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Welch ein Segen doch, daß es Ackermann gab! Er war sofort Feuer und Flamme, daß Toppe ihn mit nach Doornenburg nehmen wollte, und wie Toppe gehofft hatte, lieferte er unterwegs im Auto jede Menge kostenlosen Kranenburger Klatsch.
»Echt, Chef, echt, Sie meinen, der Geldek hängt da mit drin? Dat könnt’ ich mir allerdings vorstellen. Wo dem doch dat Wasser bis annen Hals steht.«
»Wieso?«
»Der hat sich, wat ich gehört hab’, ’n paarmal ganz schön verkalkuliert. Un’ die Kungeleien mit de Stadt sollen auch nich’ mehr so gut klappen. Die ganz dicken Dinger sind ihm wohl durch de Lappen gegangen. Der muß praktisch pleite sein. Aber brauch’ einem ja nich’ leid drum tun. Dat is’ doch ’n echter Mafioso. Un’ dat Ding in Doornenburg, also wat ich so gehört hab’, muß wohl auch ’n Schuß innen Ofen sein.«
Doornenburg war ein Dörfchen mit nur vier oder fünf Straßen, kleinen geduckten Häusern, einer Backsteinkirche, einer Patatbude und einer Polizeistation, die heute, am Samstag, mit nur einem Polizisten besetzt war. Wie nicht anders zu erwarten, begrüßte ihn Ackermann mit einem ausgiebigen Schulterklopfen: »Dag, Ronnie.« Und zu Toppe: »Dies is’ Ronald., na, dreimal dürfen Sie raten, wie der mit Nachnamen heißt.«
Wie sollte Toppe das wissen?
»Keine Ahnung.«
»Leenders, wie mindestens jeder zweite hier in Doornenburg. Is’n alter Kumpel von mir. En dit is mijnheer hoofdcommissaris Toppe uit Kleef, beendete er seinen Vorstellakt.
Trotz des obligatorischen koffie met kookje kam das Gespräch nur mühsam in Gang. Ronald Leenders war ein schwerfälliger, finster blickender Mann, der offenbar keine Lust hatte, der deutschen Polizei behilflich zu sein. Er gab vor, kein Wort Deutsch zu verstehen und schon gar nicht zu sprechen, und wäre nicht Ackermann gewesen, der in einem munteren Gemisch aus Kranenburger Platt und Holländisch unbefangen alle möglichen Fragen stellte, hätte Toppe wohl ohne Erfolg wieder abziehen müssen.
Natürlich war Geldek hier bekannt. Schließlich hatte er ihnen nach vielen vollmundigen Versprechungen die Touristenburg an den Ortsrand gesetzt. Aber bis jetzt war der wirtschaftliche Aufschwung der Gemeinde ausgeblieben. Das Fun-Bad hatte eigene Restaurants und Bars und sogar einen eigenen ,fietsverhuur’.
»Fietsverhuur?«
»Fahrradverleih.«
Im Augenblick rollte der ganze Touristenverkehr mitten durchs Dorf, aber zum Glück lief der Laden so schlecht, daß es sich gerade noch aushalten ließ.
Leenders ließ sich nach vielen fadenscheinigen Ausflüchten doch noch überreden, sie zum Ferienpark zu begleiten; das war gut so, denn ohne seine Anwesenheit hatten sie keinerlei Befugnis, auf holländischem Boden so einfach ihre Ermittlungen durchzuführen.
Das Fun-Bad erhob sich als klotziger Fremdkörper mitten aus der Rheinaue. Geldek hatte sich wirklich keine Mühe gegeben, die Gebäude der Landschaft anzupassen. In der Mitte lag das eigentliche Fun-Bad mit seiner hohen Plexiglaskuppel und den angrenzenden Restaurants. Rundherum gruppierten sich vier hohe Blocks mit Ferienwohnungen.
