KAPITEL 17

M

egans Handy klingelte am späten Nachmittag. Dr. Jason Gardners Nummer war auf dem Display. Hoffnung keimte auf. Er hatte gesagt, dass er nur anrufen würde, wenn es etwas Neues gab.

O Gott, bitte lass es eine gute Nachricht sein.

»Wie geht’s Phillip?«, fragte sie sofort. »Sie dachten doch, dass eine Veränderung vor sich ginge. Zum Guten oder zum Schlechten?«

»Nicht aufregen«, warnte Gardner. »Ich kann nichts versprechen. Ich habe Ihnen erzählt, dass Ihr Onkel …«

»Hat sich sein Zustand gebessert? Spielen Sie nicht den Diplomaten, und reden Sie mit mir.«

»Ich glaube, es geht ihm besser. Zweimal hat er meine Hand gedrückt, als ich ihm eine Frage stellte, die er mit Ja oder Nein beantworten sollte.«

»Sind Sie sicher?«

»Es war ein schwacher Druck, aber ich glaube nicht, dass es ein Reflex war. Die Geräte zeigen keine Veränderung an, trotzdem könnte es ein Anfang sein.«

»Gott sei Dank.«

»Allerdings brauchen wir einen Durchbruch. Es ist, als würde er durch ein Labyrinth irren und den Ausgang nicht finden. Ich hatte schon ähnliche Fälle, doch nach ein paar Wochen ließen die Reaktionen nach. Ich darf ihn nicht wieder abgleiten lassen.«

»Was können wir tun?«

»Ich halte mich so oft bei ihm auf, wie es mir meine Arbeit erlaubt. Meine Oberschwester Madge Holloway ist die restliche Zeit bei ihm. Wir sprechen mit ihm. Stellen ihm Fragen. Aber«, fuhr er fort, »ich glaube, wir brauchen einen persönlicheren Kontakt – jemanden, den er kennt und der ihm am Herzen liegt, so dass er sich ein bisschen mehr anstrengt zurückzukommen.«

»Er braucht mich?«

»Ja, ich denke, Ihre Anwesenheit wäre … hilfreich.«

»Ich bin heute Abend noch bei Ihnen. Sind Sie dann in der Klinik, damit ich mit Ihnen sprechen kann?«

»Ich erwarte Sie. Um wie viel Uhr?«

»So gegen neun. Wir müssen hier einiges planen. Welche Zimmernummer hat er?«

»Vierzehn B am Ende des Korridors.«

»Ich werde da sein.«

»Ich erwarte Sie. Danke, Dr. Blair.«

»Nein, ich danke Ihnen.« Sie legte auf und wirbelte zu Grady herum. »Phillip erwacht vielleicht aus dem Koma.«

»Das ist wundervoll«, erwiderte er ruhig »Weniger schön ist, dass du beabsichtigst, zu ihm zu fliegen.«

»Das kannst du mir nicht ausreden. Er braucht mich.«

»Ich würde nicht im Traum daran denken, dich davon abzuhalten. Für sinnlose Unterfangen bin ich nicht zu haben. Es war lediglich eine Feststellung.«

»Besser, als hier herumzusitzen und Däumchen zu drehen. Ich habe die Möglichkeit, etwas Sinnvolles zu tun. Vielleicht kommt es auf meine Anwesenheit an, ob er aus dem Koma erwacht oder nicht.«

»Okay.« Grady stand auf. »Dann lass mich alles so arrangieren, dass es so sicher wie möglich für dich ist. Die Chance besteht, dass Molino die Klinik beobachten lässt.«

Megan nickte. »Mir ist nur wichtig, ein wenig Zeit mit Phillip verbringen zu können.«

»Kannst du das auf einen Besuch beschränken?« Er sah, wie sie die Stirn krauszog. »Wir werden sehen. Ich begleite dich in sein Zimmer. Harley und Renata können sich so lange auf dem Krankenhausgelände umsehen und sicherstellen, dass keine Gefahren drohen. Okay?«

»Es muss wohl so sein.« Sie steuerte die Treppe an. »Ich hole meine Reisetasche und den Arztkoffer. Vielleicht verbringe ich die Nacht bei Phillip. Wie Gardner sagte, irrt Phillip gerade durch ein Labyrinth. Kein Mensch kann voraussagen, wann er auf eine Lücke in der Hecke stößt.«

»Wir wollen hoffen, dass das bald passiert«, meinte Grady. »Ich drücke die Daumen.«

