KAPITEL 19

R

enata kam aus dem Wäldchen, um Megan und Grady entgegenzugehen. »Was ist da oben mit Molino passiert?«

Megans Schritte verlangsamten sich nicht. »Du solltest gar nicht hier sein, Renata.«

»Ich musste sicherstellen, dass du …«

»Finde einfach Molinos Versteck.« Megan ging an ihr vorbei zu dem Auto.

Renata spürte Megans inneren Aufruhr, während sie ihr nachsah. »So hab ich sie noch nie erlebt. Was hat er mit ihr gemacht, Grady? Was ist vorgefallen?«

»Molino hat sie überrumpelt. Ihm genügte es nicht, Phillip in seiner Gewalt zu haben. Er hat den kleinen Davy Rogan entführt. Das ist ihr schlimmster Alptraum.«

»Ein kleiner Junge …« Sie sah das rosafarbene Kleidchen vor sich, mit dem sie in den letzten Stunden gelebt hatte. »Jetzt verstehe ich. Sie hat mir in der ersten Nacht, in der wir uns kennenlernten, von Davy erzählt. Sie liebt den Jungen, Grady.«

»Ja. Und Molino hat es ihr überlassen, den Eltern die Nachricht zu übermitteln.«

»Ungeheuer. Und was hat sie vor?«

»Sie hat eine Abmachung mit Molino geschlossen, wenn er Phillip und Davy freigibt, geht sie mit ihm.«

Das überraschte Renata nicht. »Wann?«

»Morgen Nachmittag auf dem Feld nördlich des Hügels.«

»Können Sie ihr das ausreden?«

»Was meinen Sie?«, fragte Grady zurück. »Sie kennen sie inzwischen. Es liegt in ihrer Natur. Sie kann nicht anders. Ihr ist egal, wie schlecht die Chancen gegen sie stehen. Sie wird nicht zulassen, dass Molino den beiden etwas antut.«

Ja, ich kenne Megan, dachte Renata. Sie hatte dieses Wissen sogar genutzt, um Megan in die Richtung zu schubsen, in der sie sie haben wollte. Vom ersten Moment an hatte sich Renata von der Wärme angezogen gefühlt, die Megan ausstrahlte. Sie hatte versucht, dagegen anzukämpfen, weil sie wusste, dass Zuneigung verletzlich machte. Hatte sie das nicht gelernt, als Edmund umgebracht worden war? Trotzdem war sie wieder an dem Punkt – wieder spürte sie all die Sorgen und Emotionen, die klare Gedanken und effiziente Aktionen unmöglich machten. Ignoriere es. Überleg, was zu tun ist, was Mark machen würde. »Möchten Sie, dass ich ihr eine Dosis Methohexital gebe? Das würde sie für eine Weile ausschalten und uns Zeit geben, bis wir …« Sie sah, dass er den Kopf schüttelte. »Nein?«

»Eine sehr kühle, wirksame Lösung. Genau das, was ich von Ihnen erwartet hatte. Aber Phillip wäre dann immer noch nicht außer Gefahr, und wenn sie aufwacht, würde sie uns beiden die Hölle heißmachen. Sie hat kein Verständnis für kühle und wirksame Entscheidungen.«

»Dann hat sie recht. Ich muss Molino einfach finden. Und ich mache mich besser gleich auf die Suche. Ich habe mich heute im Süden umgesehen und ein paar Schwingungen aufgefangen, als ich auf Murfreesboro zufuhr. Dann sind sie verschwunden. Ich war nicht sicher, ob meine Konzentration nachgelassen hat oder ob ich auf dem falschen Weg war. Aber dann wurde es Zeit, nach Redwing zu kommen, für den Fall, dass Megan mich braucht.«

»Das Einzige, was sie jetzt von Ihnen braucht, ist, dass Sie Molinos Aufenthaltsort herausfinden. Sie hat mich. Sie hat Harley. Sie sollten inzwischen gemerkt haben, dass wir auf sie aufpassen.«

»Ich wusste nicht, ob ich Ihnen trauen kann. Ich weiß nur, dass Sie mir trauen können.« Sie ging zu ihrem Wagen. »Ich rufe Sie an, sobald ich Molino aufgestöbert habe. Sie und Ihre Freunde von der CIA sollten sich besser bereit machen.«

Sie stieg ein und starrte in die Dunkelheit. Sie hatte »sobald« gesagt, nicht »wenn«. Dennoch war sie heute nicht imstande gewesen, sich zu konzentrieren und der Spur zu folgen.

Weil sie Angst vor dem Schmerz gehabt hatte.

Wann immer sie das Kleid berührte, wurde sie von Kummer und Schmerz überschwemmt und innerlich schier zerrissen. Sie hatte Megan gesagt, dass sie das überwinden würde, verdammt. Sie warf einen Blick auf den kleinen Koffer auf dem Beifahrersitz. Okay, sie konnte gegen die Erinnerungen dieses kleinen Mädchens nicht ankämpfen, also musste sie sie in sich aufnehmen und eins mit ihnen werden.

Sie holte tief Luft und öffnete den Koffer. Ein Schauer überlief sie, als sie den Stoff anfasste.

Sie konnte das nicht.

Verdammt noch mal.