Der Geschäftsführer, ein Österreicher, war offenbar kein devoter Freund von Geldek; jedenfalls machte er keinen Hehl daraus, daß der Laden miserabel lief und die Besucherzahlen weit hinter den Erwartungen zurückblieben. Zur Zeit waren nur siebzehn der achtzig Wohneinheiten belegt; und das zur Ferienzeit. Die Zuschüsse hielten die Geschichte über Wasser, aber woher die nun genau kamen, und wie die sich zusammensetzten, da hätte ihn der Chef nicht eingeweiht. Der geplante Ponyhof sollte jetzt endlich den Aufschwung bringen. Man wollte mit einer Riesenwerbekampagne, ganz besonders in der ehemaligen DDR, die Leute an den Niederrhein locken. »Ich verstehe das nicht«, meinte Toppe, »so ein Betrieb müßte doch eigentlich eine Goldgrube sein.«
»Ja, wenn man genügend investiert. Hier hätten zusätzlich noch zwanzig, dreißig Nobelbungalows hingehört und eine organisierte Animation. Jetzt zu Weihnachten zum Beispiel, da hätte man ein vernünftiges, reizvolles Programm anbieten müssen.«
Zu Geldeks allgemeiner Finanzlage könne er natürlich nichts Konkretes sagen, eines nur: sie hätten hier mit dreiundzwanzig Angestellten begonnen, aber mittlerweile seien bereits neun entlassen worden. Die Arbeit für die verbleibenden Mitarbeiter hatte sich dadurch natürlich vermehrt, was sich allerdings bisher nicht auf die Bezahlung niedergeschlagen hatte. Das Arbeitsklima und das Verhältnis zu Herrn Geldek seien begreiflicherweise dadurch etwas gespannt, wenn er es mal vorsichtig ausdrücken wollte.
Daraus erklärte sich also die erstaunlich geringe Loyalität des Mannes.
Von den Gerüchten über eine drohende Pleite habe er selbstverständlich auch gehört und sich inzwischen auch schon vorsichtshalber um einen anderen Job bemüht, sicher wisse er aber nur von einem kürzlich geplatzten Geschäft in Nijmegen, bei dem Geldek mit 1,8 Millionen dringesteckt habe. Toppe solle mal bei der Verwaltung nachfragen, die wüßten genauestens Bescheid.
Toppe zuckte resigniert die Schultern. Da würde er heute und morgen keinen erreichen, und ob die Silvester arbeiteten, war auch noch fraglich. Aber Ackermann grinste spitzbübisch, und später im Auto meinte er: »Der Bruder von meiner Frau arbeitet in der Gemeindeverwaltung in Nijmegen. Von dem krieg’ ich dat schon raus. Ganz privat, versteht sich. Nee, kucken Se nich’ so, Chef, Sie müssen nich’ mit hin. Ich sach Ihnen heut’ noch, wat läuft.«
Zu Hause aß er rasch ein Butterbrot im Stehen und wollte dann gleich mit seinen beiden Fotos raus nach Keeken, aber Gabi hatte überhaupt kein Verständnis.
»Das kannst du genauso gut noch nach Neujahr machen.«
»Die Zeit rennt mir weg. Siehst du das denn nicht?«
»Doch. Aber soll ich dir mal was sagen? Es ist mir egal. Du wolltest diese Silvesterfete haben. Du hast zweiunddreißig Leute eingeladen. Und jetzt willst du mich mit den ganzen Vorbereitungen alleine hängen lassen.« Toppe seufzte.
»Schick jemand anderen los.«
»Wen denn? Du weißt doch, daß der Stasi mir..«
»Vielleicht ist Astrid zu Hause. Die macht das bestimmt.«
Astrid war tatsächlich in ihrer Wohnung. Nein, sie hatte nichts Besonderes vor, und natürlich würde sie ihm helfen, das wisse er doch. Er solle mit den Fotos vorbeikommen und sie einweihen.
Zwanzig Minuten später klingelte er an der Tür der Einliegerwohnung in ihrem Elternhaus.
Der Fall hatte ihn in den letzten Wochen derart in Anspruch genommen, daß er kaum noch an sie gedacht hatte, und auf der Fahrt hierher hatte er befriedigt festgestellt, daß er wohl darüber hinweg war, aber als sie jetzt vor ihm stand, war es sofort wieder da.