»Ich auch.« Sie zögerte einen Moment. »Danke, dass du mir keine Steine in den Weg legst, Grady.«

»Um Himmels willen, er ist auch mein Freund«, gab er harsch zurück. »Natürlich wäre es wünschenswert, wenn das erst in ein paar Tagen auf uns zugekommen wäre, aber es ist nun mal so, wie es ist. Wir bringen dich hin und sorgen dafür, dass dir nichts passiert.« Er ging in Richtung Küche. »Ich sage Harley und Renata Bescheid.«

 

Gardner wandte sich an Schwester Madge Holloway, nachdem er aufgelegt hatte. »Sie kommt, Madge.«

Madge lächelte. »Haben Sie daran gezweifelt? Sie sagten doch, dass sie zu denen gehört, die sich wirklich Sorgen machen.« Sie sah auf Phillip Blair herunter. »Und es kommt nicht oft vor, dass wir den Angehörigen Hoffnung machen können. Ich bete, dass wir ihn zurückbekommen. Besteht die Chance?«

»Ja.« Er kam ans Bett und nahm Phillips schlaffe Hand in seine. »Phillip? Sie sind ein guter Mensch, und Gott sollte Ihnen beistehen. Das müsste doch ein wenig Gewicht haben.«

»Und er hat Sie«, fügte Madge hinzu. »Das senkt die Waagschale noch mehr zu seinen Gunsten.«

»Sagen Sie das den fünf anderen Patienten, die sich nicht so gut entwickeln wie Phillip«, erwiderte er matt. »Aber wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben, Madge.« Er drehte sich weg. »Ist Phillips Bodyguard noch vor der Tür?«

»Jordan?« Madge nickte.

»Sagen Sie ihm, er soll ins Zimmer kommen. Ich möchte sicherstellen, dass Phillip und Megan Blair nichts passiert.«

»Sofort.« Sie stürmte hinaus.

Gardner betrachtete lange Phillips Gesicht. »Kämpfen Sie weiter, Phillip Blair. Sie werden wieder gesund, wenn Sie nicht nachlassen.« Verdammt, er hoffte, dass das der Wahrheit entsprach.

 

»Das ist nicht besonders schlau«, gab Harley zu bedenken. »Molino könnte das Telefon angezapft haben und ein Empfangskomitee schicken. Du solltest sie nicht weglassen.«

»Das weiß ich«, gab Grady ungehalten zurück. »Seit wir Phillip in Bellehaven untergebracht haben, wusste ich, dass er die Schwachstelle ist. Deshalb habe ich Megan angehalten, nie länger als drei Minuten mit der Klinik zu telefonieren, wenn sie sich nach seinem Befinden erkundigt. Immer bestand die Möglichkeit, dass sie den Anruf zurückverfolgen.«

»Und wenn Megan jetzt an Phillips Seite eilt, brauchen sie gar nichts mehr zurückzuverfolgen.«

»Wir sind nicht sicher, ob die Leitung angezapft ist.« Er hob die Hand, als Harley etwas erwidern wollte. »Okay, wir dürfen das Risiko nicht eingehen. Deshalb müssen wir uns vergewissern, dass der Weg für sie frei ist. Ruf den Bodyguard an, den du für Phillip abgestellt hast. Wie war sein Name?«

»Lee Jordan. Ein guter Mann.«

»Er soll doppelt wachsam sein. Ich werde sie in Phillips Krankenzimmer begleiten. Du und Renata sucht das Gelände nach Heckenschützen ab.« Er holte ein Führerscheinfoto von Darnell und eine Kopie des Fotos, das er Megan gegeben hatte, aus der Tasche. »Aufnahmen von Molino, Sienna und Darnell. Wie Molinos andere Handlanger aussehen, wissen wir nicht.«

»Dieser Darnell fährt einen Pick-up-Truck?«

»Ich weiß nicht, ob er ihn noch benutzt.«

»Er scheint sich für einen tollen Burschen zu halten. Männer, die Frauen schlagen, möchten gern als Machos gelten. Vielleicht liebt er das Image, das ihm ein Truck verleiht. Und wenn er nicht mehr diesen Truck fährt, dann hat er sich sicher einen anderen besorgt.«

»Keine Ahnung. Lass ihn nur nicht entwischen, wenn du ihn siehst.«

»Kannst du ihr das Ganze nicht doch noch ausreden?«

»Nein.« Grady drehte sich um. »Ich hab’s auch gar nicht versucht. Sie handelt rein emotional. Diese Seite an ihr kann ich nicht bekämpfen. Das will ich auch gar nicht, zum Teufel. Es ist ein wunderbarer Charakterzug.«

»Wenn er ihr nicht den Tod bringt.«

»Wird er nicht. Ich lasse es nicht zu.« Er ging zur Haustür. »Mach einfach deinen Job.«

Bellehaven

Auf dem Parkplatz vor dem Nebengebäude 4 standen nur wenige Autos relativ nahe am Eingang.

