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»..und getreu nach unserem Motto,Die Liebe überwindet alles’ gebe ich nun die Bühne frei für unsere ,Shuttles’ und bitte das Königspaar, den Krönungsball zu eröffnen.«
Der Präsident des Keekener Schützenvereins 1710 e.V. überließ das Mikrofon dem Sänger, der mit einer reichlichen Portion Schmalz »Ganz in Weiß« anstimmte. Sein Begleiter an der Hammondorgel ließ sich auch nicht lumpen.
Gerd der Mannhafte und Sigrid die Segensreiche, das frischgebackene Königspaar, eröffneten mit ihrem Throngefolge den Tanz.
»Herrgott! Du stehst mir auf der Schleppe«, stieß die Königin hervor und warf ein strahlendes Lächeln in Richtung Ehrenmitgliedertisch.
»Wenn du nicht schon wieder die Hacken voll hättest, würdest du nicht so dämlich stolpern«, zischte ihr Gemahl und packte sie fester.
»Moment mal, wer hat denn wen heute morgen nach Hause geschleppt?« Sie schenkte ihm ein perlendes Lachen.
Sigrid Pastoors war im Dorf als trinkfreudig bekannt. Im Vorstand hatte man scherzeshalber mit dem Gedanken gespielt, diese Tatsache in den königlichen Beinamen einfließen zu lassen –,Sigrid die Sektselige’ war noch der freundlichste Vorschlag gewesen.
Die Proklamation der neuen Königin hatte mit den ganzen Zeremonien drumherum lange gedauert, und jetzt, um halb zehn abends, hatte man dem,Bier für die Herren’ und dem,Sekt für die Damen’ schon reichlich zugesprochen. Die Schützen hatten längst ihre Hüte und Jacketts abgelegt, die Schlipse gelockert und saßen hemdsärmelig an den langen Tischen. Aber nicht nur die Kleidung war am dritten Tag des Schützenfestes ziemlich ramponiert.
Die Ehefrauen harten heute morgen vor der Messe noch ein letztes Mal die dunklen Hosen mit schwarzem Kaffee aufgebürstet. Der Kaffeegeruch, vermischt mit heißem Schweiß und dreitägigen Alkoholdünsten, untermalt von Echt Kölnisch Wasser und Cleopatra Deo hing wie eine feuchte Wolke über allem. Es war stickig, und auch die Ehefrauen hatten mittlerweile ihre Häkelstolen, weiß oder pastellfarben mit Lurexfaden, über die Stuhllehne gehängt. War auch der Krönungsball der alljährliche Höhepunkt des Schützenfestes, so nahm es doch nach drei Tagen ununterbrochenen Feierns keiner im Dorf mit der Etikette mehr so genau. Nur das Königspaar mit seinem Gefolge mußte noch eine halbe Stunde bis zum Fototermin durchhalten.
Sigrid die Segensreiche war gleich nach der Präsidiumssitzung, bei der festgelegt worden war, daß »es« dieses Jahr endlich Gerd sein sollte, zu Raatz nach Wissel gefahren, um sich ein Kleid zu kaufen, mit dem sie alle anderen in den Schatten stellen konnte. Mit der Kreation, die sie trug, war es ihr wahrhaftig gelungen: figurbetont, aus resedagrünem, glänzenden Kunstsatin, bodenlang mit kleiner Schleppe, auf der Brust ein goldgestickter, in reichen Applikationen schillernder Pfau mit roten und grünen Glassteinen.
Der Altbürgermeister von Kleve, der als Ehrengast geladen war, verabschiedete sich soeben mit ausgiebigem Händeschütteln von Wilhelm Verhoeven, dem Ehrenvorsitzenden des 1710 e.V. Verhoeven, gestern erst mit der Ehrennadel für 55jährige Vereinstreue ausgezeichnet, blieb stehen, sein Bierglas fest in der Hand, bis der Altbürgermeister im Gewimmel der Tanzenden verschwunden war.