Ihre Finger krallten sich in den Stoff, und augenblicklich wurde sie mit Empfindungen überflutet. Angst, Verwirrung und Schmerz von dem kleinen Mädchen. Bösartigkeit, Frohlocken und perverses Vergnügen von Molino. Es war zu viel – viel zu viel.

»So ein hübsches kleines Mädchen.« Molino saß auf einem Klappstuhl und starrte Adia an. »In einem hübschen rosa Kleid. Zieh es ihr aus, Kofi. Ich möchte sehen, was ich dem Kunden anbiete.«

Nein! Wehr dich. Hände auf ihr. Scham.

»Jetzt halt sie fest. Wie sie sich winden, wenn sie Angst haben. Ist das nicht interessant, Kofi?«

Grauen.

Verdammt, Renata wollte den Bastard umbringen. Sie musste das Mädchen und ihn in ihrem Geist voneinander trennen. Adias Panik und Verzweiflung waren ebenso unerträglich wie Molinos Grausamkeit.

»Hilf mir, Adia«, flüsterte sie. »Ich bin nicht bei der Sache. Er hat jetzt ein anderes Kind, und ich muss ihn ganz schnell finden. Später kümmere ich mich um dich, aber jetzt muss ich dich allein lassen.«

Aber sie konnte sich nicht von der Kleinen lösen, solange sie dieses tragische Bild vor Augen hatte. Denk an Adia, wie sie war, bevor das alles passiert ist. Glücklich, geliebt von ihren Eltern, spielend in ihrem Dorf. Doch selbst dieses Szenario weckte die Wut auf den Hurensohn, der ein Kinderglück zerstören konnte.

Versuch’s noch mal.

Sie drückte das Kleid an ihre Brust.

O lieber Gott. Übergib dich nicht. Steh das durch.

Hilf mir, Adia.

6 Uhr 30

Felsen.

Steil abfallende Felsen.

Ja.

Renatas Hände umklammerten das rosafarbene Kleid. Nach Stunden war es ihr gelungen, Verbindung zu Molino aufzunehmen. Ja, noch mehr – sie empfing auch ein Bild, eine Ansicht. Ihre Hand krallte sich in den Stoff, während sie Gas gab.

Nordwesten.

Mehr, betete sie, gib mir mehr.

Ein Haus auf einem Felsen. Zweistöckig, braunes Zedernholz und viel Glas. Sie sah Molino auf einem Pfad am Rande des Abgrundes; er überblickte das Tal tief unter sich. Auf dem Landeplatz hinter dem Haus stand ein blauweißer Helikopter. Ein Geräteschuppen befand sich etwas abseits von dem Platz. Wie war die Registriernummer des Helikopters? Verdammt, das Bild war zu verschwommen. Aber Molino sah in der Ferne glitzernden Stahl – eine Brücke, die Wasser überspannte.

Dann war die Vision weg.

Aber das Führungsseil war noch da. Folge ihm.

Nordwesten.

Renata legte Adias Kleid beiseite, um Gradys Nummer zu wählen. »Molino hat ein Haus auf einem Felsen. Im Nordwesten des Staates.«

»Wie sicher sind Sie? Wir haben nicht mehr viel Zeit vor Megans Treffen mit Molino.«

»Ich bin ganz sicher. Molino kann eine Brücke von einem Weg, der am Abgrund entlangführt, sehen.«

»Was für eine Brücke?«

»Das weiß ich nicht. Alles ist verschwommen. Stahl. Es ist nicht die Golden Gate, aber sie ist immerhin so groß, dass man sie von weitem sieht.«

»Sonst noch etwas?«

»Nein, ich habe das Bild verloren. Aber die Spur ist noch da. Ich folge ihr.«

»Wo sind Sie?«

»Die letzte Stadt, durch die ich kam, war Pulaski.«

»Ich schicke Harley in einem Hubschrauber zu Ihnen.«

»Ich brauche Harley nicht.«

»Wenn Sie das Gebiet eingrenzen können, sieht er vielleicht die Brücke von der Luft aus und findet das Haus.«

»Möglich.«

»Mittags geht Megan auf dieses verdammte Feld. Ich kann Molino nicht angreifen, solange er Phillip und den Jungen in seiner Gewalt hat, aber ich muss wissen, wohin er sie bringt.«

»Das alles ist mir bewusst. Harley könnte mir in die Quere kommen.«

»Das riskiere ich. Er ruft Sie vom Hubschrauber aus an.«

Renata legte auf. Sie wollte Harley nicht hier haben. Sie brauchte niemanden, der sie so schwach und zittrig sah. Sie nahm das Kleid wieder und drückte es mit der Hand ans Lenkrad, wie sie es die vergangenen Stunden gemacht hatte. Selbst nach all der Zeit zitterte sie immer noch und litt unter den Gefühlen.

»Wir müssen das einfach hinnehmen, Adia«, flüsterte sie. »Möglicherweise kann er uns ja wirklich helfen.«

Dann blendete sie alle Gedanken aus und konzentrierte sich auf die Spur, die sie zu Molino führte.

Nordwesten.

