17

Die Tage gingen ins Land; im Mordfall Verhoeven bewegte sich nichts. Toppe führ nach Duisburg, mehr aus Ratlosigkeit, sprach dort mit den Kollegen über die Waffe, aber es brachte nichts Neues.

Fast täglich fuhr er raus nach Keeken.

Der Chef ließ ihn einstweilen gottlob in Ruhe und richtete seine Aufmerksamkeit hauptsächlich auf Breitenegger und den Motorrad fall.

Astrid sah Toppe so gut wie gar nicht mehr; es war ihm nur allzu recht, denn seit der Szene in Xanten puckerte sein Gewissen.

Dabei war ja eigentlich nichts passiert. Noch nichts, aber nachts im Bett, während Gabi neben ihm lag, überschlugen sich seine Phantasien, wie es sein könnte mit Astrid. Er verstand sich nicht. Seit er mit Gabi zusammen war, hatte er keine andere Frau mehr in dieser Weise begehrt, hatte er sich zufrieden und sicher gefühlt. Manchmal, wenn Gabi ihn anschaute, glaubte er, sie müsse seine Gedanken lesen können, und schämte sich. Dann war er übergangslos zärtlich, sagte ihr und sich, daß er sie liebe und wieviel sie doch schon gemeinsam erlebt, genossen und gelitten hätten. Er beruhigte sich selbst; betete sich vor, es handele sich um die nur allzu gewöhnliche Midlife-Crisis, die wohl alle einmal traf, und sträubte sich gleichzeitig dagegen, in diesen Topf zu gehören. Er sagte sich, daß Astrid austauschbar sei und war doch nicht sicher. Es schmeichelte ihm, daß sie ihn offensichtlich begehrenswert fand, und gleichzeitig mißtraute er ihr zutiefst. Seine Unzufriedenheit war ihm selbst zuwider, quälte ihn, machte ihn sprachlos und launisch. Die Stimmung zwischen Gabi und ihm war ungesund wechselhaft und anstrengend. Immer öfter blieb er über Mittag im Dorf, aß in einer der beiden Kneipen Jägerschnitzel oder Rippchen mit Rotkohl. Er fühlte sich inzwischen fast heimisch hier, und auch für die Leute schien er schon dazu zu gehören. Sie waren freundlich und offen, luden ihn in ihre Häuser ein zu Kaffee und selbst aufgesetztem Bees.

Er ging zu Hein Verhoevens Stammtisch und versackte. Er redete mit dem Pastor, dem Küster, den Schützenbrüdern, ging zur Probe des Kirchenchores.

Aber all das führte ihn nicht weiter; er lernte lediglich das Dorf besser kennen, die Leute genauer einschätzen, auch die Verhoevens, und der Mord wurde immer unerklärlicher.

Er fragte, ob er selbst wohl zufriedener wäre, wenn er hier geboren und aufgewachsen wäre, wie sehr einen wohl diese Atmosphäre prägte, in der in so vielen Dingen die Zeit stehengeblieben schien, alles ein bißchen angestaubt, aber doch so wohlgeordnet war. Gleichzeitig träumte er davon, zurück nach Düsseldorf zu gehen, in eine Altbauwohnung mit hohen Decken und überhaupt nicht perfekt, ins Theater zu können, ins Kino, in Konzerte, einfach so, kurzentschlossen wieder den Tag zu leben und zu spüren, mit Freunden die Nächte durch zu reden und zu trinken. Er erzählte Gabi davon, aber sie lächelte nur traurig: »Das alles haben wir vor fünfzehn Jahren entschieden. Oder waren die Kinder nicht auch deine Entscheidung?« An die Kinder hatte er dabei überhaupt nicht gedacht, und das ließ wieder sein Gewissen schlagen.

An einem Samstag Ende Oktober wanderte er mit Bongartz, dem er oft über den Weg lief, durchs Dorf, ohne Ziel, ohne Fragen.

»Es ist schon lange nicht mehr so idyllisch hier, wie es Ihnen vorkommt, Herr Toppe«, meinte Bongartz. »Vor dem Krieg, als hier nur Keekener wohnten, da konnte man vielleicht von Idylle reden.«

»Können Sie sich denn daran noch erinnern?«

»Sicher, ich bin neunundfünfzig.«

Er lachte, als er Toppes erstauntes Gesicht sah. »Erbmasse. In unserer Familie halten wir uns alle so lange frisch, und dann die gesunde Landluft. Sie kommen wohl aus der Stadt?«

Jetzt lachte Toppe. »Wieso? Habe ich mich so schlecht gehalten?«

»Nein, nein, um Gottes Willen. Ich mein’ bloß, weil Sie das sagten mit der Idylle.«

»Ich bin in Meerbusch geboren, aber seit ich achtzehn war, habe ich immer in Düsseldorf gewohnt. Bis ich nach Kleve versetzt wurde.«

»Irgendwie merkt man es doch, wenn einer nicht von hier ist. Tja, vor’m Krieg hatten wir sogar noch unseren eigenen Polizisten hier und unser eigenes Gefängnis.«

»Wirklich?«

»Ja, kommen Sie, ich zeig’s Ihnen.«

Sie gingen um das hohe Backsteinhaus am Kriegerdenkmal herum.