»Augenscheinlich ist die Besuchszeit vorbei«, sagte Grady, als er ausstieg. »Oder die Komapatienten bekommen nicht viel Besuch. Ich nehme an, es ist einfacher, sie zu vergessen, wenn die Familie weiß, dass sie gut untergebracht sind.«

»Vergiss nicht, in dieser Station liegen nur sechs Patienten. Gardner möchte sich auf jeden Einzelnen persönlich konzentrieren.« Megan ging zum Eingang. »Ich jedenfalls werde Phillip nicht vergessen.«

»Das weiß ich.« Er hielt ihr die Glastür auf. »Und deshalb sind wir hier.«

Der Korridor in dem rechteckigen Gebäude war nur schwach beleuchtet, und an dem halbrunden Schreibtisch gleich neben der Tür saß nur eine Schwester. Sie sah von ihren Papieren auf, als Megan und Grady auf sie zugingen. Sie war ein wenig füllig, Mitte dreißig. Das kleine Schild an ihrer Kitteltasche wies sie als Madge Holloway aus. Sie lächelte bedauernd. »Tut mir leid. Nach neun Uhr sind keine Besuche mehr in dieser Station erlaubt. Ich wollte gerade die Tür abschließen. Würde es Ihnen weiterhelfen, wenn ich mir den neuesten Befund über den Zustand Ihres Angehörigen ansehe?«

»Dr. Gardner hat uns angerufen«, sagte Megan. »Er hat mich gebeten, ihn im Zimmer vierzehn B zu treffen.«

»O ja.« Das Gesicht der Schwester erhellte sich. »Der Fall Phillip Blair. Ich hatte gehofft, dass ich hier bin, wenn Sie kommen. Wir freuen uns so über seine Fortschritte. Dr. Gardner gibt niemals auf. Sie haben Glück, dass er sich um Ihren Onkel kümmert.«

»Das ist mir bewusst«, erwiderte Megan. »Am Ende des Korridors?«

»Ganz recht. Viel Erfolg.«

»Danke.«

»Wart auf mich.« Grady nahm ihren Arm. »Du rennst ja förmlich.«

»Mir ist danach zumute. Ich bin aufgeregt.« Sie sah ihn an. »Und ich weiß, dass du mir raten willst, die Hoffnung nicht zu hochzuschrauben, aber spar dir das. Ich kann nicht anders.«

»Das würde mir gar nicht einfallen.« Sein Blick wechselte von einer Seite zur anderen, während sie an den Krankenzimmern vorbeikamen. »Wäre sowieso vergebene Liebesmüh. Aber ich bin Realist. Ich hebe mir die Freude für den Moment auf, in dem ich sehe, dass Phillip den ersten Schritt ins Bewusstsein gemacht hat.« Ein paar Meter vor der letzten Tür blieb er stehen. »Warte hier. Lass mich zuerst in das Zimmer.«

Megan warf einen Blick zurück auf die Schwester am Empfang und runzelte die Stirn. »Hier scheint alles okay zu sein.«

»Und hoffentlich machen Harley und Renata draußen eine ähnlich gute Erfahrung.« Grady ging zur Tür. »Aber lassen wir uns nicht vom schönen Schein täuschen. Ich habe selbst oft genug die Realität manipuliert.«

»Ja, aber Molino ist kein Kontrolleur. Und dies hier ist … was ist los?« Er schaute an ihr vorbei zum Eingang. »Warum …«

»Scheiße!« Er riss Phillips Zimmertür auf, duckte sich zur Seite und tauchte ins Zimmer ab. »Auf den Boden!«

 

Die Schwester lief geradezu aus dem Gebäude. Ihre Schritte waren zielstrebig, als sie auf den SUV, der vor der Tür stand, zuging.

Das gefiel Renata gar nicht. Die Schwester bewegte sich zu schnell, und Megan und Grady hatten das Gebäude gerade erst betreten. Mark hatte ihr eingeschärft, dass bei einer Überwachung jede Abweichung von der Normalität ein Warnzeichen ist. Natürlich handelte es sich um eine Krankenschwester, und in Kliniken gab es immer Notfälle. Renata sah sich das Auto an, in dem die Schwester vom Parkplatz fuhr.