Sie strahlte ihn weich an, und wie immer war ihre Kleidung ein Angriff auf seine Standhaftigkeit: schwarze Leggings und darüber nur eine weiße, lange Bluse. Außerdem war sie barfuß.
»Komm doch rein.«
Die Wohnung war klein, ein Wohnschlafraum, eine winzige Küche, ein Bad, aber sehr schön eingerichtet. Alles in Weiß, Schwarz und einem leuchtenden Blau aufeinander abgestimmt und sehr teuer. Hier konnte sie die Fabrikantentochter nicht leugnen. Trotzdem waren die Räume ungeheuer gemütlich.
»Warum willst du eigentlich ausziehen? Ich würde mich hier sehr wohl fühlen.«
»Ja? Das ist schön. Aber mir sind meine Eltern einfach zu nah. Ich fühl’ mich hier immer noch wie ein großes Kind. Trinkst du einen Tee mit mir?«
»Gern.« Er setzte sich aufs Sofa und sah ihr zu, wie sie ruhig den Tee in die Becher goß, die schon auf dem Tischchen gestanden hatten.
Während er ihr die neuesten Entwicklungen im Verhoeven-Fall erzählte, hockte sie mit angezogenen Beinen im Sessel, hörte konzentriert zu und nickte nur dann und wann. Dabei spielte sie die ganze Zeit mit ihrem Zopf, öffnete schließlich die Spange und triselte das lange Haar auseinander.
»Gut, ich habe Zeit. Ich kann gleich losfahren, wenn du willst.«
Dabei stand sie auf und ging zur Stereoanlage. Die Platte hatte schon auf dem Plattenteller gelegen: Suzanne Vega.
»Magst du die?«
»Ja, sehr.«
Sie drehte sich entschlossen um und kam zu ihm. Dicht vor ihm blieb sie stehen.
»Und mich?«
»Astrid, bitte..«
Aber sie hockte sich vor ihn hin, so daß ihre Augen auf einer Höhe waren.
»Magst du mich?«
»Ja«, antwortete er barsch, »ja, ich mag dich sehr gern, aber.. aber mehr ist es nicht.«
»Bist du ganz sicher?«
»Nein.«
»Küß mich.«
»Nein.«
Mit einer geschmeidigen Bewegung glitt sie auf seinen Schoß und nahm seinen Kopf in ihre Hände. »Ich will mit dir schlafen, Helmut.«
Er focht einen kurzen, harten Kampf mit sich selbst, den er verlor. Ihre Brüste waren so herrlich, wie er sie sich immer vorgestellt hatte, und ihre heftigen Reaktionen auf seine Berührungen, ihr leises Stöhnen, ihre Küsse, ihre Hände machten ihn völlig verrückt. Erst als sie anfing, den Reißverschluß seiner Hose zu öffnen, kam er wieder zu sich. Er hielt ihr die Hand fest und räusperte sich.
»Komm«, sagte er leise, den Mund an ihrem Hals, »laß mich wieder auf die Erde zurück, ja?«
Sie versteifte sich in seinen Armen und holte tief Luft. Für eine Sekunde bewegte sie sich nicht. Dann stand sie ruckartig auf und begann, sehr konzentriert, die Knöpfe an ihrer Bluse zu schließen.
Er kam sich vor wie ein Idiot. »Weinst du?«
»Nein.« Aber sie sah ihn nicht an, und er hätte darauf schwören können. »Nein, noch nicht.«
»Es tut mir leid, Astrid.«
»Vergiß es!« Das kam ganz hart.
»Bist du sauer?«
»Vergiß es; ich will nicht darüber reden.«
»Okay.« Er suchte nach dem guten Abgang, den es nicht geben konnte, wollte nur raus und weg.
Sie war so nett, es ihm leicht zu machen. »Ich rufe dich an, sobald ich was herausgefunden habe.« Dabei war sie schon an der Tür. »Bis dann.«
Er war so verwirrt wie selten zuvor in seinem Leben.