 

»Renata hat gerade angerufen«, sagte Grady, als er ins Wohnzimmer kam. »Sie glaubt zu wissen, wo Molinos Versteck ist.«

Megan, die auf der Couch saß, richtete sich auf. »Gott sei Dank.«

»Und sie empfängt ein Bild. Es ist im Nordwesten in der Nähe einer Brücke. Ich rufe Harley an.«

»Gut. Ich fühle mich besser, wenn er bei ihr ist, falls sie Molino wirklich näher kommt. Sie mag es ein wenig zu sehr, die Dinge allein zu erledigen.«

»Aber sie macht ihre Sache gut.«

»Du verteidigst sie?« Sie brachte ein schwaches Lächeln zustande. »Was für eine Überraschung.«

»Das sollte es nicht sein. Sie hat bewiesen, dass sie auf deiner Seite ist. Mehr Qualifikation brauche ich zurzeit nicht. Wäre sie eine Hexe, würde ich ihr helfen, die Augen von Molchen für ihr Gebräu zu sammeln, wenn ich sicher sein könnte, dass sie Molino finden kann.«

»Eine Hexe«, wiederholte Megan. »Ich nehme an, in der Vergangenheit hätte man sie für eine Hexe gehalten. Es ist so unfair.«

»Heute ist das nicht anders.« Er tippte eine Nummer in sein Handy. »Aber jetzt muss ich Harley erreichen, damit er unserer Hexe helfen kann.«

Megan stand auf und ging in die Küche. »Ich koche uns einen Kaffee.«

»Geh schlafen, Megan«, sagte Grady leise, als sie eine Viertelstunde später mit zwei dampfenden Tassen zurückkam. »Du sitzt wie eine starre Statue auf diesem Sofa, seit wir vom Friedhof zurück sind. Du wirst vielleicht nicht schlafen, aber du kannst dich wenigstens ein bisschen hinlegen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Scott ruft mich an, nachdem er mit der Polizei gesprochen hat.« Sie schluckte. »Ich habe ihn gebeten, der Polizei zu sagen, dass sie sich mit Venable kurzschließen sollen. Ich hab versucht, ihm zu erklären, dass es keinen Sinn hat, die Polizei einzuschalten, dass ich Davy zurückhole, aber er wollte nicht auf mich hören. Wahrscheinlich würde ich das an seiner Stelle auch nicht. Er klang, als würde er mich hassen.«

»Er ist dein Freund. Er wird das überwinden, sobald sein Junge wohlbehalten zu Hause ist.«

»Wirklich? Welche Freundin würde einen kleinen Jungen in eine solche Gefahr bringen? Ihm ist alles gleichgültig – er will nur Davy zurück.«

»Hast du ihm von Molino erzählt?«

Sie verneinte. »Ich hab ihm verschwiegen, was für ein Monster er ist, und hoffe, dass die Polizei es ihm auch nicht sagt. Das brauchen sie nicht zu wissen. Sie gehen ohnehin schon durch die Hölle. Es genügt, dass ich es weiß. Er ist so ein lieber kleiner Junge, Grady.« Sie warf einen Blick auf das Foto, das sie in der Hand hielt. Es war ein Schnappschuss von Davy auf seinem neuen Fahrrad. Nicht derselbe, den ihr Scott gemailt hatte. Davys hinreißendes Gesicht auf diesem Foto wirkte konzentriert. »Sie müssen ihn lange beobachtet haben.«

»Wahrscheinlich, seit du mit ihm im Zoo warst. Darnell hat dich in dieser Zeit observiert. Da Davy nicht mit dir verwandt ist, hat Molino ihn vermutlich für nicht besonders wichtig gehalten. Er hat ihn nur entführt, weil er dachte, dass Phillip kein ausreichender Köder für dich ist.«

»Ein Doppelschlag. Er hat einen Weg gefunden …«

Ihr Handy klingelte. Scott. Sie drückte eilends auf die Taste. »Habt ihr mit der Polizei gesprochen?«

»Die Mistkerle halten uns hin«, antwortete Scott schroff. »Nachdem sie mit Venable gesprochen hatten, haben sie nicht mal den Versuch unternommen, Davy zu suchen. Sie sagten, es wäre nicht gut, den Schlamm aufzurühren. Mein Gott, Davy ist allein mit den Hurensöhnen, und kein Mensch unternimmt etwas.«

»Wir unternehmen etwas, Scott. Ich lasse nicht zu, dass ihm etwas zustößt.«

»Das will ich dir geraten haben. Wir sind befreundet, aber das alles ist nur passiert, weil du dich mit diesem Abschaum eingelassen hast. Jetzt hol mir meinen Sohn zurück.«

»Tut mir so leid, Scott«, flüsterte sie.

»Das genügt nicht. Jana ist hysterisch und musste sediert werden. Ich bin ein Nervenbündel, und mein Sohn kann morgen schon tot sein. Sieh zu, dass du das in Ordnung bringst.« Damit legte er auf.

