige nicht, mich von irgendetwas außer meinem eigenen Willen behindern zu lassen. Ich habe mich für die Medizin entschieden und werde auch dabei bleiben.«

»Schön für Sie.« Er fuhr los »Dann muss ich ja nur mit Grady Mitleid haben.«

 

Grady erwartete sie, als ihre Chartermaschine auf dem kleinen Flughafen Chantilly außerhalb von Paris landete.

Megan verspürte die mittlerweile vertraute Anspannung, als sie sah, wie er die Piste überquerte und auf das Flugzeug zukam. Der Wind drückte die Jeans und den dunkelblauen Pulli an seinen schlanken Körper. Irgendetwas war … anders an ihm. Bisher hatte er den Eindruck gemacht, als würde er seine Kraft im Zaum halten, aber jetzt wirkten seine Schritte zielstrebig und energiegeladen. Die Kraft war da, aber sie wurde nicht mehr zurückgehalten. Instinktiv wappnete sich Megan innerlich dafür, es mit dieser Energie aufzunehmen.

»Es ist okay«, raunte Harley, der ihren Gesichtsausdruck studierte. »Sie werden mit ihm fertig.«

Selbstverständlich. Und vielleicht bildete sie sich diese Veränderung in Gradys Haltung ja auch nur ein. Sie nickte, stand auf und ging zum Ausgang. »Zweifellos. Er sieht nur so kampfbereit aus.«

»Er ist in Aktion. Da sieht er immer so aus.« Harley folgte ihr den Gang hinunter. »Vielleicht nicht so ausgeprägt …«

»Irgendwelche Probleme?«, erkundigte sich Grady bei Harley, während er Megan beim Aussteigen half.

»Ein Verfolger in Stockholm, aber den bin ich losgeworden.«

»Indem er gefahren ist wie jemand aus einem alten Steve-McQueen-Film«, warf Megan ein.

»Ich bin besser«, protestierte Harley. »Dieser Stuntfahrer hätte den Typen niemals abgehängt. Er war ziemlich gut.« Er sah Grady an. »Und was jetzt?«

»Ich habe einen Bungalow in einem Motel in der Nähe reserviert. Dort bleiben wir, solange du alles checkst.«

Harley nickte. »Bin schon auf dem Weg. Ich miete einen Wagen und fange heute Abend an.« Er steuerte den winzigen Terminal am Ende der Rollbahn an. »Gib ihr was zu essen. Auf dem Flug von Atlanta wollte sie außer Erdnüssen nichts haben.« Er warf einen Blick über die Schulter und grinste Megan an. »Ich möchte nicht, dass jemand auf die Idee kommt, ich hätte sie nicht im Tipptopp-Zustand abgeliefert. Das ginge gegen meine Berufsehre.«

»Welcher Beruf das auch immer sein mag.« Megan schnitt eine Grimasse. »Im Moment führen Sie sich auf wie eine Glucke. Ich nehme nicht an, dass Sie schon einmal einen Job als Glucke hatten, hab ich recht?«

»Lieber Himmel, ja. Das wäre schauerlich. Viel zu viel Verantwortung.«

Sie lächelte unwillkürlich, während sie ihm nachsah. Sie hatte noch nie jemanden kennengelernt, der so komisch und schrullig war wie Harley, aber sie fühlte sich in seiner Gesellschaft unbefangener als in der etlicher Menschen, die sie seit Jahren kannte.

»Du magst ihn«, stellte Grady fest, ohne den Blick von ihrem Gesicht zu wenden. »Das überrascht mich nicht. Die meisten fühlen sich von Harley angezogen wie Planeten von der Sonne.«

»Ich denke, über diesen Vergleich würde er lachen. Vielleicht aber auch nicht. Möglicherweise würde er sich geschmeichelt fühlen oder es als geziemend ansehen.«

»Du hast Harley inzwischen ganz gut kennengelernt.« Er umfasste ihren Ellbogen und führte sie zu dem wartenden Auto. »Ich glaube, ich bin ein bisschen eifersüchtig.«

Sie bedachte ihn mit einem argwöhnischen Blick. »Und ich glaube, du lügst. Warum?«

»Weil ich einen Hauch Vertrautheit entdecke. In den letzten zwölf Jahren war ich derjenige, der in gewisser Intimität mit dir gelebt hat.« Er schaute ihr in die Augen. »Mir gefällt es nicht, wenn dir ein anderer so nahekommt.«

Ihr wurde heiß. Sein Geständnis kam aus heiterem Himmel und überrumpelte sie ebenso wie ihre Reaktion darauf. »Du mochtest in Intimität mit mir gelebt haben, aber das war vollkommen einseitig. Denkst du, ich hätte in all den Jahren nie echte Intimität mit Männern erlebt?«