Nein, verdammt – das war nicht richtig.

Renata griff zum Handy, während sie ihren Wagen startete und dem SUV folgte.

Sie musste Megan warnen. Und darauf bauen, dass Grady aufmerksam genug war, um Megans Leben zu schützen.

Grady zog seinen Revolver und rollte unter das Krankenbett.

Keine Schüsse.

Keine Flüche oder Rufe.

Von seiner Position aus konnte er niemanden in dem Zimmer sehen.

»Grady, verdammt. Was ist los?«

»Bleib, wo du bist, Megan. Bisher sehe ich kein Problem.«

Im angrenzenden Badezimmer?

Er kroch vorsichtig unter dem Bett hervor.

Etwas Warmes spritzte auf seine Hand.

Blut.

Er erstarrte, als er beobachtete, wie das Blut vom Bett auf seine Hand und auf die beigefarbenen Fliesen lief.

O Gott.

Nicht den Mann auf dem Bett ansehen. Noch nicht. Nicht, bevor er sicher sein konnte, dass im Bad niemand auf der Lauer lag.

 

Megan realisierte vage, dass ihr Handy klingelte. Ignoriere es. Jeder Nerv in ihrem Körper war zum Zerreißen gespannt, während sie auf die Geräusche in Phillips Zimmer lauschte.

Es war erst wenige Minuten her, seit Grady sie angewiesen hatte, auf dem Korridor zu bleiben, aber ihr kam es vor, als wäre ein Jahrhundert vergangen.

»Grady.«

Keine Antwort.

»Wenn du mich jetzt nicht in dieses Zimmer lässt, rufe ich die Polizei.«

»Du willst nicht hier hereinkommen, glaub mir. Ich komme zu dir.«

Panik befiel sie. »Wenn es kein Problem gibt, warum willst du dann nicht …« Sie sprang auf die Füße und ging langsam, vorsichtig in Phillips Zimmer.

Blut.

Die Laken auf dem Bett waren durchtränkt mit Blut, das von Gesicht und Hals des Mannes, der auf dem Bett lag, tropfte.

»Lieber Gott.« Megan wich zur Wand zurück. Ihre Knie gaben nach, und sie rutschte zu Boden. »Phillip …«

»Nein.« Grady kauerte sich neben sie. »Das dachte ich zuerst auch. Aber es ist nicht Phillip. Das ist schwer zu sagen bei diesen Gesichtsverletzungen, aber ich glaube, es ist Gardner.«

»Gardner?« Ihr Blick huschte zu Gradys Gesicht. »Tot?«

Er nickte. »Ich schätze, es ist in der letzten Stunde passiert.« Und nach einem Moment setzte er hinzu: »Und im Bad liegen noch zwei Leichen. Laut Ausweis ist die eine Jordan, der Bodyguard, den Harley angeheuert hat. Er wurde aus nächster Nähe erschossen. Offenbar wurde er überrumpelt. Die andere ist eine Frau in Schwesternuniform – vermutlich die Oberschwester Madge Holloway. Man hat ihr das Genick gebrochen.«

Madge Holloway. »Die Frau am Empfang hatte ein Schildchen mit dem Namen am Kittel.«

»Und ich habe beobachtet, wie sie aus dem Haus gerannt ist, sobald wir Phillips Zimmer erreicht hatten. Sie hat gerade lange genug gewartet, um uns in Sicherheit zu wiegen, dann hat sie sich aus dem Staub gemacht.«

Megan rieb sich die Schläfe. »Aber wo ist Phillip?«

Grady schüttelte den Kopf.

»Er muss … Wie konnten Sie ihn aus dem Gebäude schaffen?«

»Wie konnte Molino Gardner und die Schwester töten? Er wollte es so. Wenn er Gardner einige Zeit in seiner Gewalt hatte, konnte er ihn zwingen, das zu tun, was er von ihm verlangte. Es scheint, als hätten sie mit ihm gespielt, bevor sie ihm die Kehle durchgeschnitten haben.«

»Hurensöhne.« Ihre Stimme bebte vor Zorn. »Gardner war ein so guter Mensch. Er hat sich um Phillip gekümmert. Er hat sich für all seine Patienten aufgeopfert. Er wollte nichts anderes, als sie aus dem Koma …«

Wieder klingelte ihr Handy.

»Geh dran«, forderte Grady.

Sie hatte bereits auf die Taste gedrückt.