Megan sah Grady an. »Venable hat die Polizei zurückgepfiffen. Scott kann das nicht verstehen.« Sie legte das Handy auf den Tisch. »Er weiß nur, dass ich schuld an allem bin, und fordert, dass ich ihm Davy wiederbringe.« Und bebend fügte sie hinzu: »Er hat recht. Vielleicht haben wir uns alle geirrt, was diese Pandora-Sache betrifft. Vielleicht ist es mein ›Talent‹, allen Menschen in meiner Umgebung weh zu tun und Unglück zu bringen.«

»Halt den Mund«, herrschte Grady sie an. »Molino hat das getan, nicht du. Und jetzt hör auf mit diesem Selbstmitleid.«

Sie hob erschrocken den Kopf. »Ich tue mir nicht leid. Ich bin nur …«

»Gut. Denn ich halte das nicht mehr aus. Jedes Wort, das du von dir gibst, ist für mich wie ein Dolchstoß.«

Sie lächelte matt. »Dann solltest du vielleicht aufhören mit dem Selbstmitleid.«

»Ich arbeite daran. Aber ich würde mich besser fühlen, wenn du zuließest, dass ich dich berühre.« Er setzte sich neben sie. »Okay?«

Sie würde sich auch besser fühlen. Der erste Schock war vergangen, doch der Schmerz war geblieben. »Okay.« Sie schmiegte sich an ihn und ließ die Wärme und das Zusammengehörigkeitsgefühl auf sich wirken. »Ich habe sie tief verletzt, Grady«, flüsterte sie. »Jetzt begreife ich beinahe, warum Renata niemanden an sich heranlässt. Ich möchte nie wieder jemandem so weh tun.«

»Du bist nicht wie Renata. Du kannst dich nicht so abkapseln.« Er strich ihr übers Haar. »Du musst damit leben. Dies wird nicht bis in alle Ewigkeit andauern. Alles wird wieder gut. Wir sorgen dafür.«

»Ich wünschte, ich wäre bei Renata. Ich habe Angst um sie, Grady.«

»Verdammt, hör auf, um alle Angst zu haben außer um dich selbst.« Und grob fügte er hinzu: »Renata lässt sich nicht einfach von jemandem überwältigen, zusammenschlagen und verstümmeln.«

Nach seinen Zärtlichkeiten war sie schockiert von seiner schonungslosen Offenheit. Sie versuchte, sich ihm zu entziehen, aber er hielt sie fest. »Ich will das nicht hören, Grady.«

»Nein, aber es ist gut, es auszusprechen.« Er legte die Wange an ihre Schläfe. »Ich hasse es. Du hast kein Recht, mir dieses Gefühl zu geben und anschließend loszuziehen und deinen verdammten Hals zu riskieren.«

»Lass mich los.«

»In einer Minute.« Er drückte sie an sich, aber es dauerte keine Minute, ehe er sie losließ und aufstand. »Ich rufe Venable an und sag ihm, dass er ein paar seiner Leute nach Nashville schicken soll, für den Fall, dass wir Verstärkung brauchen. Falls Renata sich nicht irrt, dürfte das eine gute Ausgangsbasis sein.« Er ging zur Tür. »Dir wird nichts zustoßen, Megan. Wenn Molino dir auch nur einen Fingernagel abbricht oder ein Haar krümmt, finde ich Mittel und Wege, ihn in die Hölle zu schicken und ihm schlimmere Schmerzen zuzufügen, als du es dir vorstellen kannst. Er bildet sich ein, die Freaks vernichten zu müssen? Warte, bis er sieht, was dieser Freak ihm antun kann.«

Er schlug die Tür hinter sich zu.

Seine Heftigkeit jagte Megan einen Schauer über den Rücken. Sie hatte immer die unterschwellige Gewalttätigkeit gespürt, aber auf so einen Ausbruch war sie nicht gefasst gewesen.

Plötzlich erinnerte sie sich daran, was er gesagt hatte, als er die Chronik für sich beansprucht hatte, weil er fürchtete, was passieren könnte, wenn Molino ein Mitglied der Familie Devanez in die Enge treiben würde.

Grady fühlte sich jetzt in die Enge getrieben, und sie konnte nichts dagegen tun. Bald würde sie alle Hände voll mit Molino zu tun haben.

7 Uhr 40

»Ich habe eine topographische und eine Navigationskarte von der Gegend mitgebracht.« Harley legte die Karten zwischen sich und Renata. »Schalten Sie die Innenleuchte ein.«

Sie gehorchte. »Wir verschwenden unsere Zeit. Ich muss zurück auf die Straße.« Sie hatte Harley von einem kleinen Flugplatz in der Nähe von Kingsport, Tennessee, abgeholt. Sie hatte zwar keinen Umweg deswegen machen müssen, trotzdem spürte sie, wie die Panik wuchs. Jede Minute war im Augenblick Gold wert. »Können Sie das nicht allein machen?«

»Da Sie die Brücke als groß beschrieben haben, bin ich fast sicher, dass sie über den Mississippi führt.« Er malte Kreise um zwei Brücken. »Und diese beiden Brücken sind von dem hügeligen Gelände auf der Tennessee-Seite aus zu sehen. Sie sagten, Molinos Haus steht auf einem Felsen, richtig?«

Sie nickte.