»Nein, das denke ich nicht. Da war diese lauwarme Beziehung in deinem ersten College-Semester. Die war mir egal. Und dann war da noch die Sache mit diesem jungen Latino. Wie hieß er noch mal? Julio Sowieso.« Seine Lippen wurden schmal. »Dass du mit dem ins Bett gegangen bist, hat mich ganz gewaltig gestört. Du hast zu viel für ihn empfunden. Ich fühlte mich damals einerseits, als würde ich selbst mit dir schlafen, und kam mir andererseits vor wie ein Voyeur. Das hat mich teuflisch durcheinandergebracht. Danach musste ich einen Weg finden, mich während deiner intimen Momente von dir abzuschirmen.«

Ihre Wangen brannten. »Versuchst du, mich in Verlegenheit zu bringen? Hör auf, so zu reden. Du bist fast ein Fremder für mich.«

»Fast.« Er öffnete ihr die Wagentür. »Das ist das Schlüsselwort. In jenem Sommer am Strand hast du mich sehr gut gekannt.«

»Das dachte ich.« Sie stieg ein. »Was hast du vor, Grady? Was führst du im Schilde?«

»Liebe Güte, wie misstrauisch du bist! Du wolltest doch, dass ich offen und aufrichtig zu dir bin. Ich komme lediglich deiner Bitte nach.«

Und zeigte das Charisma und die erotische Ausstrahlung, die sie bereits vor all den Jahren für ihn eingenommen hatten. »Warum jetzt?«

»Weil wir uns in den nächsten Wochen sehr nahekommen werden. Ich möchte alles offenlegen, damit du dich konzentrieren kannst. Ich lasse nicht zu, dass dir irgendetwas im Wege steht. Es gibt nur einen Aspekt, der unmittelbar Probleme verursachen kann.« Er stieg ein und startete den Motor. »Und es darf nicht sein, dass dich unterschwellige Empfindungen ablenken. Die können manchmal schlimmer sein als …« Er brach ab, als er aus der Parklücke zurücksetzte. »Du möchtest das nicht hören, deshalb fasse ich mich kurz: Ich will mit dir schlafen. Ich würde gern all das tun, was dieser Medera mit dir gemacht hat, und mehr. Von dem Moment an, in dem ich dich im Zoo wiedergesehen habe, wollte ich dich haben. Zur Hölle, vielleicht sogar schon vorher.«

Für einen Augenblick verschlug es ihr die Sprache. »Du hast recht«, sagte sie schließlich. »Ich will das nicht hören.«

»Ich bin fast fertig. Falls du merken solltest, dass ich dich ansehe, als wollte ich mich auf dich stürzen, dann liegt das daran, dass ich mir genau das wünsche. Du brauchst dich nicht zu fragen, was ich möchte oder welche Schritte ich tue, wenn du mir eine Chance gibst. In diesem Punkt bin ich absolut egoistisch.« Er bog auf die Straße ein. »Andererseits liegt das, was ich eigentlich an dir wertschätze, nicht zwischen deinen Beinen. Ich werde nicht riskieren, dass du mir deine Hilfe versagst, indem ich dich in mein Bett zerre.«

Sie bemühte sich, ihren Ton ruhig zu halten. »War’s das jetzt?«

»Ja. Ist das aufrichtig genug für dich?«

Sie kam sich vor, als hätte er sie in einen Glutofen gesteckt. Sein schonungsloses Bekenntnis hätte beleidigend sein können, aber es hatte sie erregt. Sie war atemlos, ihr ganzer Körper prickelte und machte sich bereit. Erinnerungen an den Grady von früher und diesen anderen, dunkleren, gefährlicheren, erfahreneren Grady verschmolzen miteinander und wurden eins.

»Ja, es ist aufrichtig genug.« Seine dunklen Augen glühten und blickten in ihre. Ihre Mutter hatte ihn mit einem Renaissance-Prinzen verglichen, und jetzt verstand Megan, warum. Die sinnlich geschwungenen Lippen, die hohlen Wangen, sein wissender, leidenschaftlicher Gesichtsausdruck. Hastig wandte sie den Blick von ihm. »Mich stört es nicht, dass du mit mir schlafen willst, solange du nicht versuchst, mich zu vergewaltigen. Solltest du das probieren, haue ich dich um. Können wir jetzt über was anderes reden?«

»Unbedingt.« Er verzog das Gesicht und schaute an sich herunter. »Diese Unterhaltung bereitet mir großes Unbehagen. Dennoch hielt ich sie für nötig, um die Dinge zwischen uns zu klären, ehe wir weitermachen. Du bist so feinfühlig, dass du ohnehin gemerkt hättest, was mit mir los ist.«