»Darnell sagt, dass jede Menge Blut geflossen ist«, sagte Molino. »Ist es nicht gut, dass Sie Ärztin und nicht zimperlich sind?«

»Sie Bastard. Was hat Ihnen Gardner getan?«

»Nichts. Er war sehr hilfsbereit, aber er wäre mich zu teuer gekommen und war mir nicht mehr von Nutzen.«

»Was?«, fragte sie entsetzt.

»Ich habe ihm eine große Summe angeboten, damit er Sie in die Klinik lockt. Sienna hat einige Zeit mit ihm verhandelt.«

»Er hätte keinen seiner Patienten verkauft.«

»Jeder hat seinen Preis. Er war ein Idealist, der daran glaubte, dass sich einer für viele opfern sollte. Man hat ihm angekündigt, dass man ihm die Spendengelder entziehen will.«

»Ich glaube Ihnen kein Wort.«

»Glauben Sie, was Sie wollen. Natürlich habe ich ihm das erzählt, was er hören wollte: Blair sei nur ein Druckmittel, und wir würden Sie nur herlocken wollen, damit wir die Chronik an uns bringen können. Er hat uns alles abgenommen, weil er so scharf auf das Geld war. Er hat es Darnell leichtgemacht und den Bodyguard ins Zimmer gerufen. So konnte Darnell ihn diskret erledigen. Dem Doktor hat Sienna weisgemacht, Jordan würde nur gefesselt und im Badezimmer zurückgelassen. Gardner sollte die Schwester wegschicken, aber Darnell war ein bisschen zu früh dran.«

Ein Mörder kam zu früh, und nur deshalb musste noch ein Mensch sein kostbares Leben lassen, dachte Megan. Ihr wurde übel. »Ist Phillip noch am Leben?«

»So sehr, wie es ein Stück Fleisch sein kann. Ich war ehrlich überrascht, dass Sie ihn nicht abgeschrieben haben, nachdem mein Freund Darnell ihn zu Gemüse gemacht hatte.«

»Er ist kein Gemüse«, stieß Megan hervor. »Und sein Zustand bessert sich.«

»Das hat Darnell mitbekommen, als er versuchte, Sie ausfindig zu machen. Ich hatte ihn gebeten, Gardners Telefon von dem Moment an, in dem Sie nach Schweden abgeflogen sind, abzuhören.«

»Stimmt es, was Gardner gesagt hat? Geht es Phillip besser?«

»O ja, und Gardner war hin- und hergerissen. Aber letzten Endes wollte er doch nicht auf das Geld verzichten, weil er sonst sein kleines Reich verloren hätte. Sienna und ich haben überlegt, ob Sie das Risiko eingehen würden. Obwohl keiner von uns beiden Ihre Gründe versteht, dachten wir, dass Sie herkommen würden, wenn Sie hören, dass Ihr Onkel Fortschritte macht. Wir wären niemals so dämlich, das versteht sich von selbst.«

»Weil Sie beide eiskalt sind.«

»Meinem Sohn gegenüber war ich nie kalt. Und auch an meinem Hass auf Sie ist nichts kalt. Er ist glühend heiß, und er frisst mich auf. Als ich hörte, dass Sie nach Bellehaven kommen würden, hätte ich Darnell und ein paar andere Männer beauftragen können, Sie zu erledigen. Aber mir ist klar geworden, dass es so nicht ablaufen sollte. Der Ausgang wäre unsicher gewesen, weil Sie Grady und Harley an Ihrer Seite haben – doch das war nicht der einzige Grund. Ich will zusehen, wenn Sie langsam sterben.« Sein Tonfall wurde immer bösartiger. »Ich möchte Sie quälen, wie ich es mit Edmund Gillem getan habe. Ich möchte das selbst übernehmen. Ich will Ihr Gesicht sehen und wissen, dass Sie leiden.«

»Das wird nicht passieren.«

»O doch. Weil ich diesen ekelhaften Zombie, an dem Sie sehr zu hängen scheinen, in meiner Gewalt habe. Natürlich wird man nicht so gut für ihn sorgen wie Dr. Gardner und seine Krankenschwestern. Es gibt kein warmes Bett. Ich stecke ihn in den Keller, dort ist es ein bisschen kalt und feucht.«

»Das könnte ihn umbringen. Sein Immunsystem ist nicht …«

»Dann holen Sie ihn.«

»Würden Sie ihn freilassen, wenn Sie mich haben?«

Grady stieß einen Fluch aus.