»Wie weit ist es etwa vom Fluss entfernt?«

»Keine Ahnung.« Sie dachte nach. »Fünfzehn, vielleicht zwanzig Meilen.«

»Schaute Molino nach Norden oder Süden?«

Sie schloss für einen kurzen Moment die Augen. »Nach Süden.«

»Die Brücken sind ungefähr sechzig Meilen voneinander entfernt. Wir dürfen uns keinen Fehler erlauben. Das könnte sich verheerend für Megan auswirken. Sehen Sie sich die Karte an. Löst das irgendetwas aus?«

Verärgert schüttelte sie den Kopf. »Um Himmels willen, ich kann nicht auf eine Karte schauen und erwarten, dass sie mir Geheimnisse verrät wie ein Buchstabenbrett. So funktioniert das nicht.«

»Woher soll ich das wissen? Megan hat mir etwas von Verbindung, Spuren und Führungsseil erzählt, aber für mich sind das alles böhmische Dörfer. Ich muss zugeben, dass ich außergewöhnlich tolerant bin und vernünftig versuche, mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Ich vertraue meinen Karten mehr als Ihrem ›Führungsseil‹.«

»Tolerant?«, wiederholte sie. »Sie tolerieren mich?«

»Nein.« Er grinste. »Aber der Gedanke hat Sie so wütend gemacht, dass Sie dieses kleine Kleid losgelassen haben. Ich dachte, Sie brauchen ein bisschen Ablenkung.«

»Sie haben keinen Schimmer, was ich brauche und was nicht.« Aber er hatte es gut gemeint, und vielleicht war es ja tatsächlich besser, wenn sie einen kurzen Moment an etwas anderes dachte. Sie warf einen Blick auf die Karte. »Beide Brücken befinden sich in dem Bereich, zu dem ich geführt wurde. Aber welche ist die richtige?«

»Da ich keine mystische Hilfe von Ihnen bekomme, muss ich beide Brücken überfliegen und mir das Gelände selbst ansehen.« Er faltete die Karte zusammen. »Ich lasse Sie wieder auf die Straße und rufe Sie an, um Ihnen die Gegend um diese Brücken zu beschreiben. Oder wollen Sie mit mir in den Helikopter steigen?«

Sie lehnte ab. »Beim Fliegen spüre ich die Verbindung nicht so stark wie auf dem Boden.«

»Wie Sie wollen.« Er nahm das Kleid und hielt es einen Augenblick fest, bevor er es ihr überreichte. »Der Gedanke daran macht mich sehr, sehr wütend.« Er schlug die Autotür zu und ging zurück zu dem Hubschrauber.

10 Uhr 50

»Sind Sie bereit?«, fragte Molino, als Megan den Anruf entgegennahm. »Ich bin es und kann es kaum erwarten, Sie zu treffen.«

»Und Sie bringen Phillip und Davy mit?«

»Das hab ich Ihnen doch gesagt.«

»Wie geht es ihnen? Haben Sie ihnen etwas angetan?«

»Das können Sie sich selbst ansehen. Ich weiß«, fügte er hinzu, »dass Grady und seine CIA-Freunde in der Nähe herumlungern, und ich lege die Regeln fest. Nachdem der Helikopter mit Phillip und dem Jungen abgehoben hat, bleiben Sie auf dem Feld, bis meine Maschine Sie abholt. Verlieren Sie nicht die Geduld – es wird ein paar Minuten dauern. Falls jemand verhindern sollte, dass Sie mit mir kommen, werde ich den Befehl geben, den Hubschrauber mit Ihrem Freund Phillip und dem Kind abzuschießen. Und sollte Ihnen jemand folgen, nachdem Sie an Bord gegangen sind, werden sie beobachten können, wie Sie aus mehreren Hundert Metern auf die Erde fallen. Da Sie keins von den irren Talenten Ihrer Mutter geerbt zu haben scheinen, bezweifle ich, dass Sie fliegen können.«

»Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Haben Sie ihnen etwas angetan?«

Doch er hatte die Verbindung bereits unterbrochen.

11 Uhr 35

Renata registrierte voller Entsetzen, dass sie das Führungsseil verloren hatte.

In der einen Minute war es stark und straff gewesen, in der nächsten spürte sie gar nichts mehr.

Bitte, nicht jetzt. Sie hatte gedacht, dass sie dem Ziel ganz nahe war.

Ihre Hand zitterte, als sie Harleys Nummer in das Telefon tippte. »Es ist weg. Das Führungsseil ist nicht mehr da.«

»Beruhigen Sie sich«, sagte Harley beschwichtigend. »Ich weiß, dass es für Sie schlimm sein muss, aber ich begreife es nicht.«

»Verdammt, ich habe ihn gefühlt. Es wurde stärker und stärker, und dann habe ich ihn verloren.«

»Dann lassen Sie uns nachdenken.« Er schwieg eine Weile. »Wie spät ist es?« Er antwortete selbst: »Viertel vor zwölf, Renata. Er soll Megan um Mittag treffen. Wenn er abhebt und nach Süden in Richtung Redwing fliegt, würden Sie dann die Verbindung zu ihm verlieren?«

»Mist.« Sie kam sich idiotisch vor. »Ja. Ich habe mich auf ihn in dieser Gegend konzentriert. Es ist so, als hätte mir jemand den Teppich unter den Füßen weggezogen. Wieso bin ich nicht drauf gekommen?«

»Ich habe gehört, dass Genies manchmal Schwierigkeiten haben, sich die Turnschuhe zuzubinden.«

»Was soll das heißen?«

»Worte des Trostes? Sehen Sie zu, dass Sie Ihr Führungsseil zu fassen bekommen, und rufen Sie mich wieder an. Ich bin über der ersten Brücke und möchte etwas tiefer gehen.« Er beendete das Gespräch.

Renata schloss die Augen und legte die Hände auf das Kleid.

Wo bist du, Mistkerl?