Um die Dinge zu klären? Gar nichts war geklärt. Zwischen ihnen knisterte es, dass sie kaum noch Luft bekam. »Lieber Gott, können wir aufhören, darüber zu reden, wie geil du bist, und würdest du mir stattdessen endlich sagen, warum ich hier bin? Ich denke, das ist ein bisschen wichtiger.«

Er starrte sie erstaunt an, dann warf er den Kopf zurück und lachte. »Sorry.« Seine Augen blitzten. »Für Männer ist der Grad ihrer Geilheit das Wichtigste. Das beherrscht unser Leben.« Er schaute wieder auf die Straße. »Ich bemühe mich von jetzt an, dich nicht mehr mit diesem Thema zu langweilen. Gleich da vorn ist ein Restaurant. Ich denke, wir könnten dort haltmachen und etwas essen, was meinst du? Harley war sehr besorgt, weil du so wenig gegessen hast. Bestimmt fragt er mich danach, wenn er mir telefonisch Bericht erstattet.«

Er hatte seine sexy Ausstrahlung heruntergeschraubt, als wäre sie eine Lampe, die zu hell gestrahlt hatte. Sie war immer noch da, aber Megan gelang es, sie zu ignorieren. »Ich könnte etwas zu essen vertragen. Auf dem Flug nach Stockholm war ich zu aufgeregt.«

»Ich weiß.« Er fuhr von der Straße ab und hielt vor Le Petit Chat, einem langgestreckten, niedrigen Fachwerkhaus mit Butzenscheiben. »Deshalb hab ich dir Harley mitgeschickt – auf diese Weise musstest du dich nicht mit mir abgeben.«

»Ich schätze, das war eine Schlussfolgerung.« Unvermittelt drehte sie sich zu ihm. »Es war doch nichts anderes, oder? Wie viel ist normales Einfühlungsvermögen und wie viel nicht?«

»Du willst wissen, ob ich deine Gedanken lesen kann? Nein. Ob ich außergewöhnlich sensitiv bin, wenn es um deine Empfindungen geht? Absolut. Du hast instinktiv gelernt, wie du meine Kontrolle ausschalten kannst, aber dieses Feingefühl bleibt.« Er stieg aus und ging auf ihre Seite, um ihr die Beifahrertür aufzuhalten. »Doch selbst wenn es diese Verbindung nicht gäbe, hätte ich gewusst, dass du eine Erholungspause von mir brauchtest. Es ist einfach ein gutes Gespür.«

»Ist das die Wahrheit?«

»Es ist die Wahrheit. Ich mag dir hin und wieder etwas verschweigen, aber so dumm, dich anzulügen, bin ich nicht.« Er lächelte. »Weil du, was mich betrifft, auch außergewöhnlich sensitiv bist. Das beruht auf Gegenseitigkeit.«

»Wegen der Verbindung? Ich brauche dich nicht mehr, um die Stimmen auszublenden. Kannst du die Verbindung nicht einfach abbrechen?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung, wie so was geht. Ich habe noch nie mit jemand anderem eine solche Verbindung aufgebaut. Deshalb wollte ich es damals in der Höhle auch nicht tun, aber ich hatte keine Wahl.« Er half ihr beim Aussteigen. »Vielleicht hängen wir für den Rest unseres Lebens aneinander.«

»Das werde ich nicht einfach so hinnehmen.«

»Wieso nicht? Du hast mich in den letzten zwölf Jahren nicht bemerkt.«

Dafür drängte er sich jetzt umso mehr in ihr Bewusstsein. Sie konnte das Mentale nicht mehr vom Körperlichen, die Vergangenheit nicht von der Gegenwart unterscheiden, aber zwischen ihnen bestand definitiv ein beunruhigendes Band. »Ich mag keine Spanner. Selbst wenn du meine Gedanken nicht lesen kannst, gefällt es mir gar nicht, wenn du weißt, was ich fühle. Meine Emotionen sind genauso privat wie meine Gedanken.«

»Ich bemühe mich, daran zu denken.« Er öffnete die Tür zum Restaurant. »Jetzt kannst du dein Französisch trainieren, indem du die Speisekarte liest und dem Kellner zuhörst, wenn er die Spezialität des Tages anpreist.«

 

Die Spezialität des Tages war ein vorzüglicher, typisch französisch zubereiteter Lachs.

