23

Peter Verhoeven kam fast zwanzig Minuten zu spät, aber Toppe hatte es eigentlich auch nicht anders erwartet.

»Meine Frau sagte mir, Sie möchten mich sprechen. Ich weiß zwar nicht, wie ich Ihnen helfen kann, aber bitte.«

Lässig ließ er sich auf dem angebotenen Stuhl nieder und schlug die Beine übereinander. Er war sorgfältig gekleidet mit einer hellbraunen Hose, einem passenden Pullover, darüber einen dicken fellgefütterten Ledermantel, den er zwar aufknöpfte, aber nicht ablegte. Es sah nicht so aus, als wollte er sich lange aufhalten.

Toppe stellte das kleine Tonbandgerät auf die Schreibtischplatte und richtete das Mikrofon aus. »Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich unser Gespräch mitschneide.«

»Bitte, ich habe nichts zu verbergen. Was ist das für ein Unsinn, den ich da höre? Bei dem Mord soll es sich um eine Verwechslung handeln?«

Toppe schaltete das Gerät ein. Das Band hakte kurz und lief dann an. Der Anfang würde wie immer verzerrt sein.

»Warum ist das Unsinn?«

»Wer sollte denn ein Interesse daran haben, meinen Vater zu töten?«

»Wer konnte ein Interesse daran haben, Ihren Onkel zu töten?«

Peter lachte. »Da haben Sie auch wieder recht. Aber Gott sei Dank muß ich das nicht herausfinden.«

Er sah auf seine Füße, und Toppe folgte seinem Blick. Die braunen Lederstiefeletten waren mit Schlamm bespritzt.

»Man kann eben nie verleugnen, daß man vom Land kommt«, lachte Verhoeven. »Ja, eine schlimme Sache, das mit meinem Onkel. Irgendwie kann ich gar nicht drüber weg kommen. So was macht einen ja doch betroffen. Aber ich sage mir immer, er war ja nicht mehr der Jüngste, hatte sein Leben gelebt. Vielleicht ist ihm so eine lange Krankheit erspart geblieben. Wer weiß, wofür es gut ist. Aber ich rede und rede. Das wollten Sie bestimmt nicht hören.«

»Doch, doch, erzählen Sie nur.«

»Nein. Also bitte, was kann ich für Sie tun?« »Es hat mich erstaunt, daß Ihr Vater mit seinen 74 Jahren immer noch der Besitzer des Hofes ist.«

Peter Verhoeven hob die Augenbrauen.

»Na, was meinen Sie, wie mich das erstaunt? Nein, aber im Ernst. Es ist kein leichtes Leben mit einem starrköpfigen alten Mann. Ach was, alt, der war sein Leben lang ein Dickschädel. Kommen Sie auch vom Land?«

»Nein.«

»Dann werden Sie diese Problematik vielleicht nicht kennen. Es ist immer schwierig mit zwei Generationen auf einem Hof. Der Jungbauer kommt meistens nicht richtig zum Zuge.«

Deutliche Bitterkeit lag jetzt in seiner Stimme und um seinen Mund, aber Toppe kam das allzu gezielt. Der Mann war völlig beherrscht.

»Ich habe den Fehler gemacht, zu nett zu sein. Hab’ den richtigen Zeitpunkt verpaßt.«

»Wie meinen Sie das?«

»Vor zwanzig Jahren, da hätte ich mich durchsetzen sollen. Da hätt’ ich dem Alten ein Ultimatum stellen müssen. Aber das ist nicht so einfach, Herr Kommissar. Immerhin ist’s ja der eigene Vater, und hat’s selbst nicht leicht gehabt im Leben, der Mann. Der Hof ist sein ein und alles.«