»Das war mal unsere Schule. Und hier hinten, im Anbau, war das Gefängnis, nur eine Zelle, aber immerhin.«

Toppe sah in den Hof hinein, der heute davon nichts mehr erkennen ließ. Die jetzigen Bewohner der Schule hatten eine große Laube angelegt, einen Gartenteich, und die Gefängniszelle wurde offensichtlich als Geräteschuppen genutzt.

»Und das Doppeltor daneben, das war unsere Feuerwehrstation.«

»Sie hatten eine eigene Feuerwehr für dieses kleine Dorf?«

» Keine richtige Feuerwehr, aber immerhin einen eigenen Spritzenwagen mit Handpumpe. Der wurde von einem Pferd gezogen. Heute haben wir ja eine richtige Feuerwehr in Bimmen. Aber damals waren die Dörfer noch streng getrennt. Bimmen war für uns ein Provinzkaff, höchstens hundert Einwohner. Nein, lachen Sie nicht. Es war so. Und die Bimmener Kinder mußten bei uns zur Schule gehen.«

Sie kamen an der Volksbankfiliale vorbei, die nur donnerstags geöffnet war, wie ein Schild an der Tür mitteilte, an einer großen Gärtnerei – »die waren früher mal stinkreich; der Alte war einer von den fünf Parteigenossen im Dorf, aber mit Politik hatten wir nie viel am Hut«- dann am Schützenhaus und schließlich zur Landstraße.

»Und da drüben auf der anderen Straßenseite, das gehört auch noch zu Keeken?«

»Ja, bis zum Altrhein runter. Sind nur noch ein paar Häuser.«

Sie überquerten die Straße, und Toppe zeigte auf die kleine weiße Zwiebelturmkirche, die nahe am Deich stand. »Und wieso haben Sie zwei Kirchen?«

»Das ist die evangelische Kirche. Früher hatten wir sogar zwei Pfarrer. Jetzt werden die paar Evangelischen von Kranenburg aus mitbetreut. Das war ja alles mal ganz anders hier.«

Er erzählte sehr lebhaft von den Herren von Bylant, die die Kirche im frühen 18. Jahrhundert bauen ließen, die hier ihr Schloß hatten, das aber von einem Hochwasser in den Rhein gerissen wurde; Holländer waren das gewesen, Calvinisten.

»Damals im 16. und 17. Jahrhundert war dies hier eine bedeutende Gegend. Da verlief der Rhein noch in seinem alten Bett und war eine wichtige Handelsstraße, und hier war eine der Hauptzollstellen. Kann man sich heut’ kaum noch vorstellen, nicht?«

Sie stiegen den Deich hoch und blickten auf den Altrhein und die weite Ebene auf der anderen Seite mit ihren Pappeln und Weiden, die sich bis zum großen Deich zog, hinter dem der neue Rhein floß.

»Unsere Altrheininsel. Hier haben wir als Kinder immer gespielt. Das ganze Jahr über, im Sommer Geländespiele, und im Winter sind wir hier auf den Kolken und dem Altrhein Schlittschuh gelaufen. Mit diesen holländischen Schaatsen aus Holz.«

»Und wie sind Sie rübergekommen auf die Insel? Hier ist doch keine Brücke.«

»Na, mit dem Boot. Der Bauer vom Vossegatt hatte eins, das er uns überließ.«

Er lachte leise vor sich hin. »Wenn unsere verschiedenen Banden mal Krach untereinander hatten, dann haben wir den anderen heimlich das Boot geklaut, und die saßen auf der Insel fest. Wenn sie nach Hause wollten, dann mußten sie schwimmen. Ist mir selbst auch ein paarmal passiert.«

Sie hockten sich auf einen Zauntritt, und Toppe zündete sich eine Zigarette an.

»Muß schön gewesen sein hier damals.«

»Ja, in der Erinnerung ist das meiste schön, nicht wahr? Die schlimmen Sachen, die vergißt man immer. Wie arm wir damals waren. Im Sommer sind wir barfuß gelaufen, weil wir keine Schuhe hatten, und im Winter in Klompen mit dicken Schaffellsocken drin. Vor der Schule mußten wir die Holzschuhe immer mit Kreide putzen, damit sie wieder hell wurden. Ein paar dicke Bauern gab es, aber die anderen? Kätler ohne Acker, mit einer Kuh, die sie den ganzen Tag an den Wegrändern entlangtrieben, damit sie fressen konnte. Eine Kuh, ein Schwein, ein paar Hühner, aber einen ganzen Stall voll Kinder. Arbeit gab’s hier keine. Gut, ein paar Leute wurden in der Molkerei gebraucht, ein paar Knechte auf den Höfen. Die anderen waren froh, wenn sie schon mal Arbeit auf der Ölmühle in Spyck kriegten. Jeden Tag mit der Fiets elf Kilometer hin und elf Kilometer zurück. Und da war die Straße noch nicht asphaltiert, und die Räder hatten Vollgummireifen und eine Karbidlampe vorne. Was meinen Sie, wieviele unverheiratete Männer im besten Alter es hier im Dorf gab, einfach weil sie keine Familie ernähren konnten. Solche Sachen vergißt man leicht.«