»Ein Dessert?«, fragte Grady, als Megan den letzten Bissen hinuntergeschluckt hatte und sich zurücklehnte. »Harley würde das sicherlich gutheißen.« Er grinste. »Auch wenn du wahrscheinlich keinen Nachtisch mehr brauchst. Du hast reingehauen wie ein Fernfahrer.«

»Es war gut. Und ich hatte Hunger.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber ich möchte kein Dessert. Vielleicht einen Kaffee.«

Grady winkte den Kellner heran. »Café, s’il vous plaît.«

»Übrigens, ich konnte den Kellner verstehen«, sagte Megan. »Aber weshalb ist das so wichtig? Du sprichst fließend französisch. Du hast die Bestellung heruntergerasselt, als wärst du hier geboren und aufgewachsen.«

»Ich weiß nicht genau, wie Lauscher die Stimmen hören.«

»Was?« Sie hob die Brauen. »Es gibt etwas von diesem übersinnlichen Kram, was du nicht weißt?«

»Spar dir den Sarkasmus. Lauscher sind sehr selten. Selbst Michael Travis’ Leute wissen nicht viel über sie. Und«, fügte er hinzu, »es gibt jede Menge Dinge, die ich nicht weiß.«

»Zum Beispiel?«

»Wenn die Stimmen Französisch, Deutsch oder Italienisch sind, sind dann die Echos, die der Lauscher hört, auch in diesen Sprachen? Oder sind die Echos so etwas wie eine emotionale Übermittlung, die in die Sprache übersetzt ist, die der Lauscher versteht?«

»Lieber Himmel!« Sie runzelte die Stirn. »Soll ich diesen verdammten Stimmen jetzt nicht nur zuhören, sondern sie auch noch übersetzen?«

»Das werden wir wissen, wenn du versuchst, dir Zugang zu ihnen zu verschaffen.« Er schwieg, solange der Kellner den Kaffee servierte. »Wie auch immer, du musst es probieren.«

»Ich muss gar nichts. Es ist ganz allein meine Entscheidung.« Sie hob ihre Tasse an die Lippen. »Wir haben eine Abmachung. Wenn es mir hilft, Molino zur Strecke zu bringen, dann versuche ich es.«

»Es wird dir helfen.«

»Und wen soll ich hören?«

»Edmund Gillem.«

»Ist er … tot?«

»Ja, er hat vor sechs Wochen angeblich Selbstmord begangen.«

»Angeblich?«

»Er ist tot. Möglicherweise war es Selbstmord. Aber ich muss mehr über die Umstände erfahren.«

»Weshalb?«

»Ich bin auf der Suche nach einer Chronik und glaube, Gillem wusste, wo sie ist.«

»Und du denkst, ich könnte das herausfinden?«

»Es besteht durchaus die Möglichkeit.« Er machte eine Pause. »Sonst würde ich dir das alles nicht zumuten. Es wird hässlich werden.«

»Du warnst mich?«

»Ja. Nur weil ich unbedingt will, dass du das machst, heißt das noch lange nicht, dass ich dich blind da hineinschicke. Mach dich auf etwas gefasst, Megan.«

Sie schaute in ihre Kaffeetasse. »Diese Chronik muss eine große Bedeutung für dich haben.«

»Sie ist für relativ viele Menschen wichtig. Soll ich dir mehr darüber erzählen?«

Sie überlegte, dann schüttelte sie vehement den Kopf. »Mir ist lieber, ich weiß nichts darüber. Ich möchte in das, was du machst, nicht involviert werden. Am besten finde ich so schnell wie möglich heraus, was du wissen willst, und konzentriere mich dann auf Molino.«

»Ah, verstehe. Du willst dich abseitshalten, bis du töten kannst?«

Sie zuckte zusammen. »Wenn du es so ausdrücken willst.«

»So ist es doch.« Er hob die Schultern. »Und ich kann es dir nicht übelnehmen. Du schwankst noch immer auf der Treibsanddüne und versuchst, dich auf den Beinen zu halten. Es ist ganz natürlich, dass du dich schützt, so gut du kannst.« Er machte dem Kellner ein Zeichen. »Bist du bereit zu gehen? Das Motel ist gute dreißig Kilometer weit weg, und es macht einen einigermaßen komfortablen Eindruck. Jedenfalls übernachten wir nur einmal dort. Vorausgesetzt, Harley macht seinen Job, und wir bekommen dich unbehelligt in den Bungalow.«

»Wer sollte mir etwas tun?«

»Ich gehe einfach gern auf Nummer sicher. Es besteht die Möglichkeit, dass Molino das Motel ausfindig gemacht oder jemanden angeheuert hat, der uns beobachtet.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass er eine Lauscherin erwartet. Das ist zu verrückt.«

»Nein, er hat auch mich erwartet. Aber es ist mir gelungen, mich nach Rom und wieder herauszuschmuggeln, ohne dass er erfahren hat, dass ich auf dem Platz war.«

»Was für einem Platz? Wohin gehen wir?«

Er warf Geldscheine auf das Tablett des Kellners und erhob sich. »Zum Zirkus.«