»Ihres nicht?«

»Ach, wir gehören doch einfach zu einer anderen Generation.«

»Sie spielen?«

Peter Verhoeven verzog keine Miene. »Sie haben sich ja gut umgehört. Ja, manchmal habe ich gespielt. Heute kaum noch. Man wird älter, und ruhiger auch. Aber versetzen Sie sich doch mal in meine Lage. Meine Eltern haben mich nie akzeptiert. Für die war ich immer zu jung und oft genug der Blödmann, der böse Bube, der an allem schuld war. Das macht einen bitter, gerade, wenn man jung ist.. irgendwo muß man sich doch Bestätigung holen.«

»Anfang dieses Jahres hatten Sie doch aber noch erhebliche Spielschulden zu begleichen.«

»Kleiner Ausrutscher.« Er sah betont auf seine goldene Armbanduhr. »Passiert mir selten. Aber wie das Leben manchmal so spielt. Kismet, Herr Kommissar. Und inzwischen ist ja auch alles geregelt.«

»Sie wollten Ihre Mutter entmündigen lassen.«

»Wundert Sie das? Sie haben sie doch kennengelernt.«

»Wenn Ihr Vater stirbt.«

»Versuche ich das noch einmal. Darauf können Sie sich verlassen, da mache ich gar keinen Hehl draus. Die Frau ist krank, geisteskrank, und zwar seit vielen Jahren. Es ist nur zu ihrem eigenen Besten.«

»Was werden Sie mit dem Hof machen, wenn er einmal Ihnen gehört?«

»Was soll ich damit machen?« fragte er ungeduldig, und auch diese Stimmung wirkte wohlplaziert.

»Wollen Sie ihn verkaufen?«

»Verkaufen? Entschuldigen Sie, aber man merkt, daß Sie davon nichts verstehen. Wer würde sich wohl heutzutage freiwillig so einen Hof unter die Füße holen?

Die goldenen Zeiten der Landwirtschaft sind lange vorbei.«

»Bauland vielleicht.«

»Tja, das wäre schön. Aber leider kann die ganze Gegend bei uns nur landwirtschaftlich genutzt werden.«

»Ich verstehe.«

»Nein, nein, der Hof ist zwar keine Goldgrube, aber man hat sein Auskommen.«

»Und die 1500 Mark, die Sie im Moment monatlich haben, die reichen für Ihr Auskommen?«

»Wir kommen hin.«

»Und davon können Sie auch noch Ihre.. Freundinnen bezahlen?«

Er gönnte Toppe nur ein müdes Grinsen. »Das war leicht unter der Gürtellinie, Herr Kommissar. Aber natürlich ist es nicht so einfach mit den 1500 Mark. Mein Vater wollte mich runtermachen, aber ich laß mich nicht kleinkriegen. Ich komme schon über die Runden. Wie gesagt, man wird ruhiger mit den Jahren, auch ein bißchen anspruchsloser.«

Toppe schluckte mühsam an einem Mir kommen die Tränen.

»Wo spielen Sie?«

»Hier und da. Über so was redet man nicht gern.«

Jetzt grinste Toppe. » Das kann ich mir vorstellen. Ich möchte es trotzdem wissen.«

»Nein, wirklich, Herr Kommissar, das behalte ich für mich.« »Mit wem spielen Sie?«

»Verschiedene Leute. Das wechselt.«

»Nennen Sie mir einige Namen.«

»Das tut mir jetzt aber wirklich leid, auch darauf kann ich Ihnen leider keine Antwort geben. Ich bin überzeugt, daß es den Herren nicht recht wäre. Alles ehrbare Bürger übrigens, wenn Ihnen das Sorgen macht.«

»Herr Verhoeven, ich kriege das doch sowieso raus. Sie könnten mir nur eine Menge Arbeit ersparen, wenn Sie die Namen einfach nennen.«

Er wurde mit einem freundlichen Lächeln und einem bedauernden Achselzucken bedacht. »Tut mir leid, man hat so seine Grundsätze.«

»Die Spielbank in s’Heerenberg.«

»Ja«, kam es knapp zurück.