»Möglich. Ich habe keine Verwendung für ihn.«

Ihre Hand umklammerte den Hörer fester. »Wo?«

»Redwing, Tennessee. Ist das nicht ein hübscher Name für eine Stadt?«

»Halten Sie sich dort auf?«

»Selbstverständlich nicht. Kommen Sie zum Friedhof auf dem Hügel, dann reden wir über einen Austausch.«

»Reden? Ich bin nicht dumm, Molino.«

»Aber Sie haben eine eigenartige Einstellung, wenn es um hilflose Wesen geht. Kommen Sie morgen Abend um elf Uhr auf den Friedhof. Wenn Sie Glück haben, dann wird Phillip Blair nicht zu den Toten dort gehören.« Damit legte er auf.

»Ein Austausch?«, fragte Grady nach.

Sie nickte knapp. »Redwing, Tennessee. Ein Friedhof auf einem Hügel. Er möchte über die Bedingungen reden. Morgen Abend um elf.«

»Das ist eine Falle. Er wird Phillip nicht aus der Hand geben. Er möchte dich leiden sehen und weiß, wie es dich schmerzt, wenn er Phillip tötet.«

»Das weiß ich.« Ihr Blick wanderte zu dem blutgetränkten Bett. »Gardner war ein Judas. Molino hat ihn umgebracht, um ihn nicht bezahlen zu müssen. Jordan und die Schwester mussten sterben, nur weil sie anwesend waren.«

»Wir müssen weg von hier, Megan«, drängte Grady sanft. »Wenn die Schwestern Schichtwechsel haben, wollen wir nicht hier erwischt werden. Wir müssten zu viel erklären, und das würde uns nur aufhalten.«

Megan wollte noch nicht weg. Gardner hatte Phillip in Gefahr gebracht – das Schicksal des Arztes ließ sie kalt. Ihr war egal, wie idealistisch seine Gründe für den Verrat gewesen sein mochten. Ausnahmsweise konnte sie diesmal den Schmerz eines Mitmenschen nicht nachempfinden. Gardner hätte eine andere Möglichkeit finden können, an Spendengelder zu kommen. Aber Jordan und die Oberschwester waren auch in diesem Raum gestorben. Ihr Los unbeachtet zu lassen erschien ihr gefühllos.

»Megan.«

»Okay, okay.« Sie erhob sich und bewegte sich zur Tür. »Ich weiß, was du sagen willst. Mir gefällt es nur nicht.« Auf dem Korridor ging sie in Richtung Ausgang. Hier war alles noch so still und schwach beleuchtet wie vorhin.

Tödlich still.

Genau wie die drei Menschen, die nur wenige Stunden zuvor noch gesund und munter gewesen waren.

Sie holte ihr Handy aus der Tasche, als sie zu ihrem Wagen kamen. »Ich rufe neun eins eins an und melde einen Notfall im Nebengebäude. Ich kann das Ganze nicht einfach so belassen. In der Abteilung liegen weitere komatöse Patienten, die möglicherweise medizinische Hilfe brauchen.«

»Ruf an.« Grady startete den Motor. »Wir sind schon ein ganzes Stück weg, bis die jemanden vom Haupthaus hergeschickt haben.« Sein Telefon klingelte, und er nahm den Anruf entgegen. »Wir sind im Aufbruch, Harley. Seht zu, dass ihr, du und Renata, auch schnell wegkommt.« Er hörte einen Moment zu. »Okay, wir melden uns bei ihr.« Er unterbrach die Verbindung. »Renata ist der Schwester gefolgt, die aus dem Nebengebäude gestürmt war. Ihr kam es komisch vor, dass die Frau eine so große Eile und ihr Wagen keine Klinik-Parkscheibe im Fenster hatte. Deshalb hat sie Harley angerufen und gebeten, in Kontakt zu bleiben.«

»Hat Harley Darnell oder einen von Molinos Männern aufgespürt?«

Grady schüttelte den Kopf. »Aber er hat einen Truck gefunden, auf den die Beschreibung passt. Darnell könnte Phillip in einem Krankenwagen abtransportiert haben, um keinen unnötigen Verdacht zu erregen; deshalb musste er seinen Truck hier stehen lassen. Harley untersucht ihn gerade auf Spuren.«

»Wenn Darnell so schlau ist, wie du sagst, dann hat er keine verwertbaren Hinweise hinterlassen.«

Er zuckte mit den Schultern. »Man kann nie wissen. Wenigstens haben wir zwei Verbindungen zu Molino, die wir vorher noch nicht hatten.«