»Na, da trinken wir doch noch ein’. So jung kommen wir nicht mehr zusammen, wat Willi? Prost!« Jemand schlug ihm von hinten auf den Rücken.
»Ja, ja«, brummte Wilhelm Verhoeven und setzte sich wieder. Er hatte seinen Sohn im Blickfeld, der zwei Tische weiter gerade die Kellnerin auf seinen Schoß zog.
Peter Verhoevens Gesicht war schon gerötet, die Augen matt.
»Komm her, Toni, mein Schatz«, lärmte er und griff der Kellnerin an den tiefen Ausschnitt ihres lila Pullovers.
Sie gackerte und klapste ihm auf die Finger. Die Schützenbrüder am Tisch grölten und rissen ihre Witze.
»Komm mit raus«, raunte Peter Toni ins Ohr, aber sie stand auf und zischte: »Spinnst du? Ich hab’ zu arbeiten.« Dann packte sie ihr Tablett und stakste hüftwackelnd zur Theke zurück.
»Na, dann eben nicht«, lallte Peter und machte sich unsicheren Schrittes auf den Weg zum Klo. Als er zurückkam, traf er an der Theke, wo die Rauchwolken am dicksten hingen, all jene, die Doppelkorn- und Kümmerlingrunden dem Tanzvergnügen vorzogen.
»Ach, da haben wir ja unseren Don Schuan«, grölte einer. »Sach, hast du dir mal die Weiber von der Mühle genauer angeguckt? Also, die eine von denen, ’n ganz heißes Gerät.«
Peter verzog verächtlich den Mund. »Nee, Horst, diese Weiber können mir getrost gestohlen bleiben. Was hab’ ich mit Eterik am Hut?«
»Esoterik, lieber Verhoeven, Esoterik.« Es war der Pastor, der ihn da korrigierte.
»Sag ich doch«, erwiderte Peter betreten. »Die wollen Ihnen wohl ins Handwerk pfuschen, was, Herr Pastor?«
Von hinten tippte ihm Toni auf die Schulter und drängte sich dicht an ihn heran. »Morgen abend könnt’ ich. Wie üblich, ja?« flüsterte sie und wischte mit einem Lappen auf der Theke herum.
Er starrte ihr lange auf die Brüste und grinste schräg. »Bring mir noch’n Bier, Toni.«
Die Kapelle spielte einen Tusch, dann gab der Präsident die Bühne frei für »unsere Nelly Böskens, die sich anläßlich unseres 280. Stiftungsfestes ein paar Gedanken gemacht hat.«
Nelly Böskens trug ein olivgrün-silbernes Abenddirndl, das traurig an ihrer dürren Gestalt herabhing. Mit kurzen harten Schritten trat sie an das Mikrofon und räusperte sich.
»Ich hab’s ihr noch gesagt«, wisperte Sigrid die Segensreiche ihrem Nachbarn zu. »So ein Kleid kann man nur tragen, Nelly, sag’ ich, wenn man reichlich Holz vor der Hütte hat; wie man so sagt«, und sie warf sich so in ihren Satin, daß der Pfau mächtig in Bewegung geriet.
Nelly Böskens begann mit ihrer schrillen, trockenen Stimme: »Epilog!
Was versteht man denn eigentlich unter Gemeinsinn? Ich meine, jedes einzelne Mitglied des Vereins muß bereit sein, für die Gemeinschaft Opfer zu bringen. Das gute Beispiel und der gute Geist muß aber von oben kommen. Ohne Bestätigung eines guten Geistes und ohne das gute Beispiel der geschäftsführenden Personen wird auch von Gemeinsinn und gemeinnütziger Tätigkeit nicht die Rede sein können. Nur durch das Vorbild der Vereinsleitung wird es möglich sein, in einem solchen Verein gegenseitige brüderliche Gesinnung hervorzurufen, durch welche die Mitglieder in Freude und Leid zusammenstehen, zu gegenseitiger Unterstützung stets bereit sind, und durch welche dann nach allen Richtungen hin der Verein segenbringend für unser Dorf Keeken wird.