»Und die Verhoevens gehörten zu den,dicken Bauern’?«

»Ja, damals vor dem Krieg war Verhoeven der reichste von allen. Und nachher hat er auch noch ganz gut am Schmuggel verdient. Na ja, aber gucken Sie sich doch die Landwirtschaft heute mal an. Die Bauern buttern doch alle zu. Wenn man ein Loch stopft, reißt man woanders wieder ein neues auf. So ein Hof wie der von den Verhoevens, ein bißchen Milchwirtschaft, ein bißchen Schweinemast, ein bißchen Futterbau, so was rentiert sich nicht mehr. Das ist falsch heute. Obwohl von der Größe her..«

»Ja?«

»Nun ja, man sagt, ein Hof rentiert sich ab einer Größe von achtzig bis hundert Morgen. Die Verhoevens haben über dreihundert.«

»Und warum klappt das dann so schlecht?«

Bongartz zuckte die Schultern. »Die EG, heißt es. Aber ich glaube, die hängen einfach noch immer an ihren, wie man so schön sagt, alten Strukturen. Da ist schon seit Jahren nicht mehr vernünftig geplant, nicht mehr sinnvoll investiert worden. Der Enkel, der Frank, der hat eine Menge guter Ideen, und wie mir scheint, freundet sich Wilhelm so langsam damit an. Vielleicht kommen die ja doch noch mal auf die Füße.«

Er zog eine Zigarre aus seiner Brusttasche, biß die Spitze ab und spuckte sie ins Gras.

» Der Hein, der hat Glück gehabt, daß er nicht der älteste war und den Hof übernehmen mußte. Hat überhaupt immer Glück gehabt im Leben. Konnte sich früh selbständig machen, hat seine große Liebe geheiratet, die auch noch ein bißchen was an den Füßen hatte. Wohlgeratene, tüchtige Kinder..« er zündete die Zigarre an, »..und dann so ein Ende.«

»Ja, dieses Ende scheint wirklich nicht zu passen.« Toppe rieb sich die Oberarme. »Lassen Sie uns zurückgehen, es wird kühl.«

Bongartz sah über die Ebene hinweg zum Rhein hinüber und stand auf. »Sieht ja harmlos aus, der Fluß, um diese Jahreszeit, nicht wahr? Aber waren Sie schon mal hier, wenn Hochwasser ist?«

»Ja, als Tourist, gewissermaßen. Da fand ich das nur einen faszinierenden Anblick. Mir war gar nicht bewußt, was das für die Bauern bedeutet.«

»Mhm, so geht das vielen. Können Sie sich vorstellen, daß der Kampf mit dem Wasser mehr als tausend Jahre gedauert hat? Meine Eltern und Großeltern, die kannten das noch gut, wenn in Hochwasserzeiten die Kirchenglocke läutete; dann kam der Rhein über unseren Deich, und sie schleppten Bretter, Säcke und Reisig und versuchten, das Schlimmste zu verhindern. Da kämpften sie tagelang, auch die Frauen und Kinder, und beteten, daß das Wasser endlich zurückging. Es ist zwar anders heute, aber irgendwie steckt einem das immer noch in den Knochen. Der Rhein ist unser Meister; wenn er freundlich ist, geht es uns gut. Aber, na ja, für die jungen Leute..«

»Was meinen Sie?«

»Die kennen das doch gar nicht mehr. Die Natur ist gebannt, man kann sie kontrollieren. Da verliert man den Respekt, die Ehrfurcht und, ja, auch die Bescheidenheit. Und der Glaube ist ja heute auch nicht mehr wichtig.«

»Sind Sie gläubig?«

»Natürlich. Das war nie eine Frage für mich. Aber meine Kinder? Da ist nichts mehr und bei meinen Enkeln erst recht nicht. Trost und Zuspruch, den finden die heutzutage im Fernsehen und in ihren Videos.«

»Das bezweifle ich.«

» Gut, vielleicht finden die so was auch überhaupt nirgendwo mehr.«

»Eben. Aber ob die Kirche die Lösung ist?«

Sie überquerten die Landstraße und wichen einem grauen Mercedes aus, der vom Dorf kommend mit rasanter Geschwindigkeit nach rechts Richtung Kleve abbog. Der Fahrer betätigte grüßend die Lichthupe.

»Peter Verhoeven«, knurrte Bongartz, »auch so einer, der nicht mehr weiß, wo er’s herholen soll.«