»Falls Renata diese Schwester nicht aus den Augen verliert.«

»Ich kann mir kaum vorstellen, dass sich Renata leicht abschütteln lässt«, erwiderte Grady trocken. »Ruf sie an.«

»Danach.« Sie wählte 911. »Zuerst die Patienten.«

Er nickte. »Unbedingt – zuerst die Patienten.«

 

Renatas Mobiltelefon schaltete sofort zur Mailbox. Megan versuchte es noch drei weitere Male – ohne Erfolg. »Sie hat ihr Handy ausgeschaltet.« Megan biss sich auf die Lippe. »Oder ein anderer hat es für sie getan.«

»Die Schwester?«

»Wenn sie für Molino arbeitet, könnte sie genauso skrupellos sein wie er. Sonst würde sie nicht danebenstehen und zusehen, wie drei Menschen abgeschlachtet werden!«

»Ich glaube nicht, dass sie Renata ausschalten konnte. Nach allem, was Harley erzählt, hat Renata außergewöhnliche Fähigkeiten.«

Megan wählte wieder. »Renata ist verwundet und weiß nicht mit Gewissheit, dass die Schwester … Sie nimmt ab. Gott sei Dank. Bis du okay, Renata?«

»Mir geht’s prima«, antwortete Renata. »Ich war nur ein bisschen beschäftigt. War es eine Falle?«

»Ja. Dr. Gardner, die Oberschwester Madge Holloway und Jordan, der Leibwächter, sind ermordet worden. Phillip ist weg. Molino hat ihn. Die Frau, der du gefolgt bist, ist keine Krankenschwester.«

»Darauf bin ich auch schon gekommen. Ich weiß sogar noch etwas mehr. Ihr Name ist Hedda Kipler. Sie arbeitet für Molino und scheint ihm in Sachen Brutalität in nichts nachzustehen.«

»Woher weißt du das?«

»Ich hab doch gesagt, dass ich zu tun hatte. Wir sind hier in einem Motelzimmer im Fairfield Inn am Highway 40. Kommt her und holt sie.«

»Wir sind schon auf dem Weg.«

»Lasst euch Zeit. Wir haben ein hübsches Plauderstündchen, stimmt’s, Hedda?«

Megan legte auf und wandte sich Grady zu. »Fairfield Inn am Highway 40. Sie sagte, wir müssten uns nicht beeilen, allerdings bin ich mir da nicht so sicher.«

»Warum?«

»Sie kennt bereits den echten Namen der Frau. Ich weiß nicht, wie viel Cousin Mark Renata über Verhörmethoden beigebracht hat.«

 

Das Erste, was Megan sah, als Renata die Tür öffnete, war Hedda Kipler, die mit einer Vorhangkordel an einen Stuhl gefesselt war. Sie hatte einen Knebel im Mund, und ihr Gesicht war blutig und geschwollen.

Megan sah Renata mit gerunzelter Stirn an. »Renata?«

»Ich hab ihr das nicht zugefügt, nachdem ich sie wie einen Truthahn zusammengeschnürt habe«, beteuerte sie hastig. »Sie hat sich auf mich gestürzt, als ich hier vor dem Motel aus dem Auto gestiegen bin. Ich musste mich wehren.« Sie verzog das Gesicht. »Sie hat auch ein paar Treffer gelandet. Du wirst meine Wunde an der Schulter noch mal nähen müssen.«

Erst jetzt entdeckte Megan den Blutfleck an Renatas Schulter. »Die Nähte sind aufgerissen. Setz dich, ich kümmere mich darum.«

»Nicht jetzt«, entschied Grady. »Erst müssen wir mehr über Molinos Anweisungen erfahren, ehe er dahinterkommt, dass wir sie in unserer Gewalt haben.« Er sah Renata an. »Wie viel haben Sie aus ihr herausbekommen?«

»Ich muss Renatas Wunde versorgen«, warf Megan ein. »Und sie sagte, sie hätte sich lediglich verteidigt.«

»Na ja, ich könnte mir denken, dass sie nicht ganz so unschuldig ist – hab ich recht, Renata?«

Sie erwiderte seinen Blick. »Nein, ich habe sie bereits ein bisschen durchgeschüttelt. Ich musste sofort handeln, sonst hätte es wahrscheinlich Stunden oder Tage gedauert, bis ich etwas aus ihr herauskriege. Und Mark hätte das als ›ineffizient‹ bezeichnet.« Sie wandte sich an Megan. »Ich habe ihr keine bleibenden Schäden zugefügt und gerade so viel getan, dass sie begreift, wie ernst es mir ist. Sie hat ihnen geholfen, Phillip aus der Klinik zu holen. Wäre es dir lieber, ich ließe sie ihre Lügen und Storys erzählen, bis es zu spät ist und wir ihm nicht mehr helfen können?«

Megan schüttelte matt den Kopf. »Nein, aber es passt mir nicht, dass du das gemacht hast. Du musst auch einen Schaden davongetragen haben.«

»Was haben Sie noch herausgefunden?«, wollte Grady wissen.