Das dankbare Gedenken an unsere Altvorderen soll uns zur vorbildlichen Nacheiferung verpflichten.
Möge die Jugend angeregt werden zu ideellem Einsatz, zur Pflege der Kameradschaft, zum opferbereiten Bürgersinn, für das Wohl unseres Volkes und Vaterlandes.
Möge der Schützenverein 1710 e.V. für die kommenden Geschlechter, die Bürger unseres Dorfes, eine Pflegestätte der jahrhundertealten Tradition sein.
Liebes Kecken, Heimat voll Behagen, hast mein ganz Geschick von Jugend an getragen.«*
(*Zitiert aus: »Festschrift des Keekener Schützenvereins e.V. 1710-1985«)
Der Saal brach in donnernde Ovationen aus. Nelly Böskens lächelte geziert.
»Unser Nelly, wat Willi, die findet immer die richtigen Worte.«
»Doch, die kann wat«, brummte Wilhelm Verhoeven. Sein Bruder ließ sich neben ihm auf den Stuhl fallen.
»Wo ist eigentlich Ingeborg?« wollte er wissen.
»Die ist mal ebkes nach Mutter gucken.«
»Ist doch Quatsch; die Kinder sind doch zu Hause.« Heinrich Verhoeven leerte sein Bierglas.
»Ist ’n schönes Fest dies’Jahr.«
»Kann man sagen. Bring uns beiden mal ’n Doppelten, Toni«, rief Wilhelm und stand auf. »Ich komm’ gleich wieder«, nickte er seinem Bruder zu und hinkte auf HERREN zu.
Am Eingang des Schützenhauses drückten sich die Jungschützen vom 1710 e.V. herum. Die älteren unter ihnen fanden es äußerst angenehm, daß der Bimmener Musikverein noch bis Mitternacht dableiben mußte. Der ungewohnte Alkohol hatte sie mutig gemacht, und der eine oder andere verzog sich immer mal wieder mit einer von den jungen Majoretten vom Musikverein nach draußen, wo sie sich dann knutschend an der Hauswand herumdrückten. Den Nieselregen bemerkten sie gar nicht. Ein paar von den Mädchen hatten leicht bläuliche Beine, denn die Faltenröckchen boten wenig Schutz gegen den kalten Wind.
Die jüngeren Schützen, vierzehn- und fünfzehnjährig, begnügten sich damit zu rauchen, Bier zu trinken und abfällige Bemerkungen über »die Weiber« zu machen. Gegen halb elf kotzte der erste von ihnen mitten auf den Fußboden.
Toni kam mit Eimer und Aufnehmer und schimpfte: »So ’ne Sauerei! Wenn du nix vertragen kannst, dann sauf gefälligst nich’. Das wischt du alles selber auf, Freundchen.«
Der Junge nickte demütig. Sein Gesicht war kreidebleich und schweißbedeckt. Ungeschickt wischte er unter dem Hohn seiner Schützenbrüder das Malheur weg.
Dann ließ er den Aufnehmer in den Eimer fallen und ging steifbeinig hinaus. Alles grölte.
Um Mitternacht gab der Bimmener Musikverein noch ein letztes Ständchen und zog dann mit einem feierlichen Marsch hinaus.
»Jetzt wirdet erst richtig gemütlich«, sagte Heinrich Verhoeven aufgeräumt zu seinem Neffen. »Wie isset, Peter, tanzt du heut’ gar nicht mit deiner Frau?«
»Die Dame tanzt nicht mehr mit mir«, lallte der Neffe.
»Na, dann woll’n wir ma’ noch ein’ trinken, Jung.«