Nichts.

Nein, da war ein schwaches Ziehen – federleicht in Richtung Osten.

Sie wartete einen Moment, aber das Ziehen wurde mit jeder Sekunde schwächer.

Sie rief Harley an. »Er fliegt nach Südosten.«

»Redwing«, sagte Harley. »Er will Megan abholen.«

»Wie lange haben wir Zeit, bis er sie herbringt?«

»Zwei Stunden Maximum, würde ich sagen.«

Zwei Stunden.

Wieder keimte Panik auf. Verdammt, was war nur los mit ihr? Sie hatte gelernt, immer ruhig zu bleiben und einen kühlen Kopf zu bewahren.

Die Antwort war nicht schwer zu finden. Diese Sache bedeutete ihr zu viel. Jetzt verstand sie, warum Mark sie immer davor gewarnt hatte, sich emotional auf etwas einzulassen.

Nun, jetzt war es zu spät. Sie hatte Gefühle entwickelt.

»Ich habe keine Spur mehr«, sagte sie. »Ich werde versuchen, den Platz nach Ihrer Beschreibung zu identifizieren. Wir müssen Molinos Versteck schnell finden, bevor er zurückkommt. Grady wird einen Mann im Haus postieren wollen. Zur Hölle, Megan braucht jede Hilfe, die sie kriegen kann. Sind Sie über der Brücke?«

»Ein Stück östlich davon.«

»Was sehen Sie? Irgendwelche Felsen?«

»Noch nicht. Ich fliege noch einmal …«

 

Mein Gott, ich fühle mich entsetzlich allein, dachte Megan, als sie die Augen abschirmte und in den Himmel schaute. Das Feld war flach und unbebaut, und sie hörte nur den Wind in den umstehenden Bäumen.

Sie war nicht wirklich allein. Grady stand mit ein paar von Venables Männern zusammen, die vor wenigen Stunden eingetroffen waren, irgendwo zwischen den Bäumen. Das sollte ihre Angst besänftigen, aber so war es nicht. Erst als sie aus dem Auto gestiegen war, hatte sie bemerkt, wie feige sie sein konnte.

Es spielte keine Rolle, wie sie sich fühlte, solange sie nicht davonlief. Das sollte sie sich aufheben, bis Phillip und Davy in Sicherheit waren. Sie wünschte nur, es wäre endlich alles vorbei, und die beiden würden nach Bellehaven fliegen, wo Davy von Jana und Scott erwartet wurde.

Wo blieb Molino? Er hatte von einem Hubschrauber gesprochen, aber da war …

Ein Motorengeräusch erhob sich von dem Wald am Straßenrand.

Megan drehte sich um und sah einen Krankenwagen, der über das Feld auf sie zuholperte.

Der Fahrer bremste ab und sprang aus dem Wagen. »Hi, kleine Lady. Ich habe ein Paket für Sie.« Er war jung, gutaussehend und trug ein Sweatshirt und Jeans. »Nicht, dass es noch viel wert ist. Man möchte meinen, Sie hätten ihn abgeschrieben.« Er lief zum Heck und öffnete die Tür. »Mit besten Grüßen von Molino.« Er rollte die Trage heraus. »Und meinen natürlich auch.«

»Sie sind Darnell«, sagte sie bedächtig. »Sie sind der Mann, der auf Phillip geschossen hat.«

»Ich werde nicht mehr lange Darnell sein. Molino hat mir eine neue Identität und einen Job im Ausland versprochen, wenn ich Ihnen diesen alten Burschen übergebe. Mir wird der Boden hier ein bisschen zu heiß. Das ist nicht meine Schuld.« Er befestigte die Versorgungsschläuche und schob die Trage zu Megan. »Ich hab alles richtig gemacht.«

»Töten. Verletzen. O ja, Sie haben alles richtig gemacht. Wo ist Davy?«

»Oh, das Kind?«

Ihr Herz klopfte so sehr, dass sie kaum noch Luft bekam. »Davy sollte auch hier sein. Wo ist er?«

»Er war nicht so kooperativ wie der alte Herr. Er hat sich gewehrt.«

Hellstes Entsetzen erfasste sie. »Was haben Sie mit ihm gemacht?«

»Er hat sich aufgeführt wie ein Tier. Und ich hab ihn wie eins behandelt.« Er ging zurück zum Krankenwagen. »Kommen Sie, und holen Sie ihn.«

Sie war bereits bei ihm, als er in den Wagen kletterte. »Ist er verletzt?«

Er riss ein Tuch von einem Drahtkäfig und sprang wieder auf den Boden. »Vielleicht ein bisschen. Ich bin nicht gerade sanft mit ihm umgegangen, als ich ihn in den Hundekäfig steckte.«

Davy saß geduckt und mit angezogenen Beinen in dem kleinen Käfig. Sein Mund war mit Klebeband zugeklebt.