»Der,Silberne Hahn’ in Duisburg.«

»Alle Achtung!« Das meinte er ernst. »Ich muß sagen, Sie kennen sich aus.«

»Man macht sich sachkundig. Wie stehen Sie zu Ihrem Sohn Frank?«

»Komische Frage. Er ist mein Sohn. Tüchtiger Kerl. Macht sich nützlich. Opas ganzer Stolz.«

»Ihrer nicht?«

»Selbstverständlich.«

»Ihr Vater hat Ihnen jetzt auch die Buchführung entzogen.«

»Richtig, aber ich kann nicht sagen, daß ich darauf jemals besonders scharf war. Und nach meiner Schlappe Anfang des Jahres.. Man muß den alten Mann ja auch irgendwie verstehen. Meint immer, er müßte mich noch erziehen. Der beruhigt sich schon wieder. Manchmal vergißt er einfach, daß ich schon erwachsen bin. Das ist doch oft das Problem. Kennen Sie das nicht? Inzwischen sage ich mir einfach: das ist ein alter Mann, Peter, den kannst du nicht mehr umerziehen. Laß ihm seinen Stolz.«

»Und was ist mit Ihrem Stolz?«

» Danke, bestens. Bin ich jetzt entlassen? Ich hätte da nämlich noch einen wirklich wichtigen Termin..«

»Wir sind gleich fertig, Herr Verhoeven. Wer könnte Ihrer Meinung nach ein Interesse daran haben, Ihren Vater aus dem Weg zu räumen?«

»Wer außer mir, meinen Sie das?« Er wurde ein bißchen lauter, verlor aber keineswegs die Beherrschung. »Einem, der ab und zu mal spielt, einfach gern mal das Leben genießt, den lieben Gott einen guten Mann sein läßt, dem ist das Allerschlimmste zuzutrauen. Das meinen Sie doch, nicht wahr? Aber nein danke, den Mist hab’ ich mir lange genug anhören müssen. Der blanke Spießerneid. Den Schuh zieh’ ich mir nicht mehr an. Ihre Theorie ist absurd, und wenn Sie mal in Ruhe darüber nachdenken, dann müßten Sie selber draufkommen. Gott sei Dank ist das alles nicht mein Bier.«

Toppe schaltete das Tonband ab.

»Im Moment wäre das tatsächlich alles, aber wahrscheinlich muß ich Sie noch einmal belästigen.«

Verhoeven zeigte ihm seine strahlend weißen Zähne. »Sie belästigen mich doch nicht. Schließlich geht’s um meinen Onkel.«

»Und viel Erfolg noch«, rief er, als er schon auf dem Flur war.

Toppe hatte den Mann unterschätzt. Peter Verhoeven war ein ausgebuffter Zocker.

Es hatte keinen Sinn, in den,Silbernen Hahn’ reinzuspazieren und nach Verhoevens Spielpartnern zu fragen. Er mußte sich mit den Duisburger Kollegen in Verbindung setzen, die sich in der Szene auskannten. Aber heute würde er da keinen mehr erwischen; bis er in Duisburg sein konnte, wäre es nach fünf.

Er merkte auf einmal, daß er das Mittagessen ausgelassen hatte. Ob er sich mal wieder eine Fleischrolle spezial mit Pommes gönnen konnte? Vor seiner Diät war das seine Lieblingsspeise gewesen, aber jetzt hatte er seit Monaten einen Bogen darum gemacht. Allein bei dem Gedanken daran lief ihm schon das Wasser im Mund zusammen. Andererseits mußte er eigentlich seinen Bericht schreiben. Noch während er mit sich rang, klingelte das Telefon.

Es war Dr. Stein, der Staatsanwalt, der sich beschwerte, daß er so lange nichts von Toppe gehört hatte. Bei früheren Fällen war Stein fast immer bei den täglichen Besprechungen des 1. Kommissariats dabeigewesen, denn er unterrichtete sich gern über die Details, verfolgte einen Fall möglichst nah, damit er seine Entscheidungen schnell und überzeugend fällen konnte.