»Sie hat für Molino in den letzten zehn Jahren in Paris, Athen und Miami gearbeitet. Sie hat alles gemacht, angefangen vom Drogentransport über Geldwäsche bis hin zu solchen Jobs wie heute Abend. Sie denkt, er hat ein Versteck in Tennessee, aber sie selbst war nie dort.«

»Mist!«

»Aber sie war in dem Apartment, das er in Miami bewohnt, 1230 Ocean View. Im letzten Monat hat sie ein Päckchen aus Zentralafrika dort abgeliefert.«

»Im Moment ist er nicht in Miami, verdammt.«

»Nein, aber Sie können Leute von der CIA in die Wohnung schicken, damit sie einen persönlichen Gegenstand von Molino holen und mir zukommen lassen. Woanders scheinen sie bisher kein Glück gehabt zu haben.«

»Bist du sicher, dass du etwas aus dieser Wohnung benutzen kannst, um ihn zu finden?«, fragte Megan.

Renata verzog die Lippen. »O ja. Hedda Kipler sagt, dass er die Dinge, die sie ihm gebracht hat, in der zweiten Schublade der Kommode neben der Badezimmertür aufbewahrt. Sagen Sie den CIA-Männern, dass sie mir etwas aus dieser Schublade schicken sollen, dann kann ich Molino ausfindig machen.«

»Du scheinst davon überzeugt zu sein.«

Renata schaute in die bösartigen Augen von Hedda Kipler. »Absolut.«

»Megan soll sich morgen Abend mit Molino in Redwing, Tennessee treffen. Redwing könnte ein Anfangspunkt für Sie sein.« Grady zuckte mit den Schultern. »Oder auch nicht. Vielleicht hat er sich einen Treffpunkt ausgesucht, der ewig weit weg von seiner derzeitigen Zentrale liegt.«

»Ich versuch’s mit Redwing. Wenn Sie den Leuten von der CIA Beine machen können, mache ich mich gleich morgen früh auf den Weg.«

»Ich rufe Venable sofort an«, sagte Grady. »Wir brauchen hier jemanden, der Hedda Kipler abholt, und zudem soll er jemanden in Molinos Miami-Apartment schicken. Erwartet Molino, etwas von ihr zu hören?«

Renata schüttelte den Kopf. »Sie hat mit Sienna telefoniert, als sie die Klinik verlassen hat. Darnell ist eine Stunde vor ihr mit Phillip in einem Krankenwagen losgefahren. Er hat vorgegeben, einen neuen Patienten ins Nebengebäude transportieren zu müssen; dann sind er und ein anderer von Molinos Männern in Phillips Zimmer gegangen, um Gardner dort zu treffen. Kurz darauf war alles vorbei.« Sie warf Megan einen Blick zu. »Wusstest du, dass Gardner auf Molinos Gehaltsliste stand?«

Megan nickte. »Molino hat es mir erzählt.«

»Gardner hat die ganze Sache inszeniert. Abends haben nur zwei Schwestern Dienst. Bei Komapatienten gibt es nicht viel zu tun, nachdem sie für die Nacht hergerichtet worden sind. Gardner sagte den Schwestern, dass er sie nicht mehr brauchte, und schickte sie, um Geld zu sparen, ins Schwesternheim. Heddas Job war, am Empfang zu bleiben, bis Megan in Phillips Zimmer war und Molino Kontakt mit ihr aufnehmen konnte.«

»Eiskaltes Dreckstück.«

»Sie ist abscheulich. Ich hatte fast gehofft, sie würde mir einen Grund geben, sie kaltzumachen«, sagte Renata. »Aber sie hat Mumm. Jeder hätte in die Klinik kommen und ihr Recht, dort zu sein, anzweifeln können. Aber sie hat ihre Befehle befolgt und ist geblieben, solange sie musste.«

»Und sie hat keine weiteren Anrufe getätigt?«

»Wenn ja, dann hätte sie es mir gesagt.« Renata setzte sich. »Und jetzt flick mich zusammen, Megan. Die verdammte Wunde blutet wieder.«