»Sie Bastard.« Megan sprang in den Krankenwagen und öffnete den Riegel des Käfigs. »Ist gut, Davy. Du bist in Sicherheit.« Sie half ihm aus dem Käfig und zog vorsichtig das Klebeband ab. Seine Augen waren geschwollen vom Weinen, und seine Lippe war aufgeplatzt. »Es ist gut.« Sie nahm ihn in die Arme und wiegte ihn. »Du fliegst nach Hause zu Mom und Daddy.«

Er klammerte sich an sie. »Ich hab Angst, Megan. Das sind böse Menschen.«

»Ja, das sind sie. Aber du musst nicht mehr bei ihnen bleiben.« Sie strich ihm über den Kopf. »Haben sie … dir weh getan, Davy?«

»Ja.«

»Wie?«

Davy funkelte Darnell an. »Ich hab ihn gebissen, und er hat mich geschlagen, dabei ist meine Lippe aufgeplatzt.«

»Und sonst?«

»Sie haben mich gefesselt und ins Dunkle gebracht.«

»Das ist sehr schlimm. Aber verletzt hat dich sonst niemand?«

Er schüttelte den Kopf. »Aber ich hatte schreckliche Angst.«

Sie atmete erleichtert auf. Danke, lieber Gott. »Das weiß ich.« Sie nahm seine Hand. »Aber jetzt ist es vorbei. Du wirst jetzt nach Hause gebracht.« Sie half ihm beim Aussteigen. »Willst du ein artiger Junge sein und mit mir kommen, während ich mir meinen Freund ansehe? Er ist sehr krank.«

»Er schläft«, sagte Davy. »Ich hab ihn gesehen, als sie ihn in den Krankenwagen brachten. Wann wacht er wieder auf?«

»Bald, hoffe ich.« Aber sie wusste nicht, ob Gardner die Wahrheit gesagt hatte – Phillip war so blass. Sie fühlte ihm den Puls. Langsam, aber gleichmäßig. Er roch furchtbar, aber nicht nach einer Infektion, Normalerweise konnte sie das unterscheiden, wenn …

»Er lebt.« Darnell sah sie an. »Er ist ein zäher alter Kauz. Ich habe nicht geglaubt, dass er es schafft.«

»Ja, er ist stark. Stärker, als Sie jemals sein können. Sie haben die beiden abgeliefert. Warum fahren Sie nicht weg?«

»Ich soll hier warten und mit Ihnen und Molino fliegen.« Er grinste. »Und ich soll die beiden erschießen, falls Sie versuchen, mit ihnen in den Helikopter zu steigen.«

»Ich werde nicht …« Sie hob den Kopf, als sie einen Hubschrauber hörte. »Sie bleiben weg von ihnen«, herrschte sie Darnell an. Er lehnte sich an den Krankenwagen und verschränkte die Arme. »Ich fasse die beiden nicht an, solange Sie das tun, was man Ihnen gesagt hat.«

Sie nahm Phillips Hand in ihre, spürte aber keine Reaktion. Sie hatte so große Hoffnungen gehabt, als Gardner sie angerufen hatte. War der Zeitpunkt verpasst, in dem Phillip hätte zurückkommen können? Hatte er das Massaker an Gardner und der Krankenschwester vielleicht bewusst miterlebt und sich dann für immer in sich zurückgezogen? Wer weiß? Doch darüber durfte sie jetzt nicht nachdenken. Sie konnte nichts anderes tun, als sich zu vergewissern, dass er überlebt hatte.

»Nicht weinen, Megan«, flüsterte Davy.

Sie sah ihn an. »Ich weine nicht.« Sie blinzelte die Tränen weg. »Und wenn ich es tue, dann nur, weil ich so glücklich bin, dass du bei mir bist und alles gut wird.« Sie kauerte sich vor ihn. »Bald wird ein Hubschrauber hier landen, und du und mein Freund werdet an Bord gebracht. Dort, wo er wieder landet, warten deine Mom und dein Daddy auf dich.« Sie schwieg eine Weile. »Aber ich kann nicht mit dir fliegen. Du bist ja schon ein großer Junge und kannst auf meinen Freund Phillip aufpassen, oder?«

Davy warf Darnell einen Blick zu. »Ich habe gehört, was er gesagt hat. Er lässt dich nicht gehen?«

Sie wich der Frage aus. »Ich komme später nach. Versprochen. Wirst du auf Phillip achtgeben?«

Er nickte nachdenklich. »Der Mann tut dir nicht weh?«

»Niemand wird mir etwas tun.« Sie drückte den Jungen an sich. Das Dröhnen der Rotoren war jetzt direkt über ihnen. Sie flüsterte: »Ich liebe dich, Davy.«

Es dauerte fünf Minuten, bis Phillip in dem Hubschrauber untergebracht war, und Megan trat zurück und sah zu, wie die Maschine abhob.

»Was für ein Umstand«, meinte Darnell. »Es wäre viel schwerer für Molino gewesen, Sie in die Finger zu bekommen, wenn Sie nicht so dumm wären.«

»Halten Sie den Mund.«

»Molino will Ihnen Schmerzen zufügen.« Darnell grinste boshaft. »Er hat von nichts anderem gesprochen, als ich die Fracht abgeholt habe.«

Sie ignorierte den Bastard und schaute in den Himmel.

Der Hubschrauber mit Phillip und Davy war fast schon außer Sicht.

Adieu, alter Freund. Ich hoffe, es geht dir gut. Adieu, Davy.

 

»Es ist die falsche Brücke«, sagte Harley. »Hier gibt es weit und breit keinen Felsen, wie Sie ihn beschrieben haben. Sanfte Hügel. Es muss die Jefferson Parks Bridge im Norden sein.«

»Sind Sie absolut sicher?«, fragte Renata. »Wenn Sie sich irren, ist es zu spät, vor Molino dorthin zu gelangen. Ich brauche eine Dreiviertelstunde von hier bis zur Jefferson Parks Bridge.«

»Vertrauen Sie mir. Hier ist das Haus nicht.«

Sie vertraute nie jemandem außer sich selbst.

Aber dieses Mal blieb ihr wohl nichts anderes übrig.

 

Molinos blauweißer Hubschrauber landete etwa fünfzehn Minuten, nachdem Phillip und Davy abgeflogen waren, auf dem Feld.

Megan stand aufrecht und erhobenen Hauptes da, während die Maschine aufsetzte. Er darf nicht merken, wie groß meine Angst ist. Das wäre ihm eine Genugtuung.

Molino öffnete die Tür. »Welche Freude, Sie wiederzusehen. Sie sind ein wenig blasser als gestern Abend. Die Sonne ist nicht freundlich zu Ihnen.« Er lächelte. »Ich werde auch nicht freundlich zu Ihnen sein.« Er wandte sich an Darnell. »Hilf ihr an Bord. Wir müssen gleich los.«

Darnell trat vor, aber Megan riss sich von ihm los. »Ich will nicht, dass er mich berührt.« Sie stieg in den Helikopter. »Er ist so schlecht wie Sie.«

»O nein, er kann mir in nichts das Wasser reichen.« Er sah zu, wie Darnell auf den Einstieg zuging. »Er ist großspurig, selbstgefällig und macht Fehler. Sie wären längst tot, wenn er seinen Job anständig gemacht hätte.«

Darnells Gesicht lief rot an. »Es war nicht meine Schuld. Ich dachte, Sie hätten verstanden, dass …«

»Ich dulde keine Ausflüchte, Darnell.« Molino zog einen Revolver aus der Tasche. »Man muss immer für seine Fehler bezahlen.«

Er schoss Darnell in den Kopf.

Megan beobachtete entsetzt, wie Darnell fiel.

Molino machte die Tür zu. »Abheben!«

 

»Scheiße!«

Grady sah, wie Darnell zu Boden ging. Ihn scherte es keinen Deut, dass Darnell nicht mehr am Leben war, doch der Vorfall zeigte, in welcher Stimmung Molino war. Er hatte gehofft, dass der Bastard etwas besser gelaunt wäre.

Besser gelaunt? Der Hurensohn war ein sadistischer Wahnsinniger. Gradys Telefon klingelte, als er zu seinem Auto ging. Harley.

»Es ist die Jefferson Parks Bridge«, erklärte Harley. »Ich überfliege gerade das Gebiet. Ich kann ein großes zweistöckiges Haus aus Zedernholz auf einem Felsen mit Blick auf den Fluss ausmachen. Ich kann nicht allzu nahe ran, weil ich nicht gesehen werden will, aber ich glaube auf der Westseite ist ein Hubschrauber-Landeplatz. Da steht keine Maschine.«

»In vierzig Minuten wird eine landen. Molino hat Megan gerade aufgelesen. Ich treffe mich jetzt mit Venable, und wir machen uns sofort auf den Weg. Verschwinde von dort. Wo ist Renata?«

»Etwa fünfzehn Meilen weit weg.« Er hielt kurz inne. »Es gibt nur eine Straße, die zu dem Haus führt, und der Felsen fällt steil ab. Da sind ein paar Vorsprünge im oberen Teil, aber man kann nicht von unten zum Haus klettern. Oben stehen viele Bäume und Büsche, aber es wird schwer, Venable und seine Männer unbemerkt zum Haus zu bringen – es sei denn, wir warten, bis es dunkel ist.«

»Auf keinen Fall. Weißt du, was Molino Megan antun kann, während wir auf die Dunkelheit warten?«

»Ich weiß, dass es gut möglich ist, dass er sie umbringt, wenn du angreifst und er glauben muss, dass er alles verliert.«

Grady fluchte verhalten. Er wusste, dass Harley recht hatte, aber er wollte verdammt sein, wenn er nicht schnell handelte. »Warum, zum Teufel, hat Renata ihn nicht schneller gefunden? Wir haben keine Möglichkeit mehr.«

»Sie hat ihr Bestes getan. War verdammt schwierig für sie.«

»Nicht so schwierig, wie es für Megan wird. Molino hat gerade das Spiel eröffnet – er hat Darnell mit einem Kopfschuss getötet. Das sollte dir verraten, womit es Megan zu tun hat.« Der Gedanke, dass sie bei Molino war, machte ihm höllische Angst. Er hatte von vornherein gewusst, dass es ein Alptraum sein würde, und er hatte recht behalten. »Ich werde versuchen, nichts zu übereilen. Auf jeden Fall stürme ich nicht auf diesen Berg und riskiere, dass er sie sofort umbringt. Ich rufe dich an, wenn ich in der Nähe bin.« Er legte auf.

Aber wie sollte er vermeiden, Megan in Gefahr zu bringen, wenn das Haus so schwer zugänglich war, wie Harley erklärte?

Der Rest liegt in deinen Händen, hatte Megan gesagt.

In seinen Händen, seine Verantwortung, sein Job. Es war nicht viel. Er musste nur dafür sorgen, dass Megan am Leben blieb.