»Kommen Sie in dem Fall denn gar nicht weiter, Toppe?«

»Wie man’s nimmt. Es hatte sich völlig totgelaufen; jede Spur führte ins Nichts. Aber seit letzter Woche habe ich einen neuen Ansatz, noch nicht konkret, aber mein Gefühl sagt mir, daß er ganz vielversprechend ist.«

»Na, das beruhigt mich aber. Bisher konnten wir uns doch auf Ihre Nase immer ganz gut verlassen. Und sonst?«

»Ziemlich bewölkt, würde ich sagen.«

»Ja, ich habe schon gehört, mit dem Betriebsklima soll es nicht zum Besten stehen. Es ist schon so etwas mit den ,neuen Besen’.«

»Wir sind hoffnungslos unterbesetzt. Eigentlich ist es ja ein Unding, daß man allein an einem solchen Fall arbeitet.«

»Ich dachte, Sie hätten Frau von Steendijk an Ihrer Seite.«

»Die hat mir Herr Siegelkötter abgezogen. Aber es kann nur besser werden, im Januar ist van Appeldorn wieder da.«

»Hätten Sie es denn nicht anders einteilen können? Man kann doch auch zu viert ohne strenge Trennung an zwei Fällen gleichzeitig arbeiten. Sie wissen, ich halte gerade den Austausch miteinander für ungeheuer wichtig.«

»Herr Siegelkötter hat doch diese SOKO Motorrad auf Kreisebene ins Leben gerufen.«

»Na ja«, antwortete Stein, und man konnte sein breites Grinsen hören. »Wenn wir uns nicht mehr sehen, Herr Toppe, ich wünsche Ihnen schöne Feiertage.«

Er gab Stein völlig recht. Viel zu leicht hatte er sich das Heft aus der Hand nehmen lassen. Schließlich war er doch immer noch der Leiter des 1. Kommissariats. Er hätte dem Stasi von Anfang an mehr entgegensetzen müssen. Aber genau das war sein Problem, das wußte er. Er ging lieber den langen und leiseren Weg, auch wenn das mehr Arbeit und Überstunden bedeutete, reagierte schon mal schnell beleidigt auf Angriffe und Ignoranz, puzzelte dann still vor sich hin, um hinterher besonders gute Arbeit abzuliefern.

Sein Kontrapunkt war van Appeldorn gewesen. Der war fix, oft zynisch und manchmal zu hart, aber sie hatten sich ergänzt, wie gut, das wurde ihm eigentlich jetzt erst richtig klar. Auch Breitenegger und Heinrichs gehörten dazu. Sie hatten alle vier ein Team gebildet, in dem jeder seine wichtige Rolle hatte, und Astrid hätte sich da mühelos einfügen können.

Seit Wochen saßen sie hier, stritten und jammerten sich an, daß es kein Arbeiten mehr wäre, anstatt etwas dagegen zu tun. Am 15. Januar kam Norbert van Appeldorn zurück. Er blätterte im Kalender. Das war ein Dienstag. Mit einem roten Filzstift trug er sorgfältig ein: 15 Uhr – Krisensitzung (ganzes Team).

Er sah sich in dem häßlichen graugrünen, viel zu kleinen Büro um, in dem er schon so viele Jahre hockte und in dem er eigentlich fast ebenso lange gern gearbeitet hatte.

Er wußte, was er jetzt tun würde: Zuerst eine Fleischrolle essen und dann die Kaffeemaschine kaufen, von der sie seit Jahren redeten; sein Weihnachtsgeschenk fürs 1. Kommissariat. Den Bericht konnte er auch hinterher noch schreiben, oder vielleicht sogar erst morgen.

Pfeifend ging er zum Parkplatz hinunter. Ein Problem hatte er schon mal, zumindest im Kopf, gelöst, und in seinem Mordfall gab es einen vielversprechenden Ansatz.

Blieben also nur noch zwei Probleme. Eins davon stieg gerade in einem schwarzen Stretchkleid und knallroten Strümpfen in einen Kleinwagen, und Gabi war bestimmt auch immer noch sauer